Gesellschaft

N. Bolz: „Geistiger Selbstmord“

Der Philosoph Norbert Bolz erklärte 2008 FOCUS online, warum er nach den Werten der Familie jene der Religion verteidigt

Irgendetwas muss Gott sein. Das ist evident beim Kult ums moderne Ich. Das ist auch evident bei der grünen Religion, wo Gottvater durch Mutter Erde ersetzt wird. Die Sozialreligion wiederum, in welcher der Staat quasi die göttliche Rolle einnimmt, ist sicher die wichtigste und immer noch folgenreichste. Die Erfahrung der letzten Jahrzehnte zeigt, dass wir immer tiefer in den Staatsgötzendienst steuern – und jede Menge Theologen sind bereit, aus Gründen der Anpassung an dieser Sozialoffenbarung mitzuwirken. Das Traurige ist eben, dass solche Ersatzreligionen gerade von denen praktiziert und vorangetrieben werden, von denen man eigentlich erwarten sollte, dass sie denken können.

Wenn der Antichrist auftritt, heißt es bei Paulus, dann wird er an seiner Rhetorik von Sicherheit und Friede erkennbar sein. Ich glaube, das ist die Befreiung, wenn es so pathetisch sein darf, die Deutschland fehlt: Wir sind immer noch gebannt von der Rhetorik des Gutmenschentums und müssen einfach erkennen, das ist die Rhetorik des Antichristen. Es ist meine stille Aufklärungshoffnung, dass man wenigstens den intelligenten Leuten hierzulande diesen Zusammenhang noch mal klarmachen kann.

Mehr: www.focus.de.

„Party-Medikament“ kostet Milliarden

US-Behörden empfehlen Risikogruppen die tägliche Einnahme des Medikaments Truvada, um sich vor der Ansteckung mit dem HI-Virus zu schützen. Bis zu 500.000 Menschen soll die Pille verschrieben werden, auf Kosten der Krankenversicherungen. Der Herstellers Gilead Sciences Inc. hat in Tests zeigen können, dass es das HIV-Ansteckungsrisiko bei täglicher Einnahme auf weniger als 10 Prozent reduzieren kann.

Die FAZ schreibt:

Die Zentren für Krankheitskontrolle und Prävention (CDC) raten Ärzten in den offiziellen Richtlinien, das Medikament präventiv Menschen zu verschreiben, die einem hohen Ansteckungsrisiko ausgesetzt sind. Dazu zählen die Behörden Schwule, die Sex ohne Kondom praktizieren, Heterosexuelle mit Partnern mit hohem Ansteckungsrisiko und Drogensüchtige.

Truvada kostet bei täglicher Anwendung rund 13.000 Dollar im Jahr und wird von vielen Krankenversicherungen bezahlt. Das Medikament wurde 2012 zur Prophylaxe zugelassen, wird bislang aber nur weniger als 10.000 Amerikanern so verschrieben. Nach Schätzungen sind fast 500.000 Amerikaner für eine Verschreibung berechtigt.

In Nordamerika ist Truvada schon heute „eines der meistverkauften HIV-Medikamente und bescherte dem Unternehmen einen großen Anteil seines Rekordumsatzes von 8,1 Milliarden US-Dollar im vergangenen Jahr“. Vorausgesetzt, 200.000 Menschen aus den Risikogruppen ließen sich das Medikament zur Prävention verschreiben, kostete das die Versicherungsnehmer allein 2,6 Milliarden Dollar pro Jahr. 

Hier mehr:  www.faz.net.

Die Revolution der Ehe

Erstmals in der jüngeren Zeit gibt es in der Schweiz mehr ledige als verheiratete Menschen. Der Schweizer Bundesrat will nun das Familienrecht an die neue gesellschaftliche Realität anpassen. Vorgeschlagen wird zum Beispiel, der Ehe nur noch einen symbolischen Status zuzusprechen.

Die Ehe soll deshalb zu einer weitgehend symbolischen Verbindung abgewertet werden, die keine weiteren Familienrechte mehr begründet als andere Formen des Zusammenlebens. Relevant für Rechte und Pflichten in Bezug auf Familie, Kinder, Unterhalt oder Adoption wäre stattdessen die «Lebensgemeinschaft». Diese definiert Schwenzer als Partnerschaft, die mehr als drei Jahre gedauert hat, in der ein gemeinsames Kind vorhanden ist oder in die zumindest ein Partner erhebliche Beiträge investiert hat.

Zudem schlägt Schwenzer vor, geltende Ehehindernisse abzubauen: Auch Homosexuelle sollen künftig heiraten dürfen, und das Inzestverbot sowie das Verbot polygamer Ehen sei kritisch zu hinterfragen. «Die Zunahme der Zahl an Mitbürgerinnen und Mitbürgern islamischen Glaubens wird in der Zukunft auch die Diskussion über polygame Gemeinschaften erfordern», heisst es laut dem Bericht im Gutachten.

Mehr: www.tagesanzeiger.ch.

Gegen Genderism an öffentlichen Bildungseinrichtungen

Heike Diefenbach und Michael Klein haben eine Petition gegen die Verzweckung von Bildungseinrichtungen ins Leben gerufen. Das Bildungssystem diene nicht mehr der Vermittlung von Bildung, sondern der Versorgung von Günstlingen und der ideologischen Indoktrination nach dem Vorbild der marxistisch-leninistischen Indoktrination in der DDR. Sie begründen ihre Initiative unter anderem so:

Seit Jahrzehnten wird im Bildungssystem Deutschlands das so genannte Gender Mainstreaming betrieben. Das Gender Mainstreaming zielt auf Gleichstellung und ist eine Methode der Umverteilung, die finanzielle und sonstige Ressourcen abschöpft, um sie dazu einzusetzen, Mädchen und Frauen im Bildungssystem zu bevorzugen und eine nicht mehr überschaubare Anzahl an Instituten zu finanzieren, die nichts anderes tun als zu versuchen, diese Umverteilung finanzieller und sonstiger Ressourcen zu legitimieren. Die so entstandene Gender-Industrie verbraucht jährlich mehrere Milliarden Euro, ohne dass ein gesellschaftlicher Nutzen ersichtlich wäre. Ersichtlich sind dagegen gesellschaftliche Schäden:

Jahrzehnte der Mädchenförderung an deutschen Schulen haben dazu geführt, dass Jungen erhebliche Nachteile in fast allen Bereichen des Bildungssystems haben. (dazu: Berg et al., 2006; Diefenbach, 2010; Diefenbach, 2007; Diefenbach & Klein, 2002; Geißler, 2005; Kottmann, 2006; Lehmann & Lenkeit, 2008; Lehmann & Nikolova, 2005; Lehmann, Peek & Gänsefuß, 1997)

Jahrzehnte der Frauenförderung an deutschen Hochschulen haben dazu geführt, dass die Qualität der deutschen Sozialwissenschaften auf einem historischen Tiefststand ist und dazu, dass mehr und mehr Universitäten zu Ausführungsorganen der von öffentlichen Auftraggebern gewünschten Forschungsergebnisse werden.

Anstatt angesichts dieser bereits eingetretenen Folgen Schulen und Universitäten von Genderismus freizuhalten, wird weiter versucht, nicht nur Bildung zu unterminieren, sondern Bildungsinstitutionen zu Anstalten der frühzeitigen und dauerhaften Ideologisierung der Bevölkerung umzufunktionieren.

Die Universitäten sehen sich schon seit Jahren einem Eingriff in die Freiheit von Forschung und Lehre ausgesetzt, der bislang seinesgleichen in der Geschichte Deutschlands sucht. Zwischenzeitlich wurden 189 Lehrstühle für Gender- und Frauenforschung eingerichtet. Der Wert dieser Lehrstühle ist ebenso fragwürdig wie die wissenschaftliche Erkenntnis, die auf diesen Lehrstühlen produziert wird.

Hier mehr: www.change.org.

Das gefühlte (Pseudo)Evangelium

SentimentalDer Historiker Todd M. Brennemann hat ein Buch über den nordamerikanischen Evangelikalismus geschrieben. In:

beschreibt er die Evangelikalen als regressive Leute mit einem Hang zur Sentimentalität und zum Kitsch. Wie wahr!

Professor Jay Green hat für CT eine gute Rezension verfasst.

Homespun Gospel could very well launch a broad reinterpretation of contemporary evangelicalism. By placing sentimentality at its center, Brenneman challenges some long-standing assumptions about the movement’s contours and priorities. He argues that evangelicals’ “culture of emotionality” and “appeal to tender feelings” subtly shape both their beliefs about God and their manner of engaging the modern world. Sentimentalism elevates personal emotional needs—and their satisfaction through divine help—to evangelicalism’s highest priority.

Brenneman invites us to look closely at a popular yet understudied segment of evangelical discourse and commercial life. He focuses on the contributions of three celebrity pastors: Max Lucado, Rick Warren, and Joel Osteen. During the past 25 years, he says, these profitable “evangelical brands” have produced mountains of books and merchandise that reflect both the emotional and therapeutic appeal of evangelical teaching and the abiding popularity of sentimentalism.

Hier mehr: www.christianitytoday.com.

Nachchristliche Sexualität

Rod Dreher hat kürzlich den bemerkenswerten Artikel „Nachchristliche Sexualität“ publiziert. Die These: Die Auflösung der Familie ist Symptom einer tiefgreifenden geistlichen Krise in Nordamerika. Auch wenn mehrfach auf die Umstände in Amerika Bezug genommen wird, ist die Analyse auch für Europäer aufschlussreich. Nachfolgend wird der Text in einer von Ivo Carobbio besorgten deutschen Übersetzung wiedergeben.

Nachchristliche Sexualität

Rod Dreher

Vor zwanzig Jahren trat der neugewählte Präsident Bill Clinton auf eine politische Landmine: Er wollte sein Wahlversprechen einlösen und homosexuellen Soldaten erlauben, im Dienst keinen Hehl aus ihrer Homosexualität zu machen. Die gleichgeschlechtliche Ehe wurde kaum als politische Angelegenheit wahrgenommen; damals befand sich das Land drei Jahre vor dem Defense of Marriage Act-Gesetz (Gesetz zur Verteidigung der Ehe). Ein Jahr darauf outete sich die Komikerin Ellen DeGeneres zur Hauptsendezeit als Lesbe.

Darauf folgte, was Historiker eines Tages als „Kulturrevolution“ bezeichnen werden. Wir treten gegenwärtig in die Endphase des Kampfes um die Schwulenrechte und den Bedeutungsgehalt der Homosexualität ein. Die Konservativen sind besiegt – jene vor Gericht und auch diejenigen vor dem Forum der öffentlichen Meinung. Man glaubt im Allgemeinen, der einzige Grund gegen die gleichgeschlechtliche Ehe sei nur von Bigotterie oder von religiösen Gründen motiviert, und beides – so heißt es – habe bei der Begründung öffentlicher Normen oder bei der Verabschiedung von Gesetzen keinen Platz.

Das Ausmaß der Niederlage, die die Traditionalisten im Hinblick auf die Moral hinnehmen müssen, wird sich stärker zeigen, je mehr ältere Amerikaner von der Bildfläche verschwinden. Meinungsumfrage um Meinungsumfrage zeigt: Für die Jugend ist Homosexualität etwas völlig Normales; die gleichgeschlechtliche Ehe ist keine große Sache, es sei denn freilich, jemand erhebt Einspruch – in diesem Fall wird ihm der moralische Status eines Anhängers der Rassentrennung in den späten 60er Jahren zugeschrieben.

Es handelt sich dabei allerdings um Größeres, als den Menschen beider Lager bewusst ist, nicht zuletzt aus einem Grund, der selbst glühenden Gegnern der Schwulenrechte entgeht. 1993 bezeichnete die Zeitschrift The Nation die Angelegenheit der Homosexuellen-Rechte als Höhepunkt und Grundpfeiler des Kulturkampfes:

„Alle Gegenströmungen gegenwärtiger Befreiungskämpfe lassen sich unter die Rubrik ‚Schwulenrechte‘ subsumieren. Diese aktuelle Entwicklung in der Schwulenbewegung ähnelt dem, was schon andere Gesellschaftsschichten in der Geschichte dieses Landes erlebt haben. Aber sie ist bedeutender, da die sexuelle Identifizierung sich durch alle Bevölkerungsschichten hinweg in einer Krise befindet, und Homosexuelle – plötzlich die auffälligsten Subjekte und Objekte dieser Krise – gezwungen waren, ein vollständiges Weltbild zu erfinden, um diese Krise zu beschreiben. Niemand behauptet, diese Veränderung ist leicht herbeizuführen. Es ist aber möglich, dass eine kleine und verachtete sexuelle Minderheit Amerika für immer verändern wird.“

Der Autor dieser Zeilen sollte recht behalten, und wenn der Begriff „Weltbild“ (engl.: cosmology) vom Leser als philosophisch reichlich vollmundig empfunden wird, wirkt sein heutiger Gebrauch geradezu prophetisch. Der Kampf um die Rechte einer „kleinen und verachtete sexuellen Minderheit“ wäre aussichtslos geblieben, wäre die alte, christliche Kosmologie intakt geblieben. Unverblümt gesagt: Die Schwulenrechte haben sich durchgesetzt, weil das christliche Weltbild aus dem westlichen Denken verschwunden ist.

Die gleichgeschlechtliche Ehe führt den entscheidenden Schlag gegen die alte Ordnung. Die triumphierende Rhetorik von vor zwei Jahrzehnten ist nicht überreif; die Radikalen schätzten viel besser ein als andere, was auf dem Spiel stand, vor allem bürgerliche Verteidiger der gleichgeschlechtlichen Ehe als konservative Erscheinung. Die Schwulenehe wird Amerika auf eine Art und Weise für immer verändern, die erst jetzt sichtbar wird. Zum Besseren oder zum Schlechteren – auf jeden Fall entchristlicht sie unsere Kultur, und genau daran arbeitet sie auch.

Als die Politwissenschafter Robert D. Putnam und David E. Campbell 2010 ihr vielbeachtetes Buch American Grace veröffentlichten, eine Studie über zeitgenössische Glaubensüberzeugungen und Glaubenspraxis, wiesen sie auf zwei einander entgegengesetzte Trendlinien im Hinblick auf sozialtechnische Maßnahmen hin. Beide Linien nehmen um 1990 ihren Ausgang.

Sie entdeckten, dass viele junge Amerikaner, die damals erwachsen wurden, Homosexualität moralisch nach und nach für legitim hielten. Gleichzeitig ließen sie mehr und mehr vom organisierten Glauben ab. Der evangelikale Boom der 70er und 80er Jahre war vorbei, und wäre die spanische Einwanderungswelle ausgeblieben, hätte die römisch-katholische Kirche in den USA ähnliche Verluste hinnehmen müssen wie die etablierten protestantischen Kirchen.

Wie die Untersuchungsergebnisse zeigten, stellte sich die Einstellung zu moralischen Fragen als starkes Anzeichen religiösen Engagements heraus. Genauer: Je liberaler man der Homosexualität gegenüberstand, desto unwahrscheinlicher war auch die religiöse Bindung. Nicht, dass die jüngeren Amerikaner gleich zu Atheisten wurden; die meisten bezeichneten sich als „spirituell, aber nicht religiös“. Mit Atheisten und Agnostiker bilden diese „Ohnes“ (engl.: nones) – die Bezeichnung, die Putnam und Campell gebrauchten – die demographisch am schnellsten wachsende Glaubensüberzeugung.

Nach einer Studie des Pew-Forschungszentrums ist einer von drei Amerikanern unter dreißig ein „Ohne“. Das ist allerdings nichts, wozu junge Leute in ihrer Jugend neigen: Sich die Kirche auf Armeslänge vom Leib halten, bis sie „zur Ruhe gekommen“ sind. Gregory Smith vom Pew-Forschungszentrum berichtete im National Public Radio, die junge Generation sei konfessionell ungebundener als andere. Putnam – jener Harvard-Gelehrte, der durch seinen Bestseller Bowling Alone, einer bürgerkulturellen Studie, bestens bekanntwurde – sagte, es gebe keinen Grund zu glauben, diese Menschen würden später wieder zur Kirche zurückkehren.

Putnam und Campbell sind vorsichtig genug, Wechselbeziehung nicht mit Ursächlichkeit zu verwechseln; allerdings weisen sie darauf hin: Sowie der Schwulenaktivismus sich in den USA ins Zentrum des politischen Lebens drängte (eben zur Zeit der Titelgeschichte in der Zeitschrift The Nation), entfremdeten sich viele junge Amerikaner wegen der lebhaften Rolle vieler christlicher Leitfiguren in ihrem Kampf gegen die Schwulenrechte von den institutionalisierten Kirchen.

In einer abendlichen Unterhaltung, nicht lange nach der Veröffentlichung ihres Buches American Grace, sagte mir Putnam, die christlichen Kirchen müssten ihre Lehre zur Frage der Sexualität lockern, um auf die Loyalität jüngerer Generationen hoffen zu dürfen. Das klingt zunächst nach einer vernünftigen Schlussfolgerung, doch die Erfahrung liberaler Glaubensgemeinschaften in Amerika widerlegt dieses Rezept. Die protestantischen Großkirchen, die der Homosexualität und der allgemeinen sexuellen Befreiung weit offener gegenüberstehen, konnten die Abwanderung aus ihren Reihen nicht aufhalten.

Wenn die Menschen – so scheint es – meinen, das historische und maßgebliche Christentum irre sich in Bezug auf die Sexualität, finden sie normalerweise keine Kirche, die ihren liberalen Ansichten beipflichtet. Fazit: Sie treten aus der Kirche aus.

Das führt uns zu einer eminent wichtigen Frage: Ist die Sexualität etwa das Herzstück der christlich-kulturellen Ordnung? Bedeutet die Preisgabe der christlichen Lehre zu Sex und Sexualität tatsächlich die Beseitigung jenes Einflussfaktors, der dem Christentum seine Kraft als gesellschaftlicher Größe raubt oder geraubt hat?

Der angesehene Soziologe Philip Rieff hätte dies vielleicht nicht auf diese Weise gesagt, aber wahrscheinlich zugestimmt. Sein bahnbrechendes, 1966 erschienenes Buch The Triumph Of the Therapeutic – Uses of Faith after Freud, untersucht, was Rieff die »Dekonversion« des Westens vom Christentum nennt. Dieser Prozess, der seit der Aufklärung im Gange ist, ist allgemein bekannt. Rieff zeigte aber, dass er weit stärker fortgeschritten war, als die meisten Menschen – am allerwenigsten Christen – dies erkannt hatten.

Rieff, der 2006 verstarb, war kein Christ, doch er wusste: Der Schlüssel zum Verständnis einer Kultur ist ihre Religion. Das Wesen jeder Kultur könne an deren Tabus und Verboten erkannt werden. Jede Kultur legt ihren Gliedern zur Erlangung gesellschaftlicher Zwecke eine Reihe moralischer Verpflichtungen auf und hilft ihnen, diese Forderungen auch zu erfüllen. Eine Kultur braucht einen Kultus im Sinne einer sakralen Ordnung, ein Weltbild, das die moralischen Forderungen in einem metaphysischen Rahmen verwurzelt.

Das Verhalten des Menschen ist nicht willkürlich (etwa weil es „gut“ für ihn ist), sondern orientiert seine moralische Vision am Wesen der Wirklichkeit selbst. Das ist die Grundlage der Theorie vom Naturrecht, das im Zentrum gegenwärtiger säkularer Argumente gegen die gleichgeschlechtliche Ehe steht (und die noch niemand überzeugt haben).

Rieff, der in den 60er Jahren schrieb, erkannte die sexuelle Revolution – wenn er diese Bezeichnung auch nicht gebraucht hat – als führendes Kennzeichen des Untergangs des Christentums als bestimmender kultureller Kraft. Im klassischen Christentum, so schrieb er, lag „die Ablehnung des sexuellen Individualismus nahe jener symbolischen Mitte, die nicht länger in Mode ist“. Er meinte damit: Der Verzicht auf sexuelle Autonomie und auf die Wollust heidnischer Kulturen liege im Zentrum der christlichen Kultur, einer Kultur, die sich von ihrem erotischen Instinkt – und das ist entscheidend! – nicht einfach losgesagt hat, sondern diesen Instinkt umgeleitet hat. Das Wiederaufleben des Heidentums im Hinblick auf Sinnlichkeit und sexuelle Befreiung setzt ein starkes Zeichen für den Niedergang des Christentums.

Moderne Amerikaner können kaum begreifen, welch zentrale Rolle die Sexualität im Frühchristentum spielte. Sarah Ruden, die Übersetzerin klassischer Texte (Studium in Yale), erklärt in ihrem Buch Paul Among The People, in welcher Kultur das Christentum ursprünglich aufleuchtete. Sie behauptet, es zeuge von krasser Unwissenheit, zu meinen, der Apostel Paulus sei ein mürrischer Proto-Puritaner gewesen, der leichtlebigen heidnischen Hippies den Spaß verderben wollte.

Tatsächlich wurden seine Lehren zu sexueller Reinheit und Ehe innerhalb der pornographischen, von sexueller Ausbeutung gekennzeichneten griechisch-römischen Kultur jener Zeit als Befreiung willkommen geheißen. Besonders Sklaven und Frauen wurden sexuell ausgebeutet – ihr Wert für die heidnische Männerwelt bestand hauptsächlich in der Fähigkeit der Kindererzeugung und der Bereitstellung sexuellen Vergnügens. Das Christentum des Paulus bewirkte eine kulturelle Revolution; es zügelte und kanalisierte den männlichen Eros und erhöhte den Status der Frau und des menschlichen Leibes; die Ehe – und mit ihr die eheliche Sexualität – wurden um den Faktor Liebe bereichert.

Die christliche Ehe – so Ruden – „unterschied sich von allem Bisherigen wie das Gebot, die andere Wange hinzuhalten“. Es kommt nicht darauf an, dass das Christentum einzig oder vorrangig die Sexualität neu definierte und bewertete, sondern darauf, dass gemäß christlicher Anthropologie der Sex einen neuen und anderen Sinn erhielt, einen, der nach einer radikalen Verhaltensänderung und nach neuen kulturellen Normen verlangte. Wie der Mensch seine Sexualität auslebt, kann gemäß Christentum nicht vom Wesen des Menschen getrennt werden.

Es wäre absurd, wollte man behaupten, die christliche Zivilisation habe je zu einem goldenen Zeitalter gesellschaftlicher Harmonie oder sexueller Glückseligkeit geführt. Es wäre leicht zu zeigen, dass es in der Geschichte des Christentums Zeiten gegeben hat, in denen kirchliche Oberhäupter von sexueller Reinheit geradezu besessen waren. Doch wie Rieff erkannte, begründete das Christentum eine Möglichkeit, die sexuellen Instinkte zu zügeln, sie in der Gesellschaft zu verankern und ihr positive Wege zu zeigen.

Was unsere Zeit von der Vergangenheit unterscheidet – so Rieff – sei, dass wir nicht länger an das christlich-kulturelle Wertesystem glauben, doch wir haben es unmöglich gemacht, uns an einem anderen zu orientieren, das leistet, was Kultur leisten muss: individuelle Leidenschaften zähmen und sie schöpferisch für gesellschaftliche Zwecke zu leiten.

Wir haben die Rolle der Kultur eher umgekehrt: Statt zu zeigen, wessen wir uns enthalten müssen, um zivilisiert zu sein, erzählt uns die Gesellschaft von heute, Sinn und Zweck von Kultur bestehe darin, die alten Barrieren zu durchbrechen und uns zu befreien.

Es ist nicht einfach, zu zeigen, wie es dazu kommen konnte; der Aufstieg des Humanismus, das Heraufziehen der Aufklärung und der Moderne spielen jedenfalls ihre Rolle. Der Philosoph Charles Taylor schreibt in seiner meisterhaften Religions- und Kulturgeschichte Ein säkulares Zeitalter: „Die gesamte ethische Einstellung des modernen Menschen setzt den Kosmos (und natürlich auch den Untergang des sinntragenden Kosmos) voraus …“. Modern zu sein heißt also, an das individuelle Verlangen als Ort der Autorität und Selbstdefinition zu glauben.

Nach und nach habe der Westen den Sinn für die Tatsache verloren, dass das Christentum viel mit gesellschaftlicher Ordnung zu tun hat, schreibt Taylor. Die Preisgabe christlicher Ideale im Hinblick auf die Sexualität wurde zunehmend auch eine Sache der Gesundheit. Die Überzeugung, das Ausleben der Sexualität sei gesund und gut (je mehr, desto besser), sexuelles Verlangen sei ein unlösbarer Teil der persönlichen Identität – diese Überzeugungen gipfelten in den 60er Jahren in der sexuellen Revolution. Deren treibende Kraft meinte, Freiheit und Unverfälschtheit nicht in sexueller Enthaltsamkeit zu finden (die christliche Sichtweise), sondern in der Sexualität und ihrer Auslebung. So fordert der moderne Amerikaner seine Freiheit ein.

Für Rieff befinden wir uns in einer Sonderform einer „revolutionärer Epoche“, da diese Revolution von ihrem Wesen her nicht institutionalisiert werden kann. Sie leugnet ja die Möglichkeit gemeinschaftlichen Erkennens verbindlicher, überindividueller Wahrheiten und kann daher keine neue stabile gesellschaftliche Ordnung schaffen. Rieff sagt: „Die Frage nach dem ‚Zweck‘ heißt ‚mehr‘“.

Unsere nachchristliche Kultur ist demnach eine „Antikultur“. Von der Logik der Moderne und dem Mythos individueller Freiheit sind wir gezwungen, die letzten Spuren der alten Ordnung niederzureißen, in der Überzeugung, echtes Glück und Harmonie sind erst dann unser, wenn alle Beschränkungen null und nichtig gemacht worden sind.

Die Homo-Ehe markiert den endgültigen Triumph der sexuellen Revolution und damit die Entthronung des Christentums, da sie den Kerngedanken des christlichen Menschenverständnisses leugnet. Nach klassisch-christlichem Denken ist die von Gott sanktionierte Einheit von Mann und Frau ein Symbol der Beziehung zwischen Christus und seiner Gemeinde – und letztlich auch zwischen Gott und seiner Schöpfung. Darum verneint die Homo-Ehe das christliche Weltbild, dem wir unsere moderne Auffassung der Menschenrechte und andere grundlegende Güter der Moderne verdanken. Ob wir diese Dinge in nachchristlicher Ära erhalten können, bleibt abzuwarten.

Ebenfalls abzuwarten bleibt, ob ein Christentum ohne christliche Reinheit aufrechtzuerhalten ist. Der Soziologe Christian Smith jedenfalls hat anhand seines Begriffs „moralistisch-therapeutischer Deismus“ (jenes Pseudo- und Wohlfühlchristentums, das den normgebenden Glauben im heutigen Amerika verdrängt hat) gezeigt, dass diese Aufgabe äußerst schwierig bleibt.

Das konservative Christentum hat den Kampf gegen die Homo-Ehe verloren, und zwar, wie wir gesehen haben, Jahrzehnte, bevor irgendjemand überhaupt auf die Idee kam, die gleichgeschlechtliche Ehe könne je ein Thema werden. Befürworter der Homo-Ehe konnten deshalb so schnell Erfolge verbuchen, weil sie der Öffentlichkeit zeigen konnten: Wofür sie kämpften, stimmte genau mit dem überein, was das Amerika nach 1960 im Hinblick auf den Sinn von Sex und Ehe ohnehin schon glaubte. Die Frage, vor die sich das Christentum im Westen heute gestellt sieht, lautet: Wird es das Christentum in diesem neuen Zeitalter aufgeben müssen oder nicht?

Zu viele Christen meinen, die gleichgeschlechtliche Ehe sei bloß eine Frage der Sexualethik. Sie übersehen, dass die Homo-Ehe und der damit einhergehende Zusammenbruch der Ehe unter minderbemittelten und der Arbeiterklasse angehörigen Heterosexuellen dort große Bedeutung hat, wo die Moderne den autonomen Individualismus heiligt und die zeitgenössische Kultur hochhält, und das vielfach von Menschen, die sich selbst als Christen bezeichnen. Sie begreifen nicht, dass das Christentum – recht verstanden – kein moralisch-therapeutisches Anhängsel des bürgerlichen Individualismus darstellt (übrigens eine häufige Antwort amerikanischer Christen, eine Antwort, die Rieff 2005 als „schlicht erbärmlich“ bezeichnete), sondern der kulturellen Ordnung (oder Unordnung), die heute herrscht, diametral entgegensteht. Sie meinen, diesen Kulturkampf moralisch ausfechten zu müssen, statt sich auf ihr Weltbild zu gründen. Sie haben nicht nur die Kultur verloren: Solange sie das Wesen dieser Auseinandersetzung nicht verstehen und ihre Strategie entsprechend ändern, um aus kosmologischer Sicht zu kämpfen, werden sie wenige Generationen von heute an vielleicht auch ihre Religion verloren haben.

„Der Tod einer Kultur setzt dort ein, wo die normgebenden Institutionen nicht länger imstande sind, ihre Ideale so zu vermitteln, dass sie innerlich binden“, schreibt Rieff. Nach dieser Auffassung ist das Christentum Amerikas, wenn nicht sogar seine Spiritualität, in tödlicher Gefahr. Die Zukunft ist nicht festgeschrieben: Taylor pflichtet Rieffs geschichtlicher Analyse weitgehend zu, räumt einer Erneuerung aber wesentlich stärkeres Hoffnungspotential ein. Trotzdem: Wird der Glaube nicht zurückgewonnen, wird die historische Obduktion einmal schlussfolgern, die Homo-Ehe sei nicht Ursache, sondern Symptom gewesen, ein Anzeichen, das das Endstadium des Patienten offenbare.

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Rod Dreher ist Chefredakteur der Zeitschrift „The American Conservative“ (www.theamericanconservative.com), wo der Artikel ursprünglich erschienen ist. „Nachchristliche Sexualität“ wird hier mit freundlicher Genehmigung wiedergegeben. Übersetzt wurde er von Ivo Carobbio. Den englischen Text sowie eine Autorenbeschreibung finden Sie unter: www.theamericanconservative.com.

Den Artikel gibt es auch als PDF-Datei: Sex_after_Marriage.pdf.

Eröffnung des EKD-Studienzentrums für Genderfragen

Die EKD macht es den in ihr verbliebenen bekenntnisorientierten Mitgliedern wirklich schwer. Nach dem Desaster mit der Orientierungshilfe und der „Eine Tür ist genug“-Kampagne wurde gestern ein Studienzentrum für Genderfragen in Kirche und Theologie in Hannover eröffnet. Da sage jemand, die EKD setze keine Prioritäten!

Einschlägige Agenturen wie idea oder Medienmagazin pro haben hinlänglich darüber berichtet. Wer sich die Mühe macht, die „Tischreden“ zur Eröffnung zu lesen, wird schnell erkennen, in welche Richtung es geht. Der Ertrag steht fest. Mit Skeptikern will die Kirche nachsichtig umgehen. Bei der wissenschaftlichen Arbeit und deren Vermittlung müssen – so Nikolaus Schneider – die Ängste und Vorurteile gutwilliger Verächter berücksichtigt werden. Prof. Dr. Claudia Janssen, Studienleiterin des Zentrums, läßt uns in ihrem Statement wissen:

Ich wünsche mir für das Studienzentrum der EKD für Genderfragen in Kirche und Theologie, dass es ein Ort des Dialogs wird. Der Begriff Gender öffnet sich für den ganzen Reichtum an Forschungsdiskursen, an die wir anknüpfen können: Feministische Theologien, Rassismus-Diskurse, insbesondere den christlich-jüdischen Dialog, queer-Theologien, ökumenische, unterreligiöse und postkoloniale Diskurse… Ich persönlich nähere mich den Fragen des Geschlechterverhältnisses aus feministischer Perspektive an und will aus den Dialogen lernen: nicht nur zwischen Männern und Frauen, sondern zwischen allen Geschlechtern, zwischen Menschen, die hetero-, bisexuell, lesbisch, schwul, transgender, intersexuell, queer sind.

Gender ist ein offener Begriff, der mit Leben gefüllt werden muss. Eine geschlechterbewusste Theologie, die wir im Studienzentrum weiterentwickeln wollen, steht für eine Kultur der Wertschätzung in unserer Kirche: eine Kultur, die Unterschiede hoch achtet und gleichzeitig auch darauf schaut, was uns verbindet. Der Erfolg der Arbeit der letzten Jahre zeigt, dass die Idee des Studienzentrums von vielen unterschiedlichen Menschen, Haupt- und Ehrenamtlichen getragen wird, die in der Entwicklung einer geschlechterbewussten Theologie eine innovative Kraft für unser Kirche sehen.

Die Bibel ist in diesem Prozess der Veränderung eine Kraftquelle – spirituell und politisch. Eine geschlechterbewusste Hermeneutik für die Auslegung der Bibel zu entwickeln, bedeutet festgefügte Geschlechterklischees zu überwinden und die Aktualität ihrer befreienden Aussagen neu zu entdecken. Geschlechterbewusste Bibelauslegung ist immer kontextuell. Sie speist sich aus vielfältigen Dialogen: zwischen allen Geschlechtern, den Generationen, Dialogen zwischen Wissenschaft und Praxis, zwischen Gesellschaft, Politik und Theologie und Dialogen zwischen den Religionen; sie lebt vom Austausch weltweit.

Dialog und Nachsicht gibt es allerdings nur für Leute, die sich für die neue Genderkultur als anschlussfähig erweisen. Das wird jeder merken, der an einer Gebotsethik festhält. Wolfgang Thielmann erklärt beispielsweise in der Ausgabe 13/2014 von Christ & Welt, die Kirche habe auf dem gegenderten Kurs zu bleiben, solange es in ihr noch „Stinos“ (gemeint sind heterosexuelle Spießer) gibt, die zwischen Mann, Frau oder __ unterscheiden:

Und natürlich protestieren die Evangelikalen. Die konnten schon immer gut mit der CDU. Sie sind die protestantischen Stinos. „Ich bin zutiefst geschockt und sehe alle christlichen Werte verraten!“, zitiert der Nachrichtendienst idea einen ihrer Vertreter mit Namen Alexander Schick. Das Video spüle alle ethische Autorität der Protestanten durch den Abfluss. Ein anderer Evangelikaler, er heißt Ron Kubsch und ist Dozent für Apologetik, empfiehlt in idea: „Man kann ja austreten.“ Eben nicht, Herr Kubsch, eben nicht, solange Sie die einzige Tür in der Kirche blockieren!

Na dann. Gute Nacht!

Stadtstress

Stadtbewohner haben ein höheres Risiko, psychisch zu erkranken, als Menschen, die auf dem Land leben. Allein die Gefahr der Schizophrenie ist – so einige Experten – doppelt so hoch. Die Kombination von sozialer Dichte und Vereinsamung wirkt sich besonders gravierend aus.

Miriam Hollstein schreibt für die WELT:

In einer 2011 im Magazin „Nature“ veröffentlichten Studie wies der Mannheimer Psychiater Florian Lederbogen gemeinsam mit Kollegen nach, dass Stadtbewohner stärker auf bestimmte Stressreize reagieren als Menschen auf dem Land. Dies ließ sich nachweisen, weil jene Hirnregionen, die Stress verarbeiten, bei ihnen schneller auf die Reize reagierten. Und noch eine Erkenntnis gewann das Wissenschaftlerteam: Das Phänomen ließ sich nicht nur bei Menschen beobachten, die aktuell in der Stadt lebten, sondern auch bei solchen, die in der Stadt aufgewachsen waren.

Das allein, sagt der Berliner Stressforscher Adli, sei aber noch nicht schlimm: „Es kann eine ganz normale Anpassung an die Umwelt sein.“ Problematisch werde es, wenn weitere Risikofaktoren hinzukämen. „Der Faktor Stadt alleine ist noch kein Problem. Es ist immer ein Summenspiel.“ Was also macht den besonderen Stress der Stadt aus? „Die Kombination von sozialer Dichte und sozialer Vereinsamung“, sagt Adli. „Vereinzelung ist ein echter Killer.“

Studien zeigen, dass soziale Isolation das Sterberisiko stärker erhöht als Fettleibigkeit und Alkoholkonsum. 2013 kamen Forscher des University College London zum Schluss, dass Menschen, die isoliert lebten, binnen sieben Jahren ein 26 Prozent höheres Sterberisiko hatten. Auch die Gefahr, an Demenz und Arthritis zu erkranken, erhöht sich. Unter Vereinsamung litten meist ältere und unverheiratete Menschen. Auch Armut ist ein Risikofaktor. In Verbindung mit der stärkeren Stressreaktion kann sie Stadtbewohner schneller krank machen.

Mehr: www.welt.de.

Die Psychofalle

Immer öfter werden gesellschaftliche Probleme wie Arbeitsbedingungen oder das Schulsystem für die „Psychomacken“ Einzelner verantwortlich gemacht. Zu Unrecht, meint der Medizinjournalist Jörg Blech in seinem neuen Buch Die Psychofalle. Bei SPIEGEL ONINLE ist ein Auszug erschienen. Die Untersuchung der Epidemiologen um Dirk Richter vom Universitätsklinikum Münster zur Verbreitung seelischer Störungen bei Erwachsenen sowie bei Kindern und Jugendlichen wird darin wie folg interpretiert:

41Rq2j6ct6LDiese Übersichtsanalyse offenbart, dass in den Industriestaaten des Westens die psychischen Störungen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zugenommen haben. Der vermutete Anstieg der psychiatrischen Krankheiten hat nicht stattgefunden. Die Münsteraner Epidemiologen stellen klar: „Die unterstellte Zunahme psychischer Störungen aufgrund des sozialen Wandels kann nicht bestätigt werden.“

Bei steigenden Raten psychischer Erkrankungen in einer Gesellschaft wäre auch zu erwarten, dass die Lebensqualität sinkt. Auch diesen Aspekt haben die Münsteraner untersucht: In den Studien fragten Forscher Einwohner bestimmter Länder von 1946 an, inwiefern sie sich als glücklich und zufrieden bezeichnen würden. In Westeuropa und Nordamerika hatte die Lebenszufriedenheit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieg leicht zugenommen und hat sich, ungeachtet der gesellschaftlichen Veränderungen, seither kaum verändert. Alles in allem verweist das auf eine Zufriedenheit auf einem stabilen, hohen Niveau.

In westlichen Staaten geht schließlich auch die Zahl der Suizide stark zurück. In Deutschland ist sie seit Anfang der achtziger Jahre ungefähr um die Hälfte gesunken. Jeden Tag nehmen sich rund 20 Menschen weniger das Leben als vor dreißig Jahren. Die Abnahme der Suizidrate, die Zahlen zur Lebenszufriedenheit sowie die Studienergebnisse zur Verbreitung der psychischen Störungen bieten „sogar die Möglichkeit, über eine Abnahme eben dieser zu spekulieren“, sagen die Münsteraner Forscher. Die Epidemie der psychischen Störungen ist ein Mythos.

Mehr: www.spiegel.de.

Heideggers finsteres Vermächtnis

41JCuufyXGL._Derzeit ist in den Feuilletons ein Satz häufig zu hören oder zu lesen: „Die Katze ist aus dem Sack!“ Worum geht es? Der deutsche Philosoph Martin Heidegger führte in der Zeit von 1931 bis zum Anfang der siebziger Jahre mit Unterbrechungen geheime Denktagebücher, die sogenannten Schwarzen Hefte. Nur wenige Familienangehörige und Geliebte bekamen Auszüge aus den vierunddreißig Wachstuchheften zu sehen (einige Zitate waren allerdings in Frankreich bekanntgeworden). Sonst konnte nur vermutet werden, dass da noch etwas passiert. Gegenüber Vertrauten hatte Heidegger gelegentlich bemerkt, er habe die Katze noch gar nicht aus dem Sack gelassen. Er verfügte testamentarisch, dass die Hefte erst am Schluss der Werkausgabe publiziert werden. Nun sind die ersten drei Bände der Manuskripte beim Verlag Vittorio Klostermann erschienen (der erste Band: M. Heidegger: Gesamtausgabe. 4 Abteilungen / Überlegungen II-VI: (Schwarze Hefte 1931-1938).

Der Inhalt ist so bedrückend, dass der Fachwelt der Atem stockt. Selbst Heideggerschüler, die bisher ihren Lehrer gegen die längst bekannte „Nazinähe“ (vgl. dazu Victor Farías: Heidegger und der Nationalsozialismus u. von Holger Zaborowski: „Eine Frage von Irre und Schuld?“: Martin Heidegger und der Nationalsozialismus) verteidigt haben, gehen inzwischen die Argumente aus. Thomas Assheuer kommentiert für DIE ZEIT:

Die Hefte sind ein philosophischer Wahnsinn und in einigen Abschnitten ein Gedankenverbrechen. Es gibt nun keine Beruhigung mehr. Die treuherzige Geschichte, Heidegger habe sich nur kurz, nur für einen Wimpernschlag der Weltgeschichte, vom Faschismus verführen lassen, ist falsch. Selbst dort, wo er zu Hitler auf Distanz ging, tat er es nicht aus moralischer Empörung; er tat es, weil er sich vom Regime mehr erhofft hatte. „Aus der vollen Einsicht in die frühere Täuschung über das Wesen des Nationalsozialismus ergibt sich erst die Notwendigkeit seiner Bejahung, und zwar aus denkerischen Gründen.“

Die Aufzeichnungen durchzieht eine rüde Kritik des Juden- und Christentums (zu Heideggers Abkehr vom Katholizismus siehe hier), aber auch das Eingeständnis, er habe in seinem Hauptwerk Sein und Zeit den einzelnen Menschen überschätzt. Heidegger hofft nun auf den totalitären Staat, erkennt jedoch bald, dass auch der Nationalsozialismus dem Sein nicht zum Durchbruch verhilft. Nur ein Gott kann uns noch retten, sollte er später sagen. Er meinte damit nicht den jüdisch-christlichen Gott, sondern den Gott eines neuen Heidentums, einen Gott, mit dem sich der Mensch solidarisiert.

Die Tatsache, dass genau der Philosoph, der neben Nietzsche den Eintritt in das spätmoderne oder postmoderne Denken maßgeblich mitbestimmt hat, die Menschen, insbesondere die Juden, zutiefst verachtet und den deutschen Staat vergöttert hat, wird Anlass dafür geben, das Erbe der hermeneutischen und existentialistischen Philosophie noch einmal genauer zu betrachten. Die Elite der Dekonstruktion, unter ihnen der aus Litauen stammende Emmanuel Levinas oder die Franzosen Michel Foucault und Jacques Derrida, steht in der denkerischen Schuld Heideggers.

Wer einen Eindruck von der Erschütterung haben möchte, die derzeit die Philosophenwelt erfasst, sollte sich die SWR2-Sendung „Heideggers ‚Schwarze Hefte‘“ anhören. Zur Gesprächsrunde gehören Prof. Dr. Micha Brumlik (Philosoph, Senior Advisor des Zentrums für Jüdische Studien, Berlin/Brandenburg), Prof. Dr. Rainer Marten (Philosoph, Universität Freiburg) und Prof. Dr. Peter Trawny (Philosoph, Herausgeber von Martin Heideggers „Schwarzen Heften“, Bergische Universität Wuppertal) sowie der Moderator Eggert Blum.

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