Juli 2018

Einführung in die christliche Ethik von Wayne Grudem

412PeCGxXOL SX393 BO1 204 203 200Wayne Grudem, Autor der auch in Deutschland bekannten Systematischen Theologie, hat nun seine Christliche Ethik vorgelegt.

John Frame sagt über das Buch:

Die christliche Ethik hat alle Vorzüge der Systematischen Theologie: Bibeltreue, Vollständigkeit, Klarheit, praktische Anwendung und Interaktion mit anderen Autoren. Seine Ermahnungen ermutigen den Leser dazu, den dreieinigen Gott anzubeten.

Hier gibt es einen 70-seitigen Auszug und hier ein ausführliches Inhaltsverzeichnis als PDFs.

An dieser Stelle zudem noch ein kurzes Interview, das der Verleger mit W. Grudem produziert hat.

VD: AN

Christliche Künstler: Lasst die Bibel nicht links liegen

Painting 3135875 1280In seinem neuesten Buch A Peculiar Orthodoxy: Reflections on Theology and the Arts verbindet Jeremy Begbie Themen wie Schönheit, natürliche Theologie, göttliche und menschliche Freiheit und die Rolle der Emotionen.

Jennifer Craft hat für CT mit dem Theologen über Kunst gesprochen und dabei ans Licht gebracht, dass es unter Künstlern ein neues Interesse an der reformierten Theologie gibt:

CT: Sie heben den Wert der reformierten Theologie für Gespräche über die Künste hervor. Wie sehen Sie die Art und Weise, wie wir über die Kunst in christlichen Gemeinschaften denken und sie praktizieren?

JB: Es ist schwer, Trends zu erklären. Aber in der immer größer werdenden Auseinandersetzung zwischen Theologie und Kunst gibt es Anzeichen für ein neues Interesse an der reformierten Tradition. Die müde, alte Karikatur des Calvinismus als Anti-Kunst wurde radikal korrigiert. Das Erbe von Schriftstellern wie Hans Rookmaaker, Nicholas Wolterstorff und Calvin Seerveld ist nach wie vor spürbar, und viele finden, dass eine reformierte Sichtweise eine dringend benötigte Frische in alte Debatten bringt. Sein vielleicht wichtigster Beitrag ist die Weigerung, die Grenze zwischen Gott und der Welt zu verwischen. Das bedeutet nicht, Gott als von der Welt geschieden oder gleichgültig zu behandeln. Aber es bedeutet, den Kosmos als geschaffen zu sehen, um Gott in seinen geschaffenen Werken zu preisen – und zu glauben, dass die Künste Gott am stärksten bezeugen, wenn sie nicht versuchen, Gott zu sein. Der Künstler kann die erstaunliche Vielfalt der physischen Welt erforschen, feiern und entwickeln, aber ohne die Welt so zu behandeln, als wäre sie Gott in Verkleidung oder in der Vorstellung, dass der Künstler göttlich ist. Dazu kommt, dass eine reformierte Perspektive jede Sentimentalität meidet – das Kreuz zeigt, dass diese Welt grundsätzlich gut ist, aber verdorben und entstellt. Der von Christus inspirierte Künstler wird zum Beispiel die natürliche Welt als glorreich, aber schmerzhaft lädiert darstellen und auf ihre kulminierende Befreiung in der neuen Schöpfung warten.

Mehr (leider nur im bezahlten Angebot von CT): www.christianitytoday.com.

 

Die 10 Kernüberzeugungen des heutigen „progressiven Christentums“

Der Neutestamentler Michael Kruger (RTS, USA) hat auf seinem Blog eine Serie zu den 10 Kernüberzeugungen des „progressiven Christentums“ begonnen. Die „10 Gebote“ überschneiden sich durchaus mit einigen Grundeinsichten des Neo-Evangelikalismus:

  1. Jesus ist mehr ein Vorbild für das Leben als Objekt der Anbetung.
  2. Das Potential der Menschen zu bejahen ist wichtiger als sie an ihre Zerbrochenheit zu erinnern.
  3. Die Versöhnungsarbeit sollte über die kritische Urteilsbildung gestellt werden.
  4. Freundliches Verhalten ist wichtiger als der rechte Glaube.
  5. Zu Fragen einzuladen ist wertvoller als Antworten zu geben.
  6. Die Förderung der persönlichen Suche ist wichtiger als die Einheitlichkeit der Gemeinschaft.
  7. Die Deckung des tatsächlichen Bedarfs ist wichtiger als die Aufrechterhaltung von Institutionen.
  8. Friedensarbeit ist wichtiger als Macht.
  9. Wir sollten uns mehr um Liebe und weniger um Sex kümmern.
  10. Das Leben in dieser Welt ist wichtiger als das zukünftige Leben (die Ewigkeit ist ohnehin Gottes Werk).

Die Ausführungen zu den einzelnen Kernüberzeugungen können auf dem Blog abgerufen werden: www.michaeljkruger.com.

Michael Kruger ist Herausgeber des von mir 2016 empfohlenen Buches A Biblical Theological Introduction to the New Testament: The Gospel Realized (siehe hier, S. 51).

VD: DV

Grundgesetzänderung beantragt: Gefühltes Geschlecht soll geschützt werden

Der in Berlin regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) und der Berliner Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) haben für den Senat der Hauptstadt einen Antrag auf den Weg gebracht, demgemäß das Grundgesetz geändert werden soll. In Zukunft soll sich die Verfassung in postmoderner Manier am gerade gefühlten Geschlecht orientieren.

Die BERLINER ZEITUNG meldet:

Zur Begründung schreiben sie, dass sowohl die sexuelle Identität geschützt werden müsse, „als auch das eigene geschlechtliche Selbstverständnis unabhängig davon, ob das empfundene Geschlecht mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt.“

Der erste Punkt ist sonnenklar: Niemand soll wegen seiner sexuellen Orientierung benachteiligt sein. Das versteht jeder. Der zweiter Punkt ist schwerer zu verstehen. Gemeint ist, dass jeder Menschen selbst entscheiden kann, welches Geschlecht er hat oder zu haben glaubt und dass diese Entscheidung dann für alle andern verbindlich ist.

Konkret sieht das so aus: Ein Mann kann angeben eine Frau zu sein, und eine Frau kann geltend machen, dass sie eigentlich ein Mann ist. Beide können aber auch entscheiden, weder Mann noch Frau zu sein sondern irgendetwas anderes. Sie können entscheiden, keinem der beiden Geschlechter anzugehören, sondern einem dritten, das noch nicht definiert ist.

Mehr: www.bz-berlin.de.

Bedford-Strohm und der Zeitgeist

Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm, Vorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland, predigte am letzten Wochenende zum Männersonntag im Westerwald über den Ersten Thessalonicherbrief. Die RHEINZEITUNG berichtet (Nr. 168, 23. Juni 2018, S. 21):

Der vielleicht wichtigste Satz in den Worten aus dem Thessalonicherbrief sei die Ermahnung zum richtigen Umgang mit den Geistern, auch den Zeitgeistern: „Prüft aber alles und das Gute behaltet.“ Zeitgeister seien nicht in sich etwas Schlechtes. „Sondern nur die Zeitgeister, die von den lebensfreundlichen Orientierungen Gottes wegführen. Etwa die Vergötzung des Geldes. Oder der Kult des Starken, wie er im nationalsozialistischen Menschenbild seinen Ausdruck fand. Oder ein nationalistischer Zeitgeist, der schon in der Vergangenheit so viel Unheil angerichtet hat.“

Es gebe aber auch den Punkt, dass Christen etwas als „Zeitgeist“ zurückgewiesen hätten, was sich am Ende als ihre ureigene biblisch gegründete Sache erwiesen habe. „Die Menschenrechte sind so ein Beispiel. Sie mussten gegen die Kirchen erkämpft werden.“ Bedford-Strohm persönlich glaubt, dass man Ähnliches auch irgendwann in der Zukunft über „den Umgang der Kirchen mit dem Thema Homosexualität sagen wird. Man, wird nicht mehr verstehen, warum wir als Kirchen aufgrund einiger weniger Bibelstellen so lange daran festgehalten haben, dass Homosexualität Sünde sei.“

Es ist schon erstaunlich, wie leichtherzig hier ein Bibeltext dafür benutzt wird, die eigenen Anliegen zu transportieren. Zweifelsohne können Reichtum oder Nationenstolz zum Götzen werden. Aber der Autor des Thessalonicherbriefes hat an andere Dinge gedacht, als das zitierte Schreiben verfasst wurde.

Interessanterweise findet sich die Aufforderung zur Prüfung des Guten ausgerechnet im Kontext von Ermahnungen zum heiligen Leben angesichts des kommenden Gerichtstages („… denn ihr selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommen wird wie ein Dieb in der Nacht“, 5,2). Der Apostel ermahnt etwa zu fairem Handel unter Glaubensgeschwistern (4,6), (recht antimarxistisch) zur fleißigen Arbeit (4,11), Wachsamkeit und Nüchternheit (5,5), Frieden untereinander (5, 12) oder auch zur Zurechtweisung von Unordentlichen (o. Faulen, 5,14). Und er spricht ausdrücklich die Sexualethik an, die Bedford-Strohm für obsolet erklärt:

Denn das ist der Wille Gottes, eure Heiligung, dass ihr meidet die Unzucht und ein jeder von euch seine eigene Frau zu gewinnen suche in Heiligkeit und Ehrerbietung, nicht in gieriger Lust wie die Heiden, die von Gott nichts wissen … Denn Gott hat uns nicht berufen zur Unreinheit, sondern zur Heiligung. Wer das nun verachtet, der verachtet nicht Menschen, sondern Gott, der seinen Heiligen Geist in euch gibt.

Der schleichende Tod der Meinungsfreiheit

Eine Journalistin der linksliberalen Zeitung DIE ZEIT erlebt einen Shitstorm, weil sie es gewagt hatte, sachliche Kritik an den Flüchtlingsrettern zu äussern.  In den USA ist es inzwischen noch schlimmer. Dort werden Meinungsstücke bei Gegenwind teilweise geschwind vom Netz genommen. Immer mehr Journalisten und Autoren zweifeln daran, ob sie sensible Themen überhaupt noch aufgreifen  sollen. Wer sich mit dem Mainstream anlegt, riskiert seine Karriere.

Tamara Wernli hat für die Basler Zeitung das langsamen Sterben der Meinungsfreiheit beschrieben:

Wenn Menschen sachlich und vernünftig formulierte Meinungen nicht ertragen und deswegen in einen Zustand glühenden Moralisierens verfallen, liegt es nicht am Absender, sondern am Empfänger: Diese Leute sind zu reizbar, zu sensibel, zu anmassend, zu wenig tolerant. Sie nehmen für sich in Anspruch, die einzig richtige Meinung zu besitzen und ihre Wahrheit allen anderen aufdrängen zu müssen. Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt formuliert es so: «Der Thron, von dem herab sie über Andersdenkende urteilen, wächst in den Himmel.»

Möglicherweise sollten die Thron-Besetzer sich mal ein paar Gedanken dazu machen. Denn es ist keine rechte oder linke Angelegenheit, es betrifft uns alle. Hysterie und moralische Überheblichkeit dürfen Stimmen nicht zum Verstummen bringen.

Mehr: m.bazonline.ch.

Thorsten Dietz: Sünde

518+tnCY6DL SX324 BO1 204 203 200Tanja Bittner ist in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Glauben und Denken heute Thorsten Dietz’ Buch über Sünde besprochen. Ich darf die Rezension hier wiedergeben:

  • Thorsten Dietz. Sünde: Was Menschen heute von Gott trennt. Witten: SCM R. Brockhaus, 20172 (Erstauflage 2016). 220 Seiten. 16,95 Euro.

„Das Wort Sünde funktioniert nicht mehr. Statt irgendetwas zu erklären, bedarf dieser Ausdruck selbst der ständigen Erläuterung. Er produziert nur noch Missverständnisse“ (S. 5). Diese Feststellung bildet den Ausgangspunkt für eine „Entdeckungsreise“ (S. 22), zu der der Autor Christen und Nichtchristen einlädt, um der Sünde von neuem auf die Spur zu kommen. Die Stationen dieser Reise werden im Folgenden zunächst nachgezeichnet:

Der Begriff ist für den christlichen Glauben zentral. Aber er ist auch in problematischer Weise moralisierend geprägt worden, so dass er für viele Menschen heute unverständlich, sinnlos, ärgerlich ist. Menschen wurden damit abgewertet, entmündigt; anmaßende Verkündiger haben ihn gebraucht, um mit dem Finger auf andere zu zeigen und einige ausgewählte Sünden anzuprangern. „Ein neuer Anfang ist nötig. […] Will man am Christentum festhalten, dann kann es um nicht weniger als darum gehen, den christlichen Glauben neu zu entdecken, zu befreien aus so mancher problematischen Verstrickung oder Verengung“ (S. 21f).

Traditionelle Perspektiven auf die Sünde (Schuld, Misstrauen, Maßlosigkeit, Verführung, Zielverfehlung) haben ihre Berechtigung, greifen aber für den heutigen Menschen nur noch begrenzt. Schuld hat in unserer multireligiösen Gesellschaft ihre Verknüpfung mit den Zehn Geboten verloren, diese Funktion übernehmen mehr und mehr die Menschenrechte. Zumal es in unserer kompliziert gewordenen Zeit ohnehin nicht mehr so einfach ist, zwischen Richtig und Falsch zu unterscheiden. Misstrauen bedeutet Verkehrung des Vertrauens. In seiner Verletzlichkeit benötigt der Mensch einen sicheren Halt, das Vertrauen auf Gott, statt sich auf andere Dinge zu verlassen, die ihn nicht tragen. Doch begünstigt dies eben auch ein Schwarz-Weiß-Denken und diskreditiert Nichtchristen als moralisch unterlegen. Betrachtet man Sünde als Maßlosigkeit, so geht es um das Begehren, das sich auf die falschen Dinge ausrichtet, statt die Erfüllung in Gott zu suchen – um das Habenwollen, statt liebend zu geben. Leider wurde bei diesem Blickwinkel oft vor allem das Verbotene betont. Dagegen wurde Sünde als Verführung häufig nicht genügend beachtet. Der Mensch ist auch Opfer der Sünde (wenn wir auch die Sündenfallserzählung nicht „mit Erklärungsansprüchen“ „überfrachten“ sollten [S. 43]). Sünde als Zielverfehlung fand ebenfalls eher zu wenig Beachtung. Viele Handlungen können in der einen Situation richtig, in der anderen falsch sein. Nimmt man ein Menschenleben als Ganzes in den Blick, bedeutet diese Zielverfehlung, dass jemand hinter dem, was eigentlich seine Bestimmung gewesen wäre, zurückgeblieben ist.

So wendet sich Dietz nun der Aufgabe zu, den ursprünglichen Gedanken der Bibel zum Thema wieder auf die Spur zu kommen. Er will aber auch entdecken, was die Narrative unserer Zeit (wie sie auf den Kinoleinwänden erzählt werden) dazu beitragen können, in denen sich das Leben, Fürchten und Träumen der heutigen Menschen widerspiegelt und verdichtet. Beide Perspektiven seien wichtig, um die jeweils andere zu verdeutlichen. Unter den Stichworten Blind, Hart, Süchtig, Selbstlos, Reich, Sicher und Träge werden nun sieben „neue“ bzw. „neu verstandene“ (S. 7) Sünden entfaltet.

Blind meint die Blindheit für sich selbst, die eigene Situation. Biblische Bezugspunkte findet der Autor im von Jesus kritisierten Pharisäertum. Man lebt in einer Selbsttäuschung, die die eigene Wahrnehmung für die Wirklichkeit hält (siehe auch die Matrix-Trilogie), was sich beispielsweise in Vorurteilen und Selbstgerechtigkeit manifestiert. Der Augenöffner für den Blinden ist die Erfahrung der Liebe, die Erfahrung von Schönheit, kumuliert in der Begegnung mit Gott. Da wir in einer von der Verblendung durchdrungenen Welt leben, sollten wir uns des Wahrheitsgehalts unserer persönlichen Sicht nicht allzu sicher zu sein.

Hart weist auf das harte Herz, das nach biblischem Zeugnis durch ein fleischernes Herz ersetzt werden muss (vgl. Hes 36,26). Weder verhärtet sich der Mensch nur aktiv selbst, noch wird er nur passiv verhärtet (vgl. der Pharao in Ex 7–14). Wir sind verstrickt in das Zusammenwirken von Schuld und Schicksal (siehe die Person des Darth Vader in Star Wars). Von der Bibel sollten wir keine einfachen Antworten auf die Frage nach dem Ursprung des Bösen erwarten, da sie hier „geheimnisvoller, offener, andeutender“ (S. 83) redet als wir das vielleicht gern hätten. „Echter Glaube will nicht alles begreifen und in ein System pressen können“ (S. 83). Mit Dorothee Sölle verbindet er das Phänomen der Härte mit dem Begriff der Entfremdung, nämlich von sich selbst und von anderen. Der Gegenpol ist wieder die Liebe (vgl. 1Kor 13), die der Verhärtung widersteht und sich verletzlich macht.

Süchtig verdeutlicht ebenfalls, wie Täter- und Opfersein des Menschen ineinander fließen. Im Sog der Sucht verliert der Mensch die Kontrolle an eine Macht, die ihn beherrscht (vgl. auch Röm 7,14–20), indem sie ihm ein Stückchen Glück verheißt und schließlich das Leben völlig vereinnahmt (siehe Gollum in Herr der Ringe). Die Lösung heißt Freiheit, doch der Mensch findet diese nach Bonhoeffer gerade nicht in der Niederwerfung aller Grenzen, sondern in der Bindung an den Schöpfer. Der praktische Weg in die Freiheit beginnt mit dem Eingeständnis der eigenen Ohnmacht, benötigt eine sich gegenseitig stützende Gemeinschaft, und beendet schließlich die Opferrolle, indem die Verantwortung für das eigene Leben übernommen wird (vgl. das Konzept der Anonymen Alkoholiker).

Selbstlos zu sein ist nach Dietz nur scheinbar das positive Gegenteil von einer negativ zu bewertenden Selbstbezogenheit. Die Dinge sind nicht so einfach, wie sie zunächst aussehen. Wenn Jesus in Mk 8,34–37 dazu aufruft, sich selbst zu verleugnen und ihm nachzufolgen, geht es zentral um die Frage: „Wie gewinne ich mein wahres Selbst?“ (S. 116). Anhand verschiedener Figuren aus Harry Potter wird deutlich: Wer wir wirklich sind, zeigt sich daran, wie wir mit den herausfordernden Situationen des Lebens umgehen. Nach Kierkegaard ist die Aufgabe jedes Menschen, er selbst zu werden, während er die Gegebenheiten, in die Gott ihn stellt, vertrauensvoll akzeptiert (statt sich daran abzumühen, nicht er selbst bzw. jemand anderes sein zu wollen).

Dietz’ Zwischenbilanz nach diesen ersten vier, eher persönlich zugespitzten Sünden lautet: „Wir verfehlen unsere Bestimmung in der Verdrängung der Wahrheit, unserer Abkehr von der Liebe, in der Flucht vor der Freiheit und in der Verweigerung des Vertrauens. So verfehlen wir Gott, indem wir uns selbst verfehlen. Und so werden wir unserer Berufung nicht gerecht, indem wir an Gott vorbei leben“ (S. 131). Es folgen drei strukturelle Sünden:

Reich: Dietz warnt davor, vorschnell nur den Missbrauch des Reichtums (wie Geiz, Habgier) zu problematisieren und sich dann entspannt zurückzulehnen. Die Bibel kann sehr pauschal sein, wenn sie auf Reichtum zu sprechen kommt (z. B. Jak 5,1; Lk 6,24–25). „Reichtum ist nicht neutral. Nein, Reichtum allein verdirbt nicht den Charakter, aber er steigert die Chancen, dass dies geschieht“ (S. 138; siehe die Serie Breaking Bad). Dagegen ruft Papst Franziskus im Hinblick auf das Flüchtlingselend dazu auf, unsere Gleichgültigkeit abzulegen, hinzusehen und hinzuhören, mitzuleiden und mitzuweinen.

Sicher: Unser Sicherheitsbedürfnis verleitet uns dazu, die Welt zu vereinfachen und Freund-Feind-Schemata aufzubauen. Doch Jesus überwindet in der Bergpredigt diese sicheren Bahnen (Mt 5,43–48), ruft zu Gewaltverzicht auf und macht selbst den Feind zu meinem Nächsten, den ich lieben soll (siehe auch die Hobbits Frodo und Sam in Herr der Ringe). Natürlich ist Fundamentalismus mit seiner „schlichten Logik des Entweder-Oder, Schwarz oder Weiß“, mit seiner „Wut, seine[r] Ausgrenzungsbereitschaft und Unversöhnlichkeit“ (S. 167) abzulehnen. Das Vorhandensein klarer Überzeugungen ist aber nicht prinzipiell als fundamentalistisch anzusehen. Entscheidend ist das Moment der „aggressiven Abwertung“ (S. 168), die Verweigerung der echten Auseinandersetzung mit anderen Sichtweisen und die Unfähigkeit, diese stehen zu lassen. Entsprechend muss sich der Nichtfundamentalist für die Diskussion mit dem Fundamentalismus eine Offenheit bewahren, die eben diese Fallstricke vermeidet.

Träge: Pontius Pilatus ließ sich wider besseres Wissen letztendlich darauf ein, den Unschuldigen zu opfern, ging den Weg des geringeren Widerstands – wohl aus Angst vor den Folgen. Ähnliches wird auch in Tribute von Panem thematisiert, wo sich der Kampf gegen Mitläufertum und Anpassung als zunehmend unübersichtlich erweist. Dabei spielt auch Verantwortungsbewusstsein (z. B. für die Familie) eine Rolle. Karl Barth weist darauf hin, dass Sünde nach zwei Richtungen hin möglich ist, nämlich einerseits die Überhöhung des Menschen (Hochmut) und andererseits die Weigerung, sich auf die eigene Berufung einzulassen (Mutlosigkeit, Rückzug). „Das Leben wird auch da verfehlt, wo Menschen ihre eigenen Möglichkeiten nicht entdecken, ihre Gaben nicht entfalten und einsetzen“ (S. 190).

Im Schlusskapitel setzt Dietz nun diese Sünden in Beziehung zu Jesus. Im Hinblick auf die Blindheit war Jesus der, unter dessen Blick Menschen „wagten, das Wunder zu glauben, dass Gott sie mit liebenden Augen ansah“ (S. 195) und er öffnete auch ihren Blick füreinander. Er lebte berührbar und verletzlich. In seiner völligen Abhängigkeit von Gott war Jesus unabhängig von jeder irdischen Vereinnahmung. Gerade in seiner gelebten, selbstlosen Liebe war er ganz er selbst. Jesus lebte in Armut, doch ohne Berührungsängste gegenüber Reichen, und tatsächlich „hieß es von ihm, dass er durch seine Armut viele reich machte“ (siehe 2Kor 8,9; S. 196). Jesus lebte mit der Bedrohung seiner persönlichen Sicherheit, doch er ließ sich nicht von der Angst beherrschen. Und er ließ sich nicht auf die Spiele der Menschen ein, sondern folgte stets seiner eigenen, nicht berechenbaren Agenda.

Die Bibel nennt Jesus sündlos. In den Helden der Kinoleinwand finden wir dieses Muster wieder: es gibt Widerstände aller Art, aber der Eine geht geradlinig seinen Weg und kann am Ende die Welt retten. Auch wenn im Hinblick auf die Evangelien viel Unsicherheit bestehen mag, was und wieviel davon tatsächlich so passiert ist, kann uns Jesu Leben Hoffnung geben. Zwar endet sein „Gottesexperiment“ (S. 204) in einer Katastrophe, mit seinem Tod scheint alles aus zu sein. Und doch war das der Anfang einer Bewegung von Jesusnachfolgern. Gott kam auf seine Weise zum Ziel. Das gibt uns die Perspektive, uns auf ein solch radikal anderes Leben einzulassen, das geprägt ist von Vergebung, Versöhnung und der Hoffnung, dass irgendwo da draußen ein Happy End warten könnte, für das es sich zu kämpfen lohnt.

Thorsten Dietz hat sich mit diesem Buch aufgemacht, heutigen Menschen einen neuen Zugang zu einem Kernthema des christlichen Glaubens zu eröffnen. Er analysiert richtig, dass dieser Zugang heute weitgehend verschüttet und deshalb das Christentum davon bedroht ist, in der Irrelevanz zu versinken. Menschen ohne Bewusstsein für Sünde sind an Erlösung wohl wenig interessiert. Er hat sich also eine wichtige Aufgabe gestellt. Das Buch ist allgemeinverständlich geschrieben und es gelingt ihm, dem Leser unaufdringlich den Spiegel vorzuhalten. Was er schreibt, hat mit meinem Leben zu tun und fordert heraus, sich in den diskutierten Bereichen selbst zu reflektieren. Doch insgesamt greift das Buch zu kurz, vermittelt nur eine flache Sicht auf das Thema.

Das liegt wohl bereits am Vorgehen an sich – nämlich dem Versuch, im Dialog von Bibel und aktuellen Narrativen zu einer zeitgemäßen Sicht auf die Sünde zu kommen. Die Bibel wird als eine Art uralter, christlicher Basis-Narrativ neben die neuen Narrative gelegt und das Ganze auf Gleichklänge untersucht. Das Ergebnis ist vorprogrammiert: man findet das in der Bibel wieder, was unsere Kultur als Sünde definiert. Aber auch nichts anderes. Die großen Werte im Untergrund heißen Toleranz, Relativismus, Selbstwerdung – Sünde ist, wenn diese Werte verletzt werden. Was keinen Widerhall findet in unserer Zeit, fällt unter den Tisch. Das gilt nicht nur für Sünden, die heute nicht mehr als Sünde gelten (z. B. Ehebruch), sondern es fehlt beispielsweise auch der Gott, der uns zur Verantwortung ziehen wird, und das nicht nur, weil wir unsere eigentliche Bestimmung verfehlen, sondern weil Sünde auch Rebellion gegen ihn bedeutet (vgl. Kol 3,5–7; Paulus nennt Sünder „Feinde“ Gottes, „Gotteshasser“: Röm 5,10; 1,30).

Entsprechend erscheint auch die (Er-)Lösung blass. Jesus ist das Vorbild, das irgendwie alles richtig gemacht hat. Uns bleibt der Versuch, Werte wie Liebe, Mut, Verantwortung und Hoffnung im Vertrauen auf Gottes Hilfe umzusetzen, während wir unsere Sündenverstrickung gleichzeitig als unausweichliches Schicksal annehmen müssen.

Es fehlt Wesentliches. Ohne den biblischen Sinnzusammenhang, in den Sünde und Erlösung eingebunden sind, bleibt nur ein kraftloser (moralisierender?) Schatten der biblischen Botschaft übrig. Nicht im Blick ist der Gott, mit dessen Heiligkeit Sünde unvereinbar ist und der uns gerecht richten wird, also verurteilen muss (Apg 17,31; Röm 3,10). Nur äußerst diffus ist zu ahnen, was die Bibel deutlich sagt, nämlich, dass Jesus am Kreuz die Vergebung der Sünden erworben hat, dass für den, der an ihn glaubt, der Schuldschein tatsächlich abgetan ist (Kol 1,21f; 2,14; 1Joh 2,2). Erst auf den vorletzten Seiten (S. 207f) taucht dazu wie ein Fremdkörper ein einsames Zitat aus 2Kor 5,17–21 auf, ohne weiteren Kommentar. So hat Dietz denn auch ganz am Ende nur ein irrationales Man sollte die Hoffnung nicht aufgeben! anzubieten, präsentiert von Sam aus Herr der Ringe.

Es ist fraglich, ob nicht gerade diese Strategie das Christentum in die Irrelevanz führt – eine Kirche, die der Welt nur das sagt, was diese bereits glaubt, ist überflüssig. Aber was soll auch anderes zu sagen übrig bleiben, wenn die Bibel zu einem alten Narrativ mit nicht näher bestimmbarem Wahrheitsgehalt geworden ist? „Es ist weder nötig noch plausibel zu behaupten, alles hat sich buchstäblich so zugetragen oder ist wortwörtlich von den Beteiligten so gesagt worden“ (S. 201, hier bezogen auf die Evangelien). „Wer diese Texte nicht symbolisch liest, der verfehlt ihren Sinn“ (S. 105, über den Sündenfall). Wenn die Bibel nicht die Wahrheit ist, dann hat sie uns tatsächlich nicht mehr zu sagen als Star Wars oder Harry Potter. Man kann Impulse mitnehmen – mehr aber auch nicht.

Falsche Vätermythen

Jürgen Liminski stellt für den TAGESSPIEGEL eine Studie vor, die den Einfluss der Ehe  auf die Stabilität der Kinder, der jüngeren Generation und damit auch auf die Gesellschaft untersucht. Die Ergebnisse widerlegen einige Mythen.

Der dritte Mythos – nichtverheiratete Väter erziehen genauso gut wie verheiratete – geht von einem individualistischen Menschenbild aus, das Beziehungen nicht um ihrer selbst willen und als personale Verbindung sieht, sondern als Instrument des Individuums. Es ist ein Unterschied, ob jemand in einem verlässlichen, auf unbegrenzte Dauer angelegten Bezugsrahmen lebt und handelt oder ob die Beziehung unter der unausgesprochenen Option der Trennung steht. Die Soziologen, die Daten zu der Studie beigetragen haben, gehen zunächst von dem Faktum aus, dass vierzig Prozent aller Kinder heute in Haushalten leben, in denen die Eltern nicht verheiratet sind. Sandra Hofferth von der Universität Maryland und Kermyt Anderson von der Universität Oklahoma konnten nun nachweisen, dass verheiratete Eltern in der Regel deutlich zärtlicher, emotionaler und teilnehmender mit den Kindern umgehen als nicht verheiratete. Die Weltfamilienkarte zeigt zudem, dass Kinder aus nichtehelichen Haushalten doppelt so wahrscheinlich die Trennung der Familie vor ihrem 12. Lebensjahr erleben als Kinder aus ehelichen Haushalten. Eine Studie der Universität Bowling Green State sowie der Universität von Michigan wies sogar nach, dass in den USA jedes zweite Kind von nicht verheirateten Eltern den Bruch der Familie vor seinem fünften Geburtstag erleidet. Dagegen erlebten nur 15 Prozent der Kinder von verheirateten Eltern diesen Schock. Die Soziologen Frank Frustenberg und Andrew Cherlin führen das darauf zurück, dass verheiratete Väter Ehe und Vaterschaft als „eine einzige Sache, als ein Paket“ betrachten. In diesem Sinn ist auch der Mythos von der „guten Scheidung“, die den Kindern nichts ausmache, zu sehen.

Mehr: m.die-tagespost.de.

Großbritannien: Traditionelles Geschlechterverständnis als Kündigungsgrund

Der britische Arzt David Mackereth weigert sich, Transsexuelle mit dem von ihnen bevorzugten Pronomen anzusprechen. Daraufhin wird sein Arbeitsvertrag beendet.

DIE TAGESPOST berichtet unter Berufung auf THE DAILY TELEGRAPH:

In England ist einem christlichen Arzt aufgrund seines traditionellen Geschlechterverständnisses eine Arbeitsstelle verweigert worden. Der reformierte Baptist David Mackereth, der 26 Jahre lang für die staatliche Gesundheitsbehörde NHS (National Health Service) arbeitete, hatte sich geweigert, Transsexuelle mit dem von ihnen gewünschten Pronomen anzusprechen. Daraufhin wurde er vom Ministerium für Arbeit und Rente nicht eingestellt. „Ich greife die Transgender-Bewegung nicht an, sondern ich verteidige mein Recht auf Rede- und Glaubensfreiheit“, äußerte sich Mackereth gegenüber der britischen Zeitung „The Daily Telegraph“.

Mehr: www.die-tagespost.de.

„Gott ist für mich nicht allmächtig“

Pastorin Jil Becker hat ihren Gemeindedienst aufgegeben und kümmert sich nun um den Nachwuchs ihrer Landeskirche. In einem TAZ-Interview gewährt sie Einblicke in ihren Glauben und ihre Vorstellungen vom Dienst in der Gemeinde. Manches wirkt sympathisch und nachvollziehbar. Aber sie macht ebenso Aussagen, die Sympathien für jene wecken, die ihrer Kirche den Rücken kehren oder gar davor warnen, so eine Landeskirche überhaupt noch zu unterstützen.

Gott wird kleingemacht, etwa durch Sätze wie:

Gott ist für mich nicht allmächtig, jedenfalls nicht in dem Sinne, als dass er beeinflussen könnte, ob jemand an Krebs erkrankt oder nicht. An solche Wunder glaube ich nicht.

Mehr: www.taz.de.

VD: SL

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