November 2013

Dem Bruder zuhören

Dietrich Bonhoeffer (Gemeinsames Leben, 2012, S. 83):

Wer aber seinem Bruder nicht mehr zuhören kann, der wird auch bald Gott nicht mehr zuhören, sondern er wird auch vor Gott immer nur reden. Hier fĂ€ngt der Tod des geistlichen Lebens an, und zuletzt bleibt nur noch das geistliche GeschwĂ€tz, die pfĂ€ffische Herablassung, die in frommen Worten erstickt. Wer nicht lange und geduldig zuhören kann, der wird am Andern immer vorbeireden und es selbst schließlich gar nicht mehr merken. Wer meint, seine Zeit sei zu kostbar, als daß er sie mit Zuhören verbringen dĂŒrfte, der wird nie wirklich Zeit haben fĂŒr Gott und den Bruder, sondern nur immer fĂŒr sich selbst, fĂŒr seine eigenen Worte und PlĂ€ne.

Wo Franziskus falsch liegt

Das Apostolische Schreiben EVANGELIA GAUDIUM von Franziskus enthÀlt allerlei gute Impulse. Mir gefÀllt zum Beispiel der erste Absatz:

Die Freude des Evangeliums erfĂŒllt das Herz und das gesamte Leben derer, die Jesus begegnen. Diejenigen, die sich von ihm retten lassen, sind befreit von der SĂŒnde, von der Traurigkeit, von der inneren Leere und von der Vereinsamung. Mit Jesus Christus kommt immer – und immer wieder – die Freude.

Mich wĂŒrde es nicht ĂŒberraschen, wenn so mancher hohe AmtstrĂ€ger innerhalb der EKD gar keine Ahnung davon hat, worĂŒber Franziskus hier ĂŒberhaupt spricht.

Doch ist das Schreiben nicht rundweg stark. Obwohl ich einige theologische Vorbehalte hege, möchte ich hier darauf verweisen, dass dort, wo Franziskus in die Welt der Wirtschaft abtaucht, das Dokument sehr pauschal und letztlich schwach wird. Wir finden eine Mischung aus populÀrer Kapitalismus- und Globalisierungskritik sowie eine gute Portion Befreiungstheologie. Rev. Robert A. Sirico, selbst Katholik, macht in einem Videostatement auf SchwÀchen dieser Analyse aufmerksam.

Ebenso trifft Christoph SchÀfer einen wunden Punkt:

Auch jenseits aller Deutungsfragen ist zu prĂŒfen, ob sich die Thesen des Papstes empirisch ĂŒberhaupt halten lassen. Seine Behauptung etwa, „wĂ€hrend die Einkommen einiger weniger exponentiell steigen, sind die der Mehrheit immer weiter entfernt vom Wohlstand dieser glĂŒcklichen Minderheit“, greift zu kurz. Anders als es der Papst nahe legt, ist die Zahl der sehr armen Menschen einer aktuellen Studie der Weltbank zufolge in den vergangenen drei Jahrzehnten um mehr als 700 Millionen Menschen auf 1,2 Milliarden gesunken. „Wir sind Zeugen eines historischen Moments, in dem sich die Menschen selbst aus der Armut befreien“, sagte Weltbank-PrĂ€sident Jim Yong Kim, als er die Studie im Oktober prĂ€sentierte. Das Millenniumsziel, die Zahl der Menschen, die von weniger als 1,25 Dollar am Tag leben mĂŒssen, bis 2015 zu halbieren, sei fĂŒnf Jahre frĂŒher erreicht worden. „Unsere Erwartungen wurden ĂŒbertroffen“, so Kim. Verantwortlich dafĂŒr sind allen Zahlen zufolge vor allem China und Indien – LĂ€nder, die seit den siebziger Jahren zunehmend marktwirtschaftliche Prinzipien einfĂŒhrten und so die Zahl der Hungertoten drastisch reduzierten.

Auch die anklingende Globalisierungskritik und die Aussage des Papstes, wonach „die soziale Ungleichheit immer klarer zu Tage tritt“, ist zu hinterfragen. Der Volkswirt Norbert Berthold von der UniversitĂ€t MĂŒnchen etwa kommt in seiner Studie „Wie ungleich ist die Welt?“ zum Ergebnis, „dass im neuen Jahrtausend die Ungleichheit deutlich abgenommen hat“. Die zunehmende Globalisierung sei „mit einem RĂŒckgang der Ungleichheit“ einhergegangen. Auch die pĂ€pstliche These, wonach „die Ungleichverteilung der Einkommen die Wurzel der sozialen Übel ist“, ĂŒberzeugt Wirtschaftswissenschaftler nicht. Sie sehen in leistungsgerechter Entlohnung den wesentlichen Antrieb, der Wohlstand schafft und unsere Sozialsysteme erst bezahlbar macht.

Hier der FAZ-Artikel: www.faz.net.

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Nachtrag vom 02.12.2013: Rainer Hank bemÀngelt ebenfalls die Kritik der Markwirtschaft von Papst Franziskus: www.faz.net.

Geschlechtergerechtes Kino

Wer in Schweden ins Kino geht, dem zeigt ein Stempel im Programmheft jetzt an, ob ein Film geschlechtergerecht ist. Mal sehen, ob irgendwann aus dem Sigel ein Zulassungskriterium wird. Wir kennen ja inzwischen das Verfahren: Idee, Angebot, Regel, Pflicht.

Schweden ist ein kleines Land – mit großen Ideen. Ikea! Karlsson vom Dach! Muss man mehr sagen? Nun haben die Schweden wieder eine Idee. Sie betrifft das Kino. Die Schweden finden das Kino ungerecht, und zwar ungerecht zu Frauen. Wahrscheinlich denken Sie nun: Jetzt reicht’s! Frauenwahlrecht, das war ja noch in Ordnung. Frauentag, bitte sehr.

Vielleicht denken Sie auch an Kate Winslet. Ihnen fÀllt Emma Watson ein. Und Nicole Kidman und Natalie Portman. Das Kino, finden Sie vielleicht, ist der einzige Raum der Welt mit Frauen satt. Schöne Frauen, Frauen mit Kraft, einige, wie Emma Watson, sogar mit Zauberkraft. Die Schweden sehen das anders. Auch Filme mit ganz vielen, starken, schönen Frauen können frauenfeindlich sein.

NĂ€mlich dann, wenn diese Frauen immerzu nur ĂŒber MĂ€nner tratschen. Frauen sind zwar oft Hauptdarstellerinnen, die Helden aber sind MĂ€nner. Ist doch logisch, dass sich alles um den Helden dreht, auch die GesprĂ€che der Hauptdarstellerinnen.

Hier der WELT-Artikel von Kathrin Spoerr: www.welt.de.

VD: BS

Das neue Menschenbild der Politik

Im gestern unterzeichneten Koalitionsvertrag ist zu lesen, „dass in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften Werte gelebt werden, die grundlegend fĂŒr unsere Gesellschaft sind.“ ErgĂ€nzt wird diese ĂŒberraschende Einsicht durch einen aufschlussreichen Aktionskatalog.

Die Arbeit der „Bundesstiftung Magnus Hirschfeld“ werden wir weiter fördern.

Wir verurteilen Homophobie und Transphobie und werden entschieden dagegen vorgehen.

Wir werden den „Nationalen Aktionsplan der Bundesrepublik Deutschland zur BekĂ€mpfung von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und darauf bezogene Intoleranz“ um das Thema Homo- und Transphobie erweitern.

Wer HomosexualitĂ€t oder TranssexualitĂ€t nicht „prima“ findet, dem wird in Zukunft wohl â€žschwub di wub“ eine behandlungsbedĂŒrftige Phobie (also eine Angststörung) unterstellt. Schlimmer noch. Er wird als intoleranter Rassist bezeichnet werden dĂŒrfen, obwohl er doch jeglichen Rassismus resolut ablehnt und sich zeitlebens fĂŒr mehr Toleranz einsetzt. Na, wenn das keine Diskriminierung ist?

Hinter solchen Deklarationen steckt der Anspruch auf Umerziehung. Das christliche Menschenbild, das einst als große ErzĂ€hlung der europĂ€ischen Kultur Freiheit, Bildung und Fortschritt ermöglichte, verschwindet. Andere Werte sind jetzt „grundlegend fĂŒr unserer Gesellschaft“ und werden uns von oben herab verordnet. BegrĂŒndet werden die neuen Werte mit vorgegebener Wissenschaftlichkeit (die uns durch staatlich geförderte Institute garantiert wird). Was aber passiert in der Wissenschaft, wenn die Wahrheitsliebe fehlt?  Jean François Lyotard bringt die Haltung des „neuen Menschen“ (nach dem Tode Gottes) auf den Punkt: „Man kauft keine Gelehrten, Techniker und Apparate, um die Wahrheit zu erfahren, sondern um die Macht zu erweitern“ (Das postmoderne Wissen, 1994, S. 135).

Bettina Röhl fragt in einem Beitrag fĂŒr die WIRTSCHAFTSWOCHE nach dem Aufschrei: „Wo bleibt das ‚Wehret den AnfĂ€ngen‘ darĂŒber, dass hier mit offiziöser Rassismusforschung ein neuer Rassismus etabliert wird?“

Die normative Kraft einer verwerflich vor sich hinwerkelnden Gender-Anti-Rassismus- und Antifaschismus-Industrie ist gewaltig oder, besser ausgedrĂŒckt, im Prinzip gewalttĂ€tig. Es macht keinen Sinn den Teufel mit dem Beelzebub austreiben zu wollen. Das ist eine alte Weisheit. Gegen Faschismus, Rassismus und Neo-Nazitum nicht nur eingestellt zu sein, sondern sich aktiv dagegen zu engagieren, das ist eine SelbstverstĂ€ndlichkeit und das ist eine gute Sache. Wie alles lĂ€sst sich allerdings auch diese gute Sache herrlich missbrauchen.

Dem Missbrauch ist in der Rassismusforschung TĂŒr und Tor geöffnet, weil es sich vor allem um eine Zunft handelt, die ununterbrochen neu definiert, was ĂŒberhaupt Rassismus sei. Und dabei spielt bis heute eine entscheidende Rolle, dass Stalin einen Begriff des Völkermordes in das internationale Recht implementiert hat, der seine eigenen Völkermorde nicht als solche auftauchen lĂ€sst. Das Ganze ist eine ziemlich verlogene und verdorbene Angelegenheit, weshalb die noch amtierende Familienministerin Kristina Schröder zu Recht Bauchschmerzen damit hatte, die vielen Posten auch noch staatlich zu finanzieren. Mit dem freien Geist des Grundgesetzes, der eine freie Wissenschaft fordert, hat die sogenannte Rassismusforschung wenig bis nichts zu tun.

Hier: www.wiwo.de.

Die Notwendigkeit des Schriftbeweises

Dietrich Bonhoeffer (Gemeinsames Leben, 2012, S. 47):

Wir mĂŒssen die heilige Schrift erst wieder kennen lernen wie die Reformatoren, wie unsere VĂ€ter sie kannten. Wir dĂŒrfen die Zeit und die Arbeit dafĂŒr nicht scheuen. Wir mĂŒssen die Schrift kennen lernen zu allererst um unseres Heiles willen. Aber es gibt daneben genug gewichtige GrĂŒnde, um uns diese Forderung ganz dringlich zu machen. Wie sollen wir z. B. in unserm persönlichen und kirchlichen Handeln jemals Gewißheit und Zuversicht erlangen, wenn wir nicht auf festem Schriftgrund stehen? Nicht unser Herz entscheidet ĂŒber unsern Weg, sondern Gottes Wort. Wer aber weiß heute noch etwa rechtes ĂŒber die Notwendigkeit des Schriftbeweises? Wie oft hören wir zur BegrĂŒndung wichtigster Entscheidungen ungezĂ€hlte Argumente „aus dem Leben“, aus der „Erfahrung“, aber der Schriftbeweis bleibt aus, und gerade er wĂŒrde vielleicht in genau entgegengesetzte Richtung weisen? Daß freilich der den Schriftbeweis in Mißkredit zu bringen versuchen wird, der selbst die Schrift nicht ernstlich liest, kennt und durchforscht, ist nicht zu verwundern. Wer aber nicht lernen will, selbstĂ€ndig mit der Schrift umzugehen, der ist kein evangelischer Christ.

Das offene Mikrophon und die UN-Dolmetscherin

Wer den Film „Die Dolmetscherin“ gesehen hat, wird möglicherweise durch einen Beitrag der Botschaft Israels in Berlin an einige Szenen erinnert (obwohl die Handlung im Film nicht den dort geschilderten VorgĂ€ngen entspricht). Was ist passiert?

Am vergangenen Donnerstag sprach eine Dolmetscherin der Vereinten Nationen versehentlich und bei offenem Mikrophon. Sie sprach spontane Worte der Wahrheit, als von der UN-Generalversammlung neun israelkritische BeschlĂŒsse und kein einziger zum Rest der Welt verabschiedet wurden. Überzeugt, nur zu ihren Kollegen zu sprechen, Ă€ußerte sich die Dolmetscherin wie folgt:

„Ich meine, wenn man 
 also, wenn man insgesamt zehn Resolutionen zu Israel und PalĂ€stina hat, irgendwas muss da doch sein, c’est un peu trop, non? [es ist ein bisschen zu viel, oder?] Ich meine 
 da passiert anderes, richtig ĂŒbles Zeug, aber keiner sagt irgendwas dazu.“

Ihr völlig nachvollziehbarer Kommentar wurde ĂŒber Kopfhörer direkt an sĂ€mtliche anwesende UN-Delegierte und die weltweite Zuhörerschaft im Internet ĂŒbertragen. Eine sympathische Frau!

Lesen und hören Sie selbst: www.botschaftisrael.de.

Gender Mainstreaming: Emanzipation oder Tyrannei?

Robert Spaemann schreibt im Vorwort zum Buch Die globale sexuelle Revolution:

Das Wort „Gender Mainstreaming“ ist den meisten BĂŒrgern unseres Landes nicht bekannt. Es ist ihnen daher auch nicht bekannt, dass sie seit Jahren von Seiten der Regierungen, der europĂ€ischen AutoritĂ€ten und einem Teil der Medien einem Umerziehungsprogramm unterworfen sind, das bei den Insidern diesen Namen trĂ€gt. Was durch Re-Education aus den Köpfen eliminiert werden soll, ist eine jahrtausendealte Gewohnheit der Menschheit: die Gewohnheit, MĂ€nner und Frauen zu unterscheiden; die gegenseitige sexuelle Anziehungskraft beider Geschlechter, auf der die Existenz und Fortexistenz der Menschheit beruht, zu unterscheiden von allen anderen Formen der Triebbefriedigung, sie diesen gegenĂŒber durch Institutionalisierung zu privilegieren und sie bestimmten humanisierenden Regeln zu unterwerfen. Die Umerziehung betrifft letzten Endes die Beseitigung der im Unvordenklichen grĂŒndenden schönen Gewohnheit, die wir Menschsein und menschliche Natur nennen. Emanzipieren sollen wir uns erklĂ€rtermaßen von unserer Natur.

Das Wort „Emanzipation“ meinte einmal so etwas wie Befreiung. Emanzipation von unserer Natur kann nur heißen: Befreiung von uns selbst. Der Begriff der politischen Freiheit wurde im alten Griechenland geprĂ€gt und meinte anfĂ€nglich: auf gewohnte Weise leben dĂŒrfen. Der Tyrann war der, der die Menschen daran hindert, der sie umerziehen will. Von solcher Tyrannei handelt dieses Buch. Es ist ein AufklĂ€rungsbuch. Es klĂ€rt uns auf ĂŒber das, was zur Zeit mit uns geschieht, mit welchen Mitteln die Umerzieher arbeiten, und mit welchen Repressalien diejenigen zu rechnen haben, die sich diesem Projekt widersetzen. Und zwar nicht nur diejenigen, die in der zur Diskussion stehenden Sache Partei ergreifen, sondern […] alle, die in diesem Zusammenhang irgendwann einmal eingetreten sind fĂŒr die Freiheit, seine Meinung zu Ă€ußern in einer offenen Diskussion.

Das Zitat stammt vom iDAF: www.i-daf.org.

Martin Heidegger: „Betet bitte tĂ€glich fĂŒr mich“

51xYcaVu2ZLHier der Auszug einer Buchbesprechung, die vollstÀndig in der nÀchsten Ausgabe von Glaube und Denken heute erscheinen wird:

Ich lese Briefwechsel gern. Meist abends, wenn die Konzentration fĂŒr anspruchsvolle LektĂŒre fehlt. Das Studieren der Briefe lĂ€sst die Menschen hinter den großen Werken lebendig erscheinen. Die Briefe von Theologen etwa gewĂ€hren Einblick in die EntstehenszusammenhĂ€nge wichtiger Denkbewegungen. Nehmen wir Karl Barth. Wenn wir an den Schweizer Professor denken, sind wir sofort bei seiner kategorischen Absage an alle „AnknĂŒpfungspunkte“ zum Menschen unter der SĂŒnde. Von einer allgemeinen Gottesoffenbarung oder den Leistungen einer natĂŒrlichen Vernunft wollte Barth nicht viel wissen, was schlussendlich zum Zerbruch seiner Freundschaft mit Emil Brunner fĂŒhrte. Barths Briefwechsel mit Eduard Thurneysen ist freilich zu entnehmen, dass Barth noch 1923 mit dieser Frage rang. Er schrieb (Gesamtausgabe, Bd. 4, S. 211):

„
 Puncto Vernunft und Offenbarung habe ich bei Peterson, bei dem ich Thomas v. Aquino höre, Erleuchtendes vernommen, was mir das I. Buch von Calvins Institutio erst verstĂ€ndlich macht. Es gibt eine ‚natĂŒrliche Theologie‘, sogar die Gottesbeweise sind nicht ganz zu verachten, gerade von der Offenbarung aus muß eine relative und natĂŒrlich unvollkommene Erkenntnis Gottes vom Intellekt aus postuliert werden. Aber sag das noch niemand; ich muß erst noch eine Weile darĂŒber schlafen, bis es zur Promulgierung reif wird.“

Ich lese aber nicht nur Briefe von Theologen. Als ich kĂŒrzlich erfuhr, dass Martin Heideggers Briefwechsel mit seinen Eltern erschienen ist, hat das sofort mein Interesse geweckt. Heidegger ist zweifellos einer der bedeutendsten Denker des 20. Jahrhunderts. Wer sich mit der Geistesgeschichte Europas beschĂ€ftigt, kommt an Heidegger nicht vorbei, auch dann nicht, wenn er ihm – wie beispielsweise Karl Popper – zutiefst misstraut.

Die Heidegger-Gesamtausgabe ist auf 102 BĂ€nde angelegt und erscheint seit 1975 im Frankfurter Verlag Vittorio Klostermann. Die Briefe werden von Alfred Denker und Holger Zaborowski im Freiburger Karl Alber Verlag herausgegeben. Geplant sind die Abteilungen „Private Korrespondenz“, „Wissenschaftliche Korrespondenz“ und „Korrespondenz mit Verlagen und Institutionen“. Der Briefwechsel zwischen Heidegger und seinen Eltern sowie seiner Schwester ist als erster Band der Abteilung I erschienen.

Anliegen der Herausgeber ist es, die Briefwechsel von Heidegger in einer Edition zugĂ€nglich zu machen, die den AnsprĂŒchen einer wissenschaftlichen Erschließung genĂŒgt. Entsprechend wurden sie durch Anmerkungen und ErklĂ€rungen ergĂ€nzt. Allerdings handelt es sich nicht um eine historisch-kritische Ausgabe, da nicht alle Briefe und BriefentwĂŒrfe enthalten sind. Der Anhang enthĂ€lt neben einem tabellarischen Lebenslauf allerlei Verzeichnisse, darunter auch ein Personenregister. Zudem wurden neun Bilder in den Band aufgenommen. Der Briefwechsel mit Heideggers Eltern beginnt 1907 und endet 1927 und enthĂ€lt 132 Dokumente. 100 Briefe stammen von Martin Heidegger, 22 von seiner Frau Elfriede und 4 von seiner Mutter. Die restlichen Briefe wurden von Familienangehörigen und Bekannten verfasst.

Die veröffentlichten Dokumente sind fĂŒr die Forschung bedeutsam, da sie Heideggers einfache Herkunft und seinen Abschied vom Katholizismus belegen. Die Eltern waren schlichte Leute mit einem tiefen katholischen Glauben. Der Vater arbeitete als Fassbindermeister und Mesner in Meßkirch. Er war „ein großer Schweiger“ (S. 198). Die Mutter war lebensfroh und wusste sich auch in schwerer Zeit von Gott getragen. Fritz Heidegger, der Bruder des Philosophen, konnte von ihr sagen, dass sie im Stand der Gnade alles WiderwĂ€rtige des Lebens leicht zu ertragen vermochte (S. 198).

Heideggers VerhĂ€ltnis zu den Eltern war, den Briefen nach zu urteilen, herzlich. Er bedankt sich fĂŒr Lebensmittelgeschenke und berichtet von seinen Aufgaben als Privatdozent. Zu Spannungen fĂŒhrte, dass Heideggers GefĂ€hrtin Elfriede Petri eine Protestantin war und zögerte, dem Wunsch der Schwiegereltern entsprechend zum katholischen Glauben zu konvertieren. Um weiteren Verstimmungen aus dem Weg zu gehen, ließen sich Martin und Elfriede am 21. Februar 1917 unter Ausschluss der Öffentlichkeit katholisch trauen. Zwei Tage spĂ€ter heirateten sie bei den Schwiegereltern in Wiesbaden evangelisch.




Am 9. Dezember 1918 schreibt Heidegger einen schmerzbereitenden Brief an seine Eltern. Dies ist der bedeutsamste Brief des Bandes, da er Heideggers Abschied vom Katholizismus dokumentiert. Es kommt eine Zeit, „wo der Mensch selbstĂ€ndig wird“. Heidegger bittet um VerstĂ€ndnis dafĂŒr, dass er seine Überzeugungen „im ehrlichen Suchen und PrĂŒfen der Wahrheit“ bildet (S. 35). Er kann nicht mehr mit „innerer Wahrhaftigkeit“ zur katholischen Konfession stehen.

„Ich möchte Euch wiederholt innig bitten, nicht schnell zu urteilen und nun gar darĂŒber verzweifelt zu sein und zu meinen, daß ich ĂŒberhaupt nichts mehr glaube und so fort. Im Gegenteil, heute, wo ich in selbst errungener Überzeugung ohne die einengenden Schranken und unĂŒberwindlichen Schwierigkeiten des katholischen Glaubens Gott gegenĂŒberstehe, habe ich eine wahrhaft innere Ruhe und Freudigkeit, eine wirklich lebendige ReligiositĂ€t, wĂ€hrend ich frĂŒher durch Zweifel und Zwang innerlich zermĂŒrbt und leer war und alles nur noch mechanisch, ohne echte innere Beteiligung mitmachen konnte“ (S. 36).

Der Schluss des Briefes kann taktisch oder aufrichtig gedeutet werden:

„Betet bitte tĂ€glich fĂŒr mich, daß ich meinem Wege der inneren Wahrhaftigkeit und der Gottergebenheit treu bleibe und stark sei in den StĂŒrmen der inneren KĂ€mpfe. Und freut Euch mit uns an unserem GlĂŒck, das uns alle Gott verbinden soll in gegenseitiger Liebe und in unbedingtem Vertrauen“ (S. 37).

Von da an tritt der Glaube in der Korrespondenz spĂŒrbar zurĂŒck. Einige Tage spĂ€ter schreibt er anlĂ€sslich des Weihnachtsfestes noch: „Ich stehe der katholischen Konfession nicht etwa feindlich gegenĂŒber, im Gegenteil, ich werde mir nie nehmen lassen, was sie an Wertvollem enthĂ€lt. Ebenso wenig kann ich mich fĂŒr eine bestimmte protestantische Richtung entscheiden“ (S. 38).

Nicht nur die Mutter, auch die Schwester Maria machte sich Sorgen. Am 31. Mai 1918 erkundigt sie sich bei einem Studienfreund Heideggers nach dessen Glaubensleben:

„Es ist Ihnen vielleicht bekannt, daß meine lieben Eltern nur, auf Vermittlung des Herrn Dr. Krebs, und auf das Versprechen von Elfride, daß sie zur katholischen Kirch ĂŒbertreten werde, die Einwilligung zur Heirat gaben. Nun bin ich aber anlĂ€sslich meines Besuches in Freiburg ĂŒber das religiöse Leben von Martin und Elfride sehr enttĂ€uscht und erbittert. Besonders grĂ€men sich jetzt meine lieben Eltern furchtbar hierĂŒber“ (S. 161).

Die eilige Antwort muss beruhigend ausgefallen sein. Schon am 4. Juni erklÀrt Maria, dass sie den Eltern und ihr selbst viel Trost und Freude gebracht habe (S. 162).

Als Martin Heidegger 1921 seiner Schwester zur Hochzeit gratuliert, formuliert er betont fromm, dass Liebe darin bestehe, sich dafĂŒr einzusetzen, „dem anderen zu helfen und die Hindernisse aus dem Weg nimmt, vor Gott ein rechter Mensch zu werden“ (S. 113). Seiner Mutter schreibt er aus Köln am 4. Dezember 1924, dass er tĂ€glich in der Nachfolge Christi von Thomas von Kempen lese. Die Mutter antwortet beseligt: „Löblich ist es ja, daß Du in der Nachfolge Christi liest, besonders wenn Du danach lebst. Also 3 Ave musst Du beten, wofĂŒr Dich Deine Mutter bittet“ (S. 72).

Bewegend ist der Abschiedsbrief, den er seiner schwer leidenden Mutter am 30. April 1927 ĂŒbersandte: „Du bist mir diesmal zu einem unvergesslichen Vorbild des Mutes und der Ausdauer und des unerschĂŒtterlichen Gottvertrauens geworden.“ Weiter heißt es:

„Wenn ich jetzt auch fern von Dir sein muß, so bin ich mit dem Herzen und dem Gedenken um so öfter bei Dir in Deiner mir jetzt vertrauten Krankenstube. Und tĂ€glich wĂŒnsche und bete ich fĂŒr Dich, daß diese schweren Tage fĂŒr Dich nicht allzu hart werden. ‚Bleib brav, dieses Leben ist so bald vorbei‘ hast Du mir beim Abschied gesagt. Mutterworte bleiben unvergessen. ‚Und es war doch ein schönes Leben, Mutter‘ erwiderte ich Dir. Und da sagtest Du aus innerster Seele und mit einem freudig dankbaren Blick ‚ja, Martin, es war schön‘. Dieses GesprĂ€ch bewahre ich in meinem Herzen, und wenn immer ich Deiner gedenke, soll es mir Dein immer frisches Bild verklĂ€ren“ (S. 108).

Am 3. Mai ist Johanna Heidegger gestorben.

Auch wenn in den Briefen viel Belangloses zu lesen ist, hat sich die LektĂŒre gelohnt. Die Gottesfrage hat Heidegger trotz seiner Absage an den Katholizismus und den jĂŒdisch-christlichen Gott nie losgelassen. „Ohne 
 theologische Herkunft wĂ€re ich nie auf den Weg des Denkens gelangt“, bekannte er 1953. Und schon 1948 hatte er gesagt: „Meine Philosophie ist ein Warten auf Gott“ (vgl. „Warten auf Gott“, Der Spiegel, Nr. 20/1972, S. 146–149).

Aus einem Brief Barths ist ĂŒbrigens zu entnehmen, dass dieser in Marburg mit Heidegger zusammentraf. „Der Philosoph Heidegger“ – schreibt der Theologe – war „sehr zustimmend, es sei methodisch alles in Ordnung gewesen, keine Grenze ĂŒberschritten, aber mit der Frage nach unserem VerhĂ€ltnis zu Kant, den er zu Aristoteles rechne, von dem sich der junge Luther losgesagt habe“ (Gesamtausgabe, Bd. 4, S, 229).

Schade, dass Briefe heute eine RaritĂ€t sind. Sie werden zukĂŒnftigen Generationen fehlen.

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Die Nonnen des 21. Jahrhunderts

Die „Schwestern der Perpetuellen Indulgenz“ treten mit dem Anspruch auf, AufklĂ€rung und Barmherzigkeit zu fördern. TatsĂ€chlich treten sie fĂŒr die VerflĂŒssigung natĂŒrlicher Geschlechterkategorien und die Neukonfiguration von Gewissensbindungen ein. Der Orden schreibt ĂŒber sein Anliegen:

Die Schwestern der Perpetuellen Indulgenz, Orden der Schwestern der Perpetuellen Indulgenz („The Sisters of Perpetual Indulgence‘‘, „{International} Order of The Sisters of Perpetual Indulgence‘‘) sind eine internationale Gemeinschaft, die sich seit Ostersamstag 1979 fĂŒr schwule, lesbische, bisexuelle und transgeschlechtliche Menschen einsetzt und hierbei ihr besonderes Augenmerk auf die Verbreitung universeller Freude, die Tilgung stigmatischer Schuld, die Beförderung schwulen, lesbischen und transgeschlechtlichem BewußtSeins sowie die HIV/AIDS- PrĂ€vention legt. Wir verwenden in kĂŒnstlerischer und freier Weise den Archetypus der Schwester und Nonne als barmherzige und dem Gemeinwohl verpflichtete Helferin und Dienerin.

Obwohl sich die „Nonnen“ verbal von der Persiflage des Christentums abgrenzen, ist die Travestie des Christlichen ihr eigentliches Thema. Sie predigen Überschreitung anstelle von SĂŒndenvergebung. In dem Artikel „SĂŒndige und habe Spaß dabei!“ (Berliner Zeitung vom 21.11.2013) heißt es: “Das Rezept der Schwestern ist dagegen die ‚universelle Freude‘. Geh hin und sĂŒndige, sagen diese Nonnen, und habe Spaß dabei.“

An diesem Beispiel lĂ€sst sich illustrieren, was der französische Philosoph Michel Foucault „Überschreitung“ nennt und die amerikanische Feministin Judith Butler als „Parodie-Konzept“ bezeichnet.

Durch die Geste der Überschreitung wird nach Foucault einerseits ein etabliertes Gebot verletzt und zugleich ein neues gesetzt. Die Überschreitung de- und konstruiert. Foucault verbindet diese Überschreitung unter Bezugnahme auf Georges Bataille mit dem Tod Gottes (M. Foucault, Von der Subversion des Wissens, S. 30).

Bedeutet nicht der Tod Gottes eine befremdende Verbindung zwischen dem Aufblitzen seiner Nichtexistenz und der Geste, die ihn tötet? Was bedeutet es, Gott zu töten, wenn er nicht existiert, Gott zu töten, der nicht existiert? Vielleicht bedeutet es, Gott zu töten, weil er nicht existiert und damit er nicht existiert also zu lachen. Gott zu töten, um die Existenz von jener sie begrenzenden Existenz zu befreien, aber auch um sie in die Grenzen zurĂŒckzufĂŒhren, die von jener unbegrenzten Existenz ausgelöscht werden (das ist das Opfer). Gott zu töten, um ihn auf das Nichts zurĂŒckzufĂŒhren, das er ist, und um seine Existenz im Herzen eines Lichtes wie eine Gegenwart aufflammen zu lassen (das ist die Ekstase).

Mit dem Verlust jenes Gottes, der uns sagt, was gut ist, eröffnet sich ein konstanter Raum endlicher Erfahrung. Allerdings gibt uns der Tod Gottes nicht „einer begrenzten und positiven Welt zurĂŒck, sondern einer Welt, die sich in der Erfahrung der Grenze auflöst, die sich in dem sie ĂŒberschreitenden Exzess aufbaut und zerstört“ (M. Foucault, Von der Subversion des Wissens, S. 30–31).

Judith Butler schlĂ€gt das karnevalistische „Parodie-Konzept“ vor, um die „phallogozentristische ZwangsheterosexualitĂ€t“ zu unterwandern. Auf diese Weise  wird die bestehende Ordnung von den gekoppelten Kategorien des biologischen (sex) und sozialien Geschlechts (gender) in Frage gestellt. Durch die parodistische Imitation von Geschlechterrollen werde laut Butler offensichtlich, dass es sich bei der binĂ€ren Geschlechteraufteilung nicht um natĂŒrliche Gegebenheiten, sondern um von Menschen gemachte Instanzen handele.

Hier der Artikel ĂŒber den „Orden“: www.berliner-zeitung.de.

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