Theologiegeschichte

Die „Micha-Initiative“ und ihre Defizite

Mit diesen Worten stellt sich die „Micha-Initiative“ vor:

Die Micha-Initiative ist eine weltweite Kampagne, die Christinnen und Christen zum Engagement gegen extreme Armut und für globale Gerechtigkeit begeistern möchte. Sie engagiert sich dafür, dass die Nachhaltigkeitsziele/Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen umgesetzt werden. Bis 2030 soll weltweit Armut beseitigt werden.

Holger hat sich die Kernargumente der sogenannten „Micha-Initiative“ angeschaut und kommt zu einem ernüchternden Ergebnis:

„Micha“, so scheint mir doch, ist leider auf der völlig falschen Fährte. Man hat dort nicht erkannt: Armut ist ein Produktions-, kein Verteilungsproblem. Was schafft Wohlstand? Und was hat bisher schon dazu geführt, dass der Planet nicht nur eine Milliarde, sondern sage und schreibe sechs Milliarden gut ernährt? Wie ist es denn zu diesem Wunder gekommen? Es ist recht einfach: Arbeit, Fleiß, Unternehmertum, Investitionen und gute Ideen und nochmals gute Ideen. Unsere menschliche Kreativität, unser Reichtum an Ideen, braucht einen Raum der Freiheit, in dem die Ideen sich untereinander befruchten und sich aneinander reiben können; und am Ende stehen neue Produkte, die auf Märkten getestet werden, so dass die weniger guten ausgeschieden werden. Das ist eine Skizze des demokratischen (rechtsstaatlichen) Kapitalismus. In den freiheitlich geprägten Ländern des Nordens konnte er sich durchsetzen. (Mehr über die „Große Transformation“ hier.)

Anreize zum fleißigen und intelligenten Arbeiten – das, was uns wirklich voran bringt, wird bei „Micha“ so gut wie gar nicht thematisiert. Daneben steht natürlich das großzügiges und freiwillige Abgeben von erworbenem Reichtum, Taten der Barmherzigkeit, Nothilfe, gemeindliche Diakonie, Spenden an Hilfswerke, doch leider wird über das englische „charity“ in „Micha“-Kreisen fast schon die Nase gerümpft. Das sei ja wohl zu wenig; man müsse doch an die Strukturen und die globalen Zusammenhänge ran. Diese Wohltätigkeit, die schon eine lange Geschichte in der westlichen Welt hat, wird nur zu oft schlecht gemacht. Dabei hat sie mitunter Großartiges bewirkt – ohne dass man sich die „Weltgemeinschaft“ auf die Fahnen geschrieben hat. Neben „charity“ darf die gegenseitige Hilfe in Selbsthilfe- und Arbeitervereinen nicht unerwähnt bleiben. Vor der Etablierung des modernen Wohlfahrtsstaates gab es in einigen Ländern eine Wohlfahrtsgesellschaft, in der Hilfe zivilgesellschaftlich z.B. in den „friendly societies“ organisiert wurde (s. Stephen Davies‘ Vortrag dazu hier).

Als dritte Säule der christlichen Antwort auf das Armutsproblem sind Institutionen oder Ordnungen Gottes zu nennen. An erster Stelle stehen hier die Familie und die Kirche, denn sie reichen die Werte und Tugenden weiter, die Menschen zur Kultivierung, Weiterentwicklung und Bewahrung der Schöpfung und zum Abgeben von Reichtum anhalten.

Mehr: lahayne.lt.

Ist das Christentum die wahre Religion?

Wenn ich im Unterricht versuche, den Neuansatz Friedrich Schleiermachers zu erklären, provoziert das hin und wieder verwundertes Fragen. „Wie ist das genau gemeint?“ „Muss ich das verstehen?“

Kurz: Für den Theologen Schleiermacher steht das fromme Selbstbewusstsein des Menschen, jenes „Bewusstsein schlechthinniger Abhängigkeit“ (F. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1830/31), Bd. 1, 1984, S. 3–6) im Zentrum der Theologie. Die Glaubenslehre beruht für ihn auf zweierlei, „einmal auf dem Bestreben die Erregung des christlich frommen Gemüthes in Lehre darzustellen, und dann auf dem Bestreben, was als Lehre ausgedrückt ist, in genauen Zusammenhang zu bringen“ (Der christliche Glaube (1821/22), Bd. 1, 1984, S. 16). An die Stelle der Heiligen Schrift tritt das Erleben des Gläubigen. „Der Mensch war das Subjekt seiner Theologie, Gott das Prädikat“ (H. Zahrnt, Die Sache mit Gott, 1996, S. 39). Jan Rohls schreibt dazu (J. Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit, Bd. 1, 1997, S. 396):

Gott ist uns also im Gefühl auf eine ursprüngliche Weise gegeben, so daß das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl nicht erst sekundär aus einem Wissen von Gott entsteht. Das Bewußtsein unserer selbst als in Beziehung zu Gott stehend ist daher ein unmittelbares Selbstbewußtsein, nämlich das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit, das das sich selbst gleiche Wesen der Frömmigkeit ausmacht. Und Gott bedeutet zunächst nur dasjenige, was in diesem Gefühl als das mitbestimmende Woher unseres Soseins mitgesetzt ist.

Während also zuvor Frömmigkeit verstanden wurde als eine subjektive Reaktion auf objektive Lehrinhalte, dreht Schleiermacher die Ordnung um und setzt beim Gemüt an. Die Glaubensdogmen sind nicht Ursprung, sondern Frucht der Glaubenserfahrung. Sätze des Glaubens sind Ausdruck des frommen Gefühls. Schleiermachers Glaubenslehre möchte deshalb nicht mehr objektive Glaubensinhalte beschreiben, sondern den Glauben der Menschen begrifflich ordnen und darstellen.

Da sich das religiöse Bewusstsein in jedem Menschen findet, also auch bei Gläubigen anderer Religionen, kennt Schleiermacher den qualitativen Unterschied zwischen dem christlichen Glauben und anderen „Glaubensformen“ nicht mehr. Religionen werden von ihm auf ihr Entwicklungsstadium befragt, da sie die Entfaltung des religiösen Bewusstseins auf verschieden fortschrittliche Weise spiegeln. Weil alle drei monotheistischen Religionen (Judentum, Christentum und Islam) derselben höchsten Entwicklungsstufe der Frömmigkeit angehören, können sie sich nur durch ihre Art der Frömmigkeit quantitativ unterscheiden. Im Christentum kommt nach Schleiermacher freilich die Frömmigkeit zu ihrer „reifsten Erfüllung“.

Der Religionskritiker Ludwig Feuerbach hatte bei seiner Kritik des Christentums damit ein leichtes Spiel. Er drehte den Spieß einfach um und sagte: „Ist z.B. das Gefühl das wesentliche Organ der Religion, so drückt das Wesen Gottes nichts Anderes aus, als das Wesen des Gefühls … Das göttliche Wesen, welches das Gefühl vernimmt, ist in der Tat nichts anderes als das von sich selbst entzückte und bezauberte Wesen des Gefühls – das wonnetrunkene, in sich selige Gefühl“ (L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, in: Sämtliche Werke, Bd. 7, 1883, S. 8). Das Selbstbewusstsein projiziert die eigenen Wünsche, Ängste und Sehnsüchte auf den Himmel. Der Mensch ist nicht das Geschöpf Gottes, sondern Gott ist das Geschöpf des Menschen. So dürfen wir Feuerbachs Projektionsthese zusammenfassen.

Schleiermacher wollte eigentlich den Glauben vor der Kritik der reinen Vernunft (Kant) schützen, als er ihn in den Raum der Gemütserfahrung verlagerte. Gelungen ist ihm das nicht.

Nun ist das wirklich nicht so einfach zu verstehen. Vielleicht hilft ja das nachfolgende Video eines Pastors, den Ansatz nachzuvollziehen. Er erörtert in wenigen Minuten das Verhältnis von Glauben und Wahrheit  und bewegt sich dabei im Fahrwasser Schleiermachers. Feuerbach hätte mit großer Freude und geschliffenen Klingen auf die Projektionen der beiden von ihm angeführten Personen, ein Christ und eine Muslimin, reagiert.

VD: JS

Stephen Nichols: Das Wirken von J. Gresham Machen

J.G.Machen.jpgJ.G. Machen (1881–1937) gehört zu den einflussreichen Theologen des frühen 20. Jahrhunderts. Er studierte an der Johns Hopkins University, der Princeton University und am Princeton Seminary und anschließend in Marburg und Göttingen, wo er herausragende Lehrer der liberalen Theologie wie Wilhelm Herrmann hörte. Von 1915 bis 1929 war er Professor für Neues Testament am Princeton Theological Seminary. Wegen des dort einziehenden Liberalismus gründete er das Westminster Theological Seminary in Philadelphia und wurde zu einer prägenden Gestalt des reformierten Christentums in Nordamerika.

In Werken wie The Origin of Paul’s Religion (1920), Christianity and Liberalism (1923, dt. kürzlich erschienen bei 3L-Verlag  und The Virgin Birth of Christ (1930) verteidigte er die traditionelle christliche Lehre gegen den Modernismus. Wegen seiner konservativen Theologie geriet er in der Presbyterianische Kirche immer mehr unter Druck, so dass unter seiner Mitwirkung 1936 die Orthodoxe presbyterianische Kirche entstand.

Machen prägte viele evangelikale Leiterpersönlichkeiten und spielt eine maßgebliche Rolle bei der Wiederentdeckung der Schriftautorität Anfang des letzten Jahrhunderts. Zu seinen bekanntesten Studenten zählt Francis Schaeffer.

Dr. Stephen Nichols von Ligonier Ministries hat auf der Evangelium21-Konferenz 2016 in Hamburg Leben und Werk von J.G. Machen vorgestellt und auf erstaunliche Parallelen zu den theologischen Herausforderungen unserer Zeit hingewiesen.

Hier der Vortrag, übersetzt von Kai Soltau:

Was ist mit Torsten Hebel passiert?

Ich den letzten Monaten bin ich von ganz unterschiedlichen Leute gefragt worden: „Was ist eigentlich mit Torsten Hebel los? Was verkündigt der jetzt? Warum hat SCM das Buch Freischwimmer veröffentlicht und bewirbt es so offensiv?“. Nun, so ganz überraschend tauchte die „Neue Perspektive“ freilich nicht auf.

Holger hat dankenswerterweise die Erfahrungstheologie durchleuchtet:

In einer der letzten Predigten von „JesusHouse“ im Jahr 2007 berichtete Torsten Hebel von Überlegungen im Leitungsteam der evangelistischen Jugendveranstaltung. Es war um die Frage gegangen, ob man überhaupt noch über Sünde in den Ansprachen reden solle. Man sei dann nach Diskussionen zu dem Schluss gekommen: Ja, sie müsse immer noch thematisiert werden.

Die Sünde hat‘s heute nicht leicht. Sie steht selbst bei Evangelisten auf der Kippe, ja unter Rechtfertigungszwang. Damals rang man sich nach interner Debatte, nach Abwägen von Für und Wider, dazu durch, Sünde anzusprechen. Schon vor gut acht Jahren durfte man skeptisch sein, was aus so einer zögerlichen Haltung herauswachsen würde.

Im Herbst des vergangenen Jahres erschien Hebels Buch Freischwimmer, begleitet von so manchen Presseterminen und einer professionellen PR-Kampagne (Lesungen wie auf der Frankfurter Buchmesse). In diesem Zusammenhang erschien vor einigen Wochen ein Interview auf jesus.de, das Redakteur Rolf Krüger mit Hebel geführt hatte: „Torsten Hebel: ‘Woher kommt unser Hochmut zu meinen, wir hätten die Wahrheit?’“

Hebel hat sich aufgrund der Erfahrungen in seiner Arbeit für seine Version des Leitmotivs entschieden. Argumentativ ist ihm da kaum noch beizukommen. Offensichtlich räumt er dieser Erfahrung eine hohe Autorität ein. In Kombination mit dem Glauben, die Bibel sei „so oder so“ zu lesen, würde jede Diskussion schnell auf diese oder ähnliche Weise enden: Ich lese die Bibel eben auf diese Art, weil ich diese und jene Erfahrung gemacht habe und du wohl nicht.

Weil der Mensch tief gefallen ist, ist jedoch auch unsere Erfahrung gefallen, und das heißt vor allem auch: Wir deuten unsere Erfahrungen mitunter höchst fehlerhaft. Erfahrung kann sehr trügerisch sein. Die reformatorische Theologie hat diese Erkenntnis eigentlich sehr gut bewahrt. Sie macht nur Sinn auf dem Hintergund des Festhaltens an der radikalen Verderbtheit des Menschen. Und hier schließt sich natürlich der Kreis: Wird der Mensch in immer rosigerem Licht gesehen, wie bei Hebel, so verlässt man sich immer mehr auf die Autorität der eigenen Erfahrung.

Mehr: lahayne.lt.

Schleiermachers Entfremdung vom AT

Klaus Beckmanns Studie Die fremde Wurzel (Göttingen, 2002) ermöglicht tiefe Einblicke in bedeutsame Fehlentwicklungen der neuzeitlichen Theologie. Besonders erhellend finde ich, wie Beckmann Schleiermachers Entfremdung vom Alten Testament nachzeichnet.

Über das Jesusbild Schleiermachers schreibt er (S. 39):

Der „Stifter“ des Christentums steht für Schleiermacher von Anfang an nicht in Beziehung zu der jüdisch-religiösen Gedankenwelt, aus der seine Bezeichnung entnommen ist. Die die Christologie der „Reden“ prägende Mittlervorstellung wird nicht biblisch, sondern aus der vorausgesetzten religiösen Konzeption hergeleitet. „Christus“ ist darum der polemische Überwinder des Judentums und ihm nur äußerlich verbunden.

So konnte Schleichermacher an der Christusfrömmigkeit der Herrenhuter Anleihen machen, zugleich aber ihrer vom AT geprägten Sünden- und Erlösungslehre den Rücken kehren (S. 40–41):

Indem Schleiermacher seinen Ansatzpunkt in die religiöse Anschauung des Menschen legte, schob er die in der Theologie der Brüdergemeine im Gottesbegriff festgehaltene Verbindung von Judentum und Christentum zur Seite. In seinem Ringen mit den eigenen religiösen Empfindungen, die ihm mit der überkommenen protestantisch-theologischen Lehre nicht vereinbar schienen, findet sich eine Spitze gegen die dogmatische Wertschätzung des AT, durch die das Christentum an die engen Grenzen des Judentums gebunden werde. Erst der Einfluß der klassischen Philosophie habe die universale Geltung der christlichen Religion begründet. Für den jungen Theologen Schleiermacher setzte Christi Erlöserfunktion seine absolute Neuheit gegenüber der religiösen Umwelt voraus. Christi Auftreten konnte daher nicht in einer solchen offenbarungsgeschichtlichen Kontinuität wurzeln, wie sie der innere Zusammenhang des kirchlichen Kanons beider Testamente dokumentiert. Die Christologie als Rede vom „Mittler“ wurde vom religiösen Erleben und dessen subjektiver Gewißheit her reformuliert, wobei der Gottesbegriff für Schleiermacher zunächst zum Adiaphoron wurde. Die herrnhutische Christusfrömmigkeit Schleiermachers schied sich von der ihr ursprünglich zugrundeliegenden Theologie. Schleiermacher war es möglich, sich in der Absage an die überkommene Satis-faktions- und Versöhnungslehre und den hier involvierten biblisch-reformato-rischen Konnex von Gotteslehre und Christologie die enthusiastische Beziehung zu Christus zu bewahren. Die herrnhutische Prägung mit ihrer charakteristischen Verbindung orthodoxer Sünden- und Gnadenlehre mit einer psychologisierenden Frömmigkeitspraxis zeigte sich „anschlußfähig“ für religiöse Momente des romantischen Denkens, die Schleiermacher in seine Christologie hineintrug. Hinsichtlich der Sünden- und Erlösungslehre und im Schriftverständnis kehrte Schleiermacher Zinzendorf radikal den Rücken. Gegenüber der theologischen Praxis der Brüdergemeine muß dennoch kritisch bedacht werden, inwiefern hier – gegen den nominellen Bekenntnisstand – ein „Christus“-Erlebnis offeriert wurde, das das Gotteshandeln auf das Individuum und seinen „Heiligungskampf“ engführte und überindividuelle theologische Aussagen zurückstellte.

Margot Käßmann im Gespräch

Andreas Main hat für den DLF mit Margot Käßmann über den Theologen Heinz Zahrnt gesprochen. Das Interview ist in vielerlei Hinsicht interessant und ernüchternd, da man etwas über Zahrnt und viel über Margot Käßmann hinzulernt.

Hier die Antwort auf die Frage, was von Zahrnt über die Auferstehung Jesu zu erfahren ist:

Es ist egal, ob das Grab leer oder voll war. Sondern das Entscheidende ist, dass die ersten Jünger – ich würde auch sagen Jüngerinnen, Zahrnt hätte das nicht gesagt, diese Erfahrung gemacht haben, dass der Tod nicht das letzte Wort hatte in der Geschichte des Jesus von Nazareth. Ob er im Grab lag oder nicht, ist dafür überhaupt nicht entscheidend. Entscheidend ist die Erfahrung, dass der Tod nicht die Macht hat.

Ob da eine historische Leiche ist, ist nicht relevant. Genauso wenig ist es relevant, ob da ein Kind in einer Krippe lag, wie Lukas das erzählt und es wahrscheinlich gar nicht wahr ist. Ich meine, das ist doch auch eine Frage, die er da sehr klar stellt: Hängt denn der Glaube daran, ob eine Leiche im Grab war? Daran hängt doch nichts – an dieser Frage. Der Glaube hängt an etwas ganz anderem.

Das gesamte Gespräch gibt es hier:

Eduard Lohse (1924–2015)

Der Theologe Eduard Lohse ist am 23. Juni 2015 im Alter von 91 Jahren verstorben. Der ehemalige Bischof der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover und Alt-Abt des Klosters Loccum war zwischen 1979 und 1985 Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

In meiner Jugend habe ich mich gelegentlich sehr über Bischof Lohse geärgert, z.B. über seinen Anlauf, eine Schneise zur Theologie Bultmanns zu schlagen. Einen besseren Zugang hatte ich zu seinem jüngeren Bruder, der gute Lehrbücher herausgegeben hat. Hier ein längeres, wunderschönes Zitat aus der Dogmengeschichte von Bernhard Lohse (Epochen der Dogmengeschichte, 8. Aufl., 1994, S. 132–134):

Freilich, so sehr die Ergebnisse des pelagianischen Streites in der Sündenund Gnadenlehre einen großen Fortschritt darstellen, so ist doch manches ungeklärt geblieben oder auch noch nicht zureichend erläutert worden. Das gilt einmal für die Auffassung von der Sünde. Zwar hat Augustins Anschauung von der Sünde als Begierlichkeit keinen Eingang in die Konzilsentscheidungen gefunden. Aber das hindert doch nicht, daß faktisch die Gleichsetzung von Sünde und Begierlichkeit sich weithin durchsetzte. Das gilt fast für das gesamte Mittelalter. Gewiß hat sich für keinen der großen mittelalterlichen Theologen die Sünde in der Begierlichkeit erschöpft. Aber die Leibfeindlichkeit sowie die asketische Grundrichtung des gesamten Mittelalters sind doch ohne jenen augustinischen Gedanken nicht verständlich. Hier bedurfte es einer Vertiefung, ja eines Neuansatzes im Verständnis der Sünde.

Dazu ist es im Mittelalter nicht mehr gekommen. Erst Luther hat hier die Schwächen der augustinischen Auffassung von der Sünde überwunden und die Lehre von der Sünde wirklich weitergeführt. Zwar kann Luther gelegentlich wie Augustin sagen, daß der Zeugungsakt durch das Lust-Begehren sündig geworden ist und daß sich die Sünde durch die Zeugung fortpflanzt. Aber Luther hat doch in der Regel unter der Begierlichkeit sehr viel mehr verstanden als nur die geschlechtliche Begierde, nämlich den Ichwillen des Menschen, der sich gegen Gott durchsetzen will, der Gott nicht Gott sein lassen will. Luther ist sich an diesem wichtigen Punkt des Unterschieds von Augustin durchaus bewußt gewesen. Er hat klar gesehen, daß bei Augustin wie auch bei Hieronymus und manchen anderen die Sünde in starkem Maße mit der Leiblichkeit des Menschen gleichgesetzt wird; darum habe man Sünde und Gnade im Sinne der antiken Unterscheidung von Leib und Geist verstanden. Paulus dagegen verstehe den ganzen Menschen als »Fleisch«, und wiederum könne auch der ganze Mensch »geistlich« sein, sofern er nämlich durch den Glauben an Gott erneuert wird. Luther hat einmal über den Unterschied in der Fassung dieser wichtigen Begriffe gesagt: »Ohne rechten Verstand dieser Wörter (nämlich Geist und Fleisch) wirst du weder diese Epistel Sanct Pauli (den Römerbrief) noch kein Buch der Heiligen Schrift nimmer verstehen. Drum hüt dich vor allen Lehrern, die anders dieser Wort brauchen, sie seien auch, wer sie wollen, ob gleich Hieronymus, Augustin, Ambrosius, Origenes und ihresgleichen und noch höher wären.« Erst durch Luther ist der asketische Akzent, den die Bekämpfung der Sünde bis dahin hatte, überwunden zugunsten eines totaleren Sündenverständnisses.

Daß das möglich war, liegt aber nicht nur an der Neufassung des Begriffes der Begierlichkeit, sondern an der neuen Theologie Luthers überhaupt. Luther hat die Sünde als Personsünde verstanden, die der Mensch in seinem ganzen Wesen vollzieht und die letztlich gleichbedeutend mit dem Unglauben und dem mangelnden Vertrauen gegen Gott ist. »Sünde heißt in der Schrift nicht allein’das äußerliche Werk am Leibe, sondern alles das Geschäfte, das sich mit reget und weget zu dem äußerlichen Werk, nämlich des Herzens Grund mit allen Kräften.«76 Luther wußte, daß der sündige Trieb so tief im Menschen wurzelt, daß er sich sogar die äußere Demut zunutze machen kann: »Rechte Demut weiß nimmer, daß sie demütig ist; denn wo sie es wüßte, so würde sie hochmütig von dem Ansehen derselben schönen Tugend.«77 Von da aus kann für Luther nicht mehr das Ende des gesamten Heilungsprozesses des Menschen als Höhepunkt der Rechtfertigung gelten — dabei wäre der Ichwille in der sublimen Form der asketischen Selbstbeobachtung noch nicht überwunden —, sondern der Anfang gewinnt die entscheidende Bedeutung.

Dieses neue reformatorische Sündenverständnis, das in gleicher Weise von einer bloßen Historisierung der Sünde wie von ihrer Einengung auf das Gebiet des Sexuellen entfernt ist, hat in der Augsburgischen Konfession von 1530 treffenden Ausdruck gefunden: Wir lehren, »daß nach dem Fall Adams alle Menschen, die auf natürliche Weise geborenwerden, mit der Sünde geboren werden, das heißt ohne Furcht Gottes, ohne Glauben gegen Gott und mit der Begierlichkeit, und daß diese Urkrankheit oder dieser Urfehler wahrhaft Sünde sei, indem sie heute Verdammnis und ewigen Tod über diejenigen bringt, die nicht durch das Wasser und den Heiligen Geist wiedergeboren werden«.

Gründlich Lesen (2): Die neue „Sex-Perspektive“

Brauchen die Frommen einen Neustart bei der christlichen Sexualethik? In letzter Zeit begegnet mir dieses Begehren vermehrt. Wir sollten überdenken, was die Bibel zur Familie sagt! Wir brauchen eine christianisierte Queer-Theorie! Ein bekannter Buchautor, inzwischen Professor an einem evangelikalen Seminar, beschäftigt sich mit einer christlichen Betrachtungsweise auf die Polyamorie: Wie können sich mehrere Christen zur selben Zeit lieben, mit dem Herzen; und sinnlich? Bis zum Ermüden werde ich freilich mit der Forderung konfrontiert, die Frage der gleichgeschlechtlichen Partnerschaft angesichts aktueller gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Fortentwicklungen integrativ zu lösen.

Heute flatterte ein neuer Text in meinen elektronischen Briefkasten. Hauke Burgarth, ein ausgesprochen sympathischer ehemaliger Kollege, stellt dort die Behauptung auf: Wir brauchen ein „Reset“ für unser Denken beim Thema Sex. Bezug nimmt er dabei auf einen Blogbeitrag von Mark Sandlin. Sandlin ist ein Vertreter des sogenannten „postmodernen Christseins“ und hat sich mit seinem Engagement bei den „Sojourners“ einen Namen gemacht. Bekannt geworden ist er mit einem großen „Geistesblitz“: Das Christentum liege bezüglich der Sünde völlig falsch. Ungefähr so: Zu glauben, durch den Sündenfall habe sich etwas Grundlegendes geändert, ist ein Irrtum mit fatalen Folgen. Dieser Irrglaube lässt uns völlig verkennen, wie großartig wir Menschen eigentlich sind. Ich meine, bei Pelagius oder bei Schleiermacher so etwas schon mal gelesen zu haben. Aber vielleicht irre ich mich da ja auch. Irren ist menschlich.

Nun mag sich der ein oder andere fragen, wie Sandlin mit so einer Sichtweise Pastor einer reformierten Kirche sein kann. Die Antwort ist einfach. Für jemanden, der postmodern denkt, ist alles möglich. Dwigth Friesen sagt das im Emergenten Manifest folgendermaßen: „Hier ist meine Arbeitsmaxime für eine orthoparadoxe Theologie: Je mehr unversöhnliche verschiedenartige theologische Positionen auftauchen, desto eher erfahren wir Wahrheit.“

Kommen wir zu dem Artikel von Hauke Burgarth, der nun bei Livenet.ch erschienen ist.

Es geht, wie kann es anders sein, zunächst um Augustinus. Der Kirchenvater habe mit seinen abstrusen Vorstellungen zur Sexualität die abendländische Ethik maßgeblich beeinflusst. Sogar heute seien seine prüden Ansichten in der Kirche noch zu finden.

Nun kann man ja tatsächlich an Einigem Anstoß nehmen, was Augustinus im Blick auf die Geschlechtlichkeit zu sagen hat. Ich selbst weise im Unterricht regelmäßig darauf hin, dass er sich vom Neoplatonismus, dem er einige Zeit anhing, nie ganz zu lösen vermochte. Aber zu meinen, dass die durchschnittlichen Leute in der Kirche heute zu platonisch lieben, ist mehr als eine Übertreibung. Nicht Plato, sondern Epikur, ist angesagt.

Dann wird, mit Verweis auf Debra Hirsch, Ehefrau des missionalen Alan Hirsch, der Neustart eingefordert:

Durch ihre Ansichten zu Themen wie Geschlechtlichkeit, Selbstbefriedigung, vorehelichem Geschlechtsverkehr oder Homosexualität hat die Kirche vielfach dazu beigetragen, die ausgesprochen gute Schöpfung der Sexualität in etwas Sündiges, Schuldbeladenes und Peinliches zu verwandeln. Damit hat sie einen bedeutenden Teil des Menschseins in etwas verwandelt, das Menschen verletzt und verhindert, dass sie ihre eigentliche Identität finden und leben können. Natürliche Wünsche werden hier zu sündigem Tun erklärt. Dieses Denken prägt natürlich nicht jede Kirche und Gemeinde, doch es ist weit verbreitet.

Wie sieht die Therapie dieser „Misere“ aus? Ungefähr so: Wir brauchen nicht nur ein holistisches Menschenbild oder eine gesamtheitliche Sicht der Mission, wir brauchen auch eine ganzheitliche und positive Sichtweise auf die Sexualität.

So einfach lassen sich also die Probleme lösen, mit „Ganzheitlichkeit“. Ich frage mich, weshalb das nicht schon früher jemandem aufgefallen ist. Wir hätten uns so viele Enttäuschungen beim Sex im Bett und beim Plausch auf der Bank ersparen können! Nun, besser spät als gar nicht. Ab jetzt wird es anders. Wenn wir die Potentiale in der Ganzheitlichkeit begreifen, eröffnen sich neue Welten und die Seelsorger, die sich mit den sinnlichen Nöten ihrer Ratsuchenden beschäftigen, können sich endlich behaglicheren Aufgaben zuwenden. Das wird einen Spaß geben!

Dann geht es natürlich noch um die Bibel, aus der wir lesen, was da nicht steht:

Durch tendenziell prüde Missverständnisse der Kirche zum Thema Sex haben wir viele „Erkenntnisse“ gewonnen, die wir auch dann in der Bibel entdecken, wenn sie gar nicht dastehen. Jesus redete zum Beispiel ausgesprochen wenig über Sex. Über Sex vor der Ehe sprach er nie. Er nahm nur kurz Stellung zu ausserehelichen Beziehungen Verheirateter. Allerdings lesen wir in den wenigen biblischen Aussagen einen ganzen Berg an angelernten Überzeugungen hinein. Und viele dieser unterschwellig vorhandenen Überzeugungen haben ihren Ursprung in Augustinus‘ ungesunder Lehre vom „sündigen Fleisch“.

Alles klar?

Kurz noch zum Neuanfang. Wie kann der Sex wieder „sehr gut“ werden?

Wie kann hier Veränderung geschehen? Wie ist es möglich, den Sex zu befreien sowie befreienden Sex zu erleben? Und zwar als Christen?

  • Zunächst einmal ist es nötig, dass wir unsere Sexualethik auf der theologischen Grundannahme aufbauen, dass Sex «sehr gut» ist. Statt physische, geistige und geistliche Bereiche zu trennen, muss Sexualität im Wissen verwurzelt sein, dass all diese Aspekte zusammengehören – und gemeinsam wichtig sind für menschliche Beziehungen.
  • Weiter müssen wir über das nachdenken, was Jesus tatsächlich über Beziehungen gesagt hat. Dies soll die Basis unserer (neuen) Sexualethik werden. Weitere Grundlagen sind gegenseitiger Respekt und der Wunsch, auf die körperlichen, emotionalen und geistigen Bedürfnisse anderer einzugehen.
  • Wir blicken auf viele gute Ansätze, aber auch auf jahrhundertelange schlechte Theologie und eine verletzende Lehre zur Sexualität zurück. Gerade in den letzten Jahren ist allerdings einiges in Bewegung gekommen, was Heilung verspricht. Noch liegt ein weiter Weg vor uns, doch er lohnt sich, damit das Geschenk der Sexualität wieder „sehr gut“ sein kann.

So einfach ist das!

Jetzt habe ich schon mehr geschrieben, als ich ursprünglich wollte. Diesmal möchte ich den Artikel eigentlich  selbst gar nicht kommentieren, sondern die Leser des Blogs darum bitten, diese Aufgabe zu übernehmen. Also: Was fällt Euch an dem Artikel „Wir brauchen ein ‚Reset‘ für unser Denken beim Thema Sex“ alles so auf?

Ich bin gespannt! Hier nochmal der Link: www.livenet.ch.

Irrungen der „linken“ Evangelikalen

Chelsen Vicari hat für das Magazin Charisma einen aufrüttelnden Artikel über die Irrungen der „linken“, „postmodernen“ oder „progressiven“ Evangelikalen geschrieben. Darin heißt es:

Popular liberal evangelical writers and preachers tell young evangelicals that if they accept abortion and same-sex marriage, then the media, academia and Hollywood will finally accept Christians. Out of fear of being falsely dubbed „intolerant“ or „uncompassionate,“ many young Christians are buying into theological falsehoods. Instead of standing up as a voice for the innocent unborn or marriage as God intended, millennials are forgoing the authority of Scripture and embracing a couch potato, cafeteria-style Christianity all in the name of tolerance.

This contemporary mindset is what Dietrich Bonhoeffer, the German theologian whose Christian convictions put him at odds with the Nazis and cost him his life, called „cheap grace.“ In his book The Cost of Discipleship Bonhoeffer wrote: „Cheap grace is the preaching of forgiveness without requiring repentance, baptism without church discipline, Communion without confession, absolution without personal confession. Cheap grace is grace without discipleship, grace without the cross, grace without Jesus Christ, living and incarnate.“

Right now cheap grace theology is proliferating around evangelical Bible colleges, seminaries and Christian ministries.

Mehr: www.charismamag.com.

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