Dr. Ralf Wüstenberg hat im Jahr 2003 einen Vortrag über das Heiliungskonzept von Johannes Calvin referiert (veröffentlicht als Ralf K. Wüstenberg, „Wachstum im Glauben? Eine Analyse der Rede vom „Fortschreiten„ in Calvins ‚Institutio‘“, Neue Zeitschrift für Systematische Theologie 46 (2004): S. 264–279). Er hat verschiedene Lesarten einer progressiven Heilung gegenübergestellt, und zwar:
- Eschatologisches Gezogenwerden;
- Wachstum als quantitative Mehrung;
- Wachstum als Vertiefungsbewegung.
Hier sein Ergebnis:
Aus der bisherigen Analyse lassen sich drei Typen des Wachstumsgedankens unterscheiden: Wachstum als eschatologisches Gezogenwerden (Typ 1), Wachstum als quantitative Mehrung (Typ 2) und Wachstum als Vertiefungsbewegung (Typ 3). Diese Typen sind nicht deckungsgleich mit den drei Aspekten im Begriff Fortschreiten. Eher spitzen die beiden ersten bestimmte Momente in den analysierten Teilaspekten zu. Auf diese Akzentuierungen möchte ich meine kritischen Schlussbemerkungen beschränken.
Typ 1, Wachstum als eschatologisches Gezogenwerden, akzentuiert – wie soeben gesehen – das Ziel des Glaubensweges. Der finale Aspekt wird im Fortschrittsgedanken zugespitzt, indem ganz auf die freudige Erwartung von Tod und Auferstehung abgestellt wird. Die analysierte Funktion des eschatologischen Aspekts, nämlich den Gedanken vom Wachstum angemessen einzubetten, ihn im „Schon Jetzt“ in Grenzen und für das „Noch Nicht“ offen zu halten, wird verschoben: Alles läuft nun steil auf das Kommende zu. Zutreffend ist, wie erwähnt, dass dieses Moment im Fortschrittsgedanken bei Calvin begegnet. Angesichts der Alternative ‚nach vorn schauen‘ / ‚zurückschauen‘ kann ich mich aber nicht mit Faber für die erstere Haltung als die für die Lehre des Reformators bestimmende aussprechen. Denn mit der Akzentuierung des Zielgedankens im eschatologischen Aspekt droht der ethische Aspekt im Fortschrittsgedanken Calvins verdunkelt zu werden. Wenn alles nur noch steil auf das Ziel zuläuft, dann spielt der Blick zurück auf Schuld und Verantwortung nur noch eine Nebenrolle.
Typ 2, Wachstum als quantitative Mehrung, begegnete in der Abhandlung des soteriologischen Aspekts im Fortschrittsbegriff und trat uns dann noch einmal im ethischen Aspekt entgegen. Wachstum bezieht sich einmal auf ein faktisches Mehrwerden von Glauben. Hier ist der Glaube wie ein Samenkorn vorgestellt, das zu keimen beginnt. Wachstum bezieht sich zum anderen auf ein faktisches Wenigerwerden dessen, was den Glauben behindert. Hier lautet die Vorstellung: Der Heilige Geist setzt immer weiter seine Herrschaft gegenüber der Sünde durch. Beide Vorstellungen beschreiben Wachstum als faktische Erweiterungsbewegung. Wo der quantitative Aspekt in den Wachstumsgedanken hineinkommt, droht unter der Hand der soteriologische Aspekt verdeckt zu werden. Glaube nimmt nicht mehr und mehr beim Menschen zu, sondern dieser wächst mehr und mehr in die Einsicht hinein, wie sehr er immer wieder angesichts der Verheißungen zurückbleibt. Darum meint Calvin meines Erachtens weniger eine Erweiterungs- als eine Vertiefungsbewegung, wenn er vom Fortschreiten redet. Ich zitierte noch einmal den Reformator: „Je mehr sich einer durch Heiligkeit auszeichnet, umso mehr soll er spüren, wie weit er noch immer von der vollkommenen Gerechtigkeit entfernt ist, damit er nur auf Gottes reines Erbarmen vertraut.“
Im Typ 3, Wachstum als Vertiefungsbewegung, kommt dieser soteriologische Gedanke am deutlichsten heraus, ohne dass die anderen Aspekte im Fortschrittsbegriff Calvins zurücktreten müssten. Denn Fortschreiten als Vertiefungsbewegung bedeutet
a) soteriologisch: sich seiner heillosen Situation immer klarer werden und damit hineinwachsen in die Einsicht, total angewiesen zu sein auf Gottes Zuwendung (Der Glaubende darf diese Abhängigkeit immer stärker spüren, indem er sich immer deutlicher erkennt als jemanden, der aus Mangel an Vertrauen immer wieder zurückbleibt hinter den Verheißungen.);
b) eschatologisch: sich immer tiefer ausgerichtet wissen auf ein Ziel und damit darauf, dass alles Fortschreiten ein Ende finden darf, wenn Christus mit uns zum Ziel kommt;
c) ethisch: hineinwachsen in die Einsicht, dass der Glaube keinen Stillstand kennt, sondern immerfort in Bewegung ist und damit in Gefahr. Wenn er sich auch nur ein klein wenig gehen lässt, dann gerät er notwendig ‚auf’s Schlüpfrige‘, wie Calvin sagen kann. Dabei führt die Einsicht in das stete Zurückbleiben nicht in die Lethargie, sondern in ein stetiges Neubemühen, ein semper incipere.
Nicht in Abrede gestellt werden soll, dass die Typen 1 und 2 je für sich wichtige Gedanken hervorheben. Grundlegend zur Erläuterung der Rede vom Fortschreiten in der „Institutio“ bleibt aber nach meiner Einsicht der Typ 3, denn erstens wird der Wachstumsgedanke nicht mit quantitativen Vorstellungen belastet, sondern in Grenzen gehalten, wo die Einsicht bestimmend bleibt, dass der Glaube durch die Erkenntnis des Zurückbleibens reift. Und zweitens wird diese Erkenntnis des Zurückbleibens auf alle drei Aspekte bezogen: soteriologisch als Erkenntnis des Zurückbleibens im Vertrauen auf die Verheißungen Gottes; eschatologisch als Erkenntnis des Zurückbleibens im Hoffen darauf, das alles Wachstum wirklich zum Ziel führt, und ethisch als Erkenntnis des Zurückbleibens im Handeln angesichts der Fragilität des gelebten Glaubens im Heute, Hier und Jetzt.
Es erhärtet sich also die These vom Fortschreiten im Glauben im Sinne einer Erkenntnis des Zurückbleibens.