Im Oktober 2012 kam es in der chilenischen Presse zu einem Schlagabtausch zwischen dem Kantianer Pfarrer Richard Wagner und dem Philosophieprofessor Daniel von Wachter. Ich geben den Disput mit freundlicher Genehmigung in zwei Teilen wieder. Zunächst der Beitrag von Richard Wagner:
Ein Streit um Kaisers Bart
Richard Wagner
Eine Leserbriefpolemik über den Ursprung des Lebens rauschte über längere Zeit durch den Blätterwald des Mercurio, wobei antik-mittelalterlich, also im Perfekt und Plusquamperfekt argumentiert wurde. Die Aufklärung und ihre Krönung und Überwindung durch Kant hat unsere Breiten offentsichtlich immer noch nicht erreicht. Ein Versuch meinerseits die Freund-Feind-Positionen (Thomismus und Gegenpositionen) zu überschreiten, hatten bei dieser Zeitung und ihrer weltanschaulich-kirchlichen Festlegung verständlicherweise keine Chance, Gehör zu finden.
Die Problematik Glaube (Religion) und Wissenschaft rührt meistens von unklaren Begriffen her. So wurde etwa in der genannten Polemik rührend – naiv über eine allererste Ursache, bzw. einen allerletzten Endzweck spekuliert, die Gott selbst sein sollen. Man geht von der Kausalität aus und sagt: Alles, was geschieht (Wirkung), muss eine Ursache haben. Dann aber postuliert man eine erste, nicht mehr verursachte Ursache, womit man sich in Widerspruch zur eigenen Definition von Kausalität begibt. Nun gut, könnte man folgern, dann soll es eben keine erste (!!) Ursache geben, sondern die Kausalkette soll ins Unendliche zurück verlaufen. Das geht aber auch nicht: Dann müsste ja eine Ursache vor UNENDLICHER Zeit stattgefunden haben. Ihre Wirkung folglich aber ebenfalls. Dasgleiche gilt wiederum für deren Wirkung usw. und – siehe da! – wir kommen nie an unsere Gegenwart heran, als gegenwärtiges Geschehen. Eine „unendliche Zeit“ ist ausserdem ein hölzernes Eisen oder ein quadratischer Kreis: ein Widerspruch.
Was nun? Wir müssen einen Denkfehler begangen haben. Das haben wir auch! Was immer die Kausalität auch sein mag, – und das müsste doch zuallererst durchdacht werden, statt es naiv vorauszusetzen und mit ungeklärten Begriffen herumzujonglieren –, sie ist in erster Linie eine Weise, wie wir Menschen unsere Erfahrungswelt und deren Daten ordnen, um einen verstehbaren Zusammenhang in sie zu bringen. Kant spricht deshalb von einer Verstandeskategorie. Folglich dürfen wir sie zurecht auf unsere Erfahrungswelt anwenden, wir dürfen aber diese Welt der Erscheinungen (Empirie) nicht spekulativ überschreiten. Tun wir es dennoch, kommt es unweigerlich zu heillosen Widersprüchen (Antinomien und Paralogismen) Es geht also um eine Disziplin und Sauberkeit des Denkens. Ist eine zurücklaufende Kausalkette, die in EINER Ursache enden soll, nicht ein Phantasiegebilde? Jedes Ereignis (Wirkung) verdankt sich doch VIELEN und manigfaltigen Bedingungen, Bündel von Ursachen, die sozusagen nach allen Seiten auseinander- und zurücklaufen, so dass die angeblichen „Ketten“ sich nicht verringern, sondern zunehmen, multiplizieren und eventuell in eine Unzahl „erster Ursachen“ auslaufen. Zweifellos kein befriedigendes Ergebnis! Ist die erste Ursache Gott, dann ist ihr Effekt ja auch göttlich, usw. Der Pantheismus war auch nicht beabsichtigt, oder?
Die Naturwissenschaft bedient sich ihrer eigenen Forschungsmethoden und Fragestellungen, worüber Epistemologen wie Karl Raimund Popper u.a. gründlich nachgedacht haben. Auch sie sollte man zur Kenntnis nehmen! Die Wissenschaft erforscht die empirisch entdeckbaren und nachweisbaren Zusammenhänge, wobei freilich auf Fakten gleicher Art zurückgeschlossen werden darf (Big-Bang, usw.) So bildet die Wissenschaft Hypothesen und Theorien, die den von Kant abgesteckten Aktionsraum unseres Verstandes nicht überschreiten dürfen noch können.
Derselben Nüchternheit und Selbstbegrenzung muss sich auch die Theologie befleissigen, wenn sie nicht die bedauernswerten und peinlichen Fehler der Vergangenheit wiederholen will (Galileo Galilei, Charles Darwin, usw.) Spreche ich von Gott dem Schöpfer, so beschreibe ich keine INNERWELTLICHE, physikalische, astronomische, chemische, biologische Zusammenhänge, sondern ich qualifiziere das VERHÄLTNIS der Welt und meines Daseins zu Gott. Zur Veranschaulichung: Ich kann mein Kind oder Enkel anatomisch, psychologisch, soziologisch, etc. analysieren und komme dabei zu durchaus berechtigten Ergebnissen. Nun aber füge ich hinzu: „Und dieses Kind ist MEIN Kind, das ich lieb habe.“ Für das Kind mag das letzlich nicht so entscheidend sein, wohl aber für die Welt und jeden für uns: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“ (Jesaja 43, 1).
Die Qualifizierung der Welt und meiner selbst als „Geschöpf Gottes“ spricht von unserem Ursprung, Wert und Sinn. Ich „verdanke“ mich Gott, bin ihm „verpflichtet“, darf ihm vertrauen und auf ihn hoffen. Dass ich sein „Geschöpf“ und „Kind“ bin, sagt aber garnichts aus über meinen Knochenbau, die Organization meines Nervensystems, meine embryonale Entwicklung im Mutterleib (Ontogenese) oder meine entsprechende Jahrmillionen währende Stammesgeschichte (Filogenese). Aus dem Schöpfungsglauben lässt sich nicht eine einzige Aussage naturwissenschaftlicher Art ableiten. Das ist doch evident und völlig einsichtig. Genauso unmöglich und unzulässig ist der Überschritt in umgekehrter Richtung: der Versuch, aus naturwissenschaftlichen Aussagen spekulativ meta-wissenschaftliche Folgerungen (Metaphysik, Religion) zu ziehen. In beiden Fällen begeht man unglaublich grobe Denkfehler.
Natürlich hat der Wissenschaftler, sofern er ein Christ ist, als Mensch das Recht, hinter den Wundern des Lebens einen Entwerfer oder Architekten zu ahnen oder zu spüren, so wie der Wissenschaftler, der Atheist ist, den ebenfalls persönlichen Eindruck gewinnen darf, dieser Gott sei abwesend, bzw. nicht existent. Beide Vermutungen, genauer: Anmutungen, Ahnungen, Empfindungen, Gefühle sind erlaubt und legitim, sofern sich ihre jeweiligen Vertreter bewusst sind, dass sie dabei das wissenschaftliche Feld verlassen haben, so dass ihre diesbezüglichen Äusserungen wissenschaftlich unverbindlich sind. Ich plaudere wohl nur ein offenes Geheimnis aus, wenn ich behaupte, dass sowohl der Atheist wie der Christ, ihre jeweilige Überzeugung schon VOR aller wissenschaftlichen Tätigkeit im Herzen trugen und es nur noch zusätzlich zu bestätigen wünschten. Vom „Schöpfer“ erfährt auch der christlich gesinnte Wissenschaftler aus einer ganz andern Quelle als seiner Wissenschaft, nämlich aus Gottes Offenbarung, aus seinem „Wort“.
Solange wir keine allgemein überzeugende philosophische Metaphysik besitzen , und die haben wir nicht, – die vergangene, bzw. ihre dogmatischen, vor kritischen Reste hat Kant zertrümmert –, ist eine Polemik über Letzerklärungen des Universums und des Lebens wahrhaftig ein aussichtsloser Streit um Kaisers Bart.
Richard Wagner, Pastor emeritus
Die Aufklärung und ihre Krönung und Überwindung durch Kant hat unsere Breiten offentsichtlich immer noch nicht erreicht. Oh, das klingt etwas herablassend. Hat denn die Aufklärung nur gutes gebracht? Eher im Gegenteil, wenn man Adorno und Horkheimer glauben darf. Der Autor scheint vorauszusetzen, dass die Aufklärung durchgängig einen Fortschritt bedeutet hat. Kants Prämissen – die Vernunft sei autonom und könne neutral denken – scheint er selber nicht zu hinterfragen. Als ein Beispiel der vielen klugen Philosophen, die Kant widerlegt haben, sei hier nur der (säkulare) Philosoph Nicolai Hartmann genannt (1882-1950). Er war ursprünglich Neu-Kantianer, hat sich dann aber von diesem Denken abgewandt. Siehe Wikipedia Artikel über Nicolai Hartmann: Entgegen Kant war Hartmann der Auffassung, dass man keine voraussetzungsfreie Erkenntnistheorie aufstellen kann. Jede Erkenntnistheorie hat metaphysische Voraussetzungen. Die Sicht von Kant, dass die Vernunft autonom sei, ist einfach eine Unterstellung, eine „metaphysische Voraussetzung“, die er aus der Aufklärungs-Vernunfts-Begeisterung übernommen hat und nicht kritisch hinterfragt war. Insofern war die „Kritik der… Weiterlesen »
Sind die Gottesbeweise z.B. des Thomas durch Kant als undurchführbar erwiesen worden? Das ist nach Kant Mainstream-Denken geworden, sogar weit über die Philosophie hinaus. Stutzig machen sollte uns aber, daß heute nur noch wenige an wesentlichen Denkvoraussetzungen Kants festhalten. Ich selbst habe meine Magisterarbeit über Kant geschrieben. Versucht man Kant an entscheidenden Passagen wirklich argumentativ „zu packen“, stellt man in der Tat einige recht problembehaftete Voraussetzungen fest. Zentral sind Kants Begriffe synthetischer Urteile a priori, der Notwendigkeit, Objektivität bzw. Allgemeingültigkeit, welche in unserem (menschlichen!) „Gemüth“ ihre Ort und Ursprung haben. Kant würde damit, stringent gedacht, in einem ausweglosen Subjektivismus (z.B. KrV B145/146) enden. Produktiv gewendet: Kant leistet hier de facto (nolens oder doch volens?) eine kraftvolle Widerlegung naturwissenschaftlicher Erkenntnisansprüche! Will man dabei nicht in einen totalen Erkenntnisskeptizismus verfallen, muß man die Gültigkeit z.B. des Kausalitätsprinzips auch außerhalb der Erfahrung voraussetzen – ohne apodiktische Gewissheit, dafür aber bestenfalls mit extrem großen Wahrscheinlichkeiten. Kants Aussage, daß die (theoretische) Vernunft „niemals über das… Weiterlesen »