Antisemitismus

Karl Barths Antisemitismustheorie

Andreas Pangritz beschreibt in seinem Buch Die Schattenseite des Christentums: Theologie und Antisemitismus (2023, S. 166–167) Karl Barths Versuch, den Antiseminitismus zu erklären: 

Der Abschnitt über die Bibel als jüdisches Buch in den Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik (KD I/2) enthält auch eine theologische „Erklärung“ des Antisemitismus, die man als Barths Antisemitismustheorie bezeichnen kann. Einerseits grenzt sich Barth deutlich von der liberalen Kritik am Antisemitismus ab, die er als ohnmächtig empfindet, andererseits verstrickt er sich seinerseits in Ambivalenzen, die als Relikte der „Lehre der Verachtung“ gelten müssen.

Barth insistiert darauf, dass „der Antisemitismus in seiner ganzen Torheit und Bosheit“ nicht auf bloßer „Laune und Willkür“ beruhe, so dass er „durch ein bißchen Ermahnung zur Humanität“ wirksam bekämpft werden könne, „wie seine liberalen Kritiker meinen“. Vielmehr sehe und meine der Antisemitismus durchaus „etwas ganz Reales, das der ganze Liberalismus tatsächlich nicht gesehen hat“. Und dieses Reale sei eben der „natürliche Gottesbeweis“, den die „Existenz des jüdischen Volkes in der Mitte aller anderen Völker“ bedeute (KD I/2, 566f.).

Anders als die liberale Kritik des Antisemitismus, die sich mit dem Hinweis darauf begnügt, dass die Juden doch auch Menschen sind und als solche toleriert werden sollten, betont Barth die Differenz zwischen Juden und Nicht-Juden, die auf der Partikularität des göttlichen Erwählungshandelns beruhe. Die Universalität der Humanität ist in theologischer Perspektive nicht jenseits der Besonderheit des Judentums, sondern nur durch diese hindurch erschwinglich. So bedeutet die Tatsache, dass die Bibel ein „jüdisches Buch“ ist, nach Barth in der Tat eine „Zumutung“ (KD I/2, 566), sofern sie die Nichtjuden herausfordert, die Bibel nicht nur als ein Stück Weltliteratur, sondern als Gottes Wort für die ganze Menschheit anzuerkennen. Es geht Barth hier darum, die Alterität des Fremden zu akzeptieren; doch droht die Argumentation in Abwehr des Fremden umzukippen, wenn es wenig später heißt: „Darum regt sich etwas von Befremden in jedem Nichtjuden gegenüber ausnahmslos jedem, auch dem besten, dem feinsten, dem edelsten Juden“ (KD I/2, 567).

In äußerster Zuspitzung fragt Barth schließlich: „[…] wie kann der Mensch, wenn die liberale Lösung, die keine ist, ausfällt, nicht Antisemit sein?“ Und er gibt die Antwort: „Es bedarf gerade von dieser Seite gesehen wirklich des Wunders des Wortes und des Glaubens dazu, daß der Anstoß falle, die Perversion überwunden, der Antisemit in uns Allen erledigt, das Menschenwort, das Judenwort der Bibel als Gotteswort gehört, zu Herzen genommen werde“ (KD I/2, 568). Der Antisemitismus erscheint hier letztlich als der Versuch des gottlosen Menschen, im Kampf gegen das jüdische Volk zugleich die Existenz Gottes zu bestreiten. Antisemitismus ist insofern Ausdruck der Sünde, die letztlich nur durch das Wunder des Glaubens überwunden werden kann.

Schweigen, wo es laut sein müsste

Fast die gesamte deutsche Filmbranche ignoriere den neuen Fünf-Punkte-Plan gegen Antisemitismus, kritisiert Produzent Martin Moszkowicz. Obwohl Sensibilität gegenüber Minderheiten verlangt werde, nehme er bei Angriffen auf Juden ein „irritierendes Schweigen“ wahr.

In der FAZ schreibt er (19.09.2025, Nr. 218, S. 15):

Natürlich stehen viele deutsche Juden hinter Israel und seinem Existenzrecht. Doch wie in Israel selbst gibt es auch hier eine große Bandbreite politischer Positionen – von linken Regierungskritikern bis hin zu ultraorthodoxen Gruppen, die dem Staat Israel distanziert oder ablehnend gegenüberstehen. Antisemitismus aber macht diese Unterschiede irrelevant. Er trifft nicht „die israelische Regierung“. Er trifft Menschen. Juden. Unabhängig davon, wie sie politisch denken. Wer antisemitische Angriffe relativiert, weil sie angeblich „nur Israel“ gelten, verkennt diese Realität – und macht sich mitschuldig.

Der Fünf-Punkte-Plan endet mit einem Satz, der nicht deutlicher sein könnte: „Verantwortung zeigt sich nicht in Absichtserklärungen – sondern in Taten.“ Die erste, einfachste Tat wäre das Unterzeichnen. Jede Hochschule, jeder Berufsverband, jeder Sender, jede Produktionsfirma könnte es noch heute tun. Dass dies bislang nicht geschieht, verweist auf ein tiefgreifendes Problem. Eine Branche, die sonst lautstark Diversität und gesellschaftliche Verantwortung fordert, schweigt, wenn es um den Schutz jüdischen Lebens geht. Illouz liefert dafür eine bittere Erklärung: Es ist bequemer, sich im selbstgerechten moralischen Diskurs einzurichten, als sich offen und unmissverständlich gegen den ältesten Hass der Welt zu stellen.

Anstieg antisemitischer Taten um 77 Prozent

Im vergangenen Jahr ist es in Deutschland zu mehr als 8600 antisemitischen Vorfällen gekommen. Dies entspricht einem Anstieg um 77 Prozent im Vergleich zum Jahr 2023. Theresa Weiß kommentiert diese Entwicklung für die FAZ (05.06.2025, Nr. 129, S. 2):

Eine Frau liest an einem Bahnhof in Sachsen etwas in hebräischen Schriftzeichen auf ihrem Handy und bekommt von einer Gruppe, die das im Vorbeigehen erkennt, zu hören: „Ich dachte, wir hätten die alle vergast!“ Ein Paar wird auf einer Kundgebung gegen eine antisemitische Demonstration in Hessen bespuckt und als „Scheißjudenpack“ beschimpft. Der jüdische Student Lahav Shapira wird in Berlin von einem Kommilitonen brutal zusammengeschlagen und noch getreten, als er am Boden liegt. All diese Fälle hat die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) in ihrem Jahresbericht zusammengetragen. Sie bilden ab, wie sich Antisemitismus in Deutschland 2024 geäußert hat. Und sind doch nur einige wenige von Tausenden Beispielen.

Die Zahl der antisemitischen Vorfälle ist RIAS zufolge von 2023 auf 2024 um 77 Prozent gestiegen. Das geht aus dem am Mittwoch veröffentlichten Bericht hervor, den Vertreter der Organisation gemeinsam mit dem Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Felix Klein, in Berlin vorstellten. Klein nannte die Zahlen aus dem Bericht „schockierend“. Benjamin Steinitz, Geschäftsführer von RIAS, sagte: „Nie zuvor wurden uns in einem Kalenderjahr mehr gegen Jüdinnen und Juden gerichtete Angriffe bekannt als im vergangenen Jahr.“ Mit dem „anhaltenden Krieg in Gaza und dem unerträglichen Leid der Zivilbevölkerung“ sei die Unterstützung für Israel erodiert, auch deutsche Juden würden „in Haftung genommen“.

Wie sich an Amerikas Elite-Universitäten Antisemitismus ausbreitete

An vielen Elite-Universitäten in den USA und auch in Deutschland hat man über Jahre zugelassen, dass Antisemiten mehr und mehr an Einfluss gewinnen konnten. Christine Brinck erklärt:

Die intellektuelle Integrität der Universität ist in den letzten 20 Jahren allzu oft auf dem Altar der Ideologien geopfert worden. Administrationen wurden aufgebläht mit Politkommissaren, die für ethnische Buntheit und Bevorzugung nichtweißer Gruppen zuständig waren und sexuelle Belästigung ahnden sollten. Der Antisemitismus reckte sein hässliches Haupt. Rassismus, Dekolonisierung und Weiße Vorherrschaft gerieten ins Zentrum der Lehre. Über Jahre waren gewaltige Summen aus arabischen Ländern, vor allem aus Katar, in die Nahost-Institute geflossen, und mit den Geldern kamen israelfeindliche Curricula und arabische Studenten, welche als Führungskader fungierten.

Bei der Anhörung im US-Kongress zu den Vorgängen demontierten sich die Präsidentinnen von Harvard und Pen selbst. Verstieß denn nicht der Aufruf zum Genozid an Juden gegen die Regeln der Universität? Gewunden antworteten sie: Das hänge vom „Kontext“ ab. Den Uni-Vorständen blieb nichts anderes übrig, als die beiden zum Rücktritt zu drängen.

Ein Blick nach Deutschland. Hierzulande haben viele Uni-Verwaltungen auch nicht gegen den Antisemitismus im Gewande des „Antizionismus“ durchgegriffen. Erst als die Gewalt überkochte, begann man, das Hausrecht durchzusetzen. Nach der Vandalisierung des Emil-Fischer-Hörsaals an der Humboldt-Universität wurde die Polizei gerufen. Die Zerstörungswut der Studenten war die Antwort auf die Ausweisung von vier ausländischen Aktivisten, die 2024 das FU-Präsidium besetzt hatten.

Der neueste Antisemitismus-Report von Harvard räumt nun vorsichtig jahrelange Fehlentwicklungen ein: sinkende intellektuelle Standards, ein von Vorurteilen gesteuertes Curriculum und eine gewisse „Faulheit“, jüdische oder israelische Perspektiven im Kontext des Israel-Palästina-Konflikts zu berücksichtigen. Manche Abteilungen opferten historische Fakten der politischen Agenda. Ein Professor leugnete gar, dass Juden irgendeine historische Beziehung zum Land Israel hätten.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.welt.de.

Das mysteriöse Schweigen von Papst Pius XII.

Tausende von Menschen baten den Papst im Zweiten Weltkrieg, gegen das Unrecht der Nazis Stellung zu nehmen. Alle wurden mit der gleichen Antwort abgefertigt. Hubert Wolf fasst für die NZZ die neuesten Erkenntnise zum Schweigen des Vaticans in der Judenfrage zusammen. In dem Artikel „Papst Pius XII. wusste Bescheid über die Shoah – und schwieg: Jetzt zeigen die vatikanischen Archive, weshalb“ heißt es: 

Alle Versuche, das Schweigen Pius’ XII. mit seinem mangelnden Wissen über den Holocaust zu entschuldigen, werden durch die vatikanischen Akten eindeutig widerlegt. Der Papst war auf dreifache Weise über die Entwicklung der Judenverfolgung in Europa genau informiert.

Erstens durch Hunderte von Berichten seiner diplomatischen Vertreter aus den einzelnen Ländern, den Nuntien und Delegaten. Zweitens durch rund 10 000 bisher unbekannte Bittschreiben jüdischer Menschen aus ganz Europa von 1939 bis 1945, die Pius XII. um Hilfe baten und ihre Not und Verfolgung minuziös schilderten – und denen Papst und Kirche tatsächlich nicht selten zu helfen versuchten. Und schliesslich durch ein geheimes jesuitisches Informationsnetzwerk, dessen Fäden beim Geheimsekretär des Papstes, dem Jesuiten Pater Robert Leiber, zusammenliefen. Er legte die entsprechenden Schriftstücke im Privatarchiv von Pius XII. ab.

Hier findet sich auch ein Brief von Leibers Ordensbruder Lothar König vom 14. Dezember 1942, in dem es heisst: «Die letzten Angaben über ‹Rawa Ruska› mit seinem SS-Hochofen, wo täglich bis zu 6000 Menschen, vor allem Polen und Juden, umgelegt werden, habe ich über andere Quellen bestätigt gefunden. Auch der Bericht über Oschwitz (Auschwitz) bei Kattowitz stimmt.»

Ende 1942 wusste der Papst also Bescheid über die Existenz der Massenvernichtungslager Belzec und Auschwitz. König konnte Angaben, die er in einem früheren, leider nicht erhaltenen Brief an Leiber gemacht hatte, bestätigen. Im Winter 1942/43 wurde die «Endlösung» der Judenfrage im Vatikan schreckliche Gewissheit. In einer internen Notiz des Staatssekretariats vom 5. Mai 1943 kann man lesen: «Juden. Schreckliche Situation.» Von den ehemals 4,5 Millionen Juden in Polen seien nur noch 100 000 am Leben. Und es wird klar festgehalten: «Spezielle Todeslager in der Nähe von Lublin (Treblinka) und bei Brest-Litowsk.»

Warum also schwieg Papst Pius XII.?

Das Schweigen zum Genozid an katholischen Polen lässt sich dezidiert nicht mit einem «Antisemitismus» von Pius XII. erklären. Es muss andere Gründe haben. Diese erhellen aus innervatikanischen Diskussionen, die sich in internen Aktennotizen niedergeschlagen haben: Der Papst wollte über den Parteien stehen und strikte Neutralität wahren, zumal er nach seinem Selbstverständnis als «Padre comune» für Katholiken auf allen Seiten der Fronten da sein musste.

Er fürchtete, seine Äusserungen könnten von einer Kriegspartei instrumentalisiert werden. … Ein weiterer Grund, der in den Quellen zumindest immer wieder angedeutet wird, lautet: Öffentliche Proteste des Papstes machten die Lage der Juden, die sich in der Hand der Nationalsozialisten befanden, nur noch schlimmer und päpstliche Hilfe im Verborgenen auch im Einzelfall noch viel schwieriger.

Mehr: www.nzz.ch.

Für jüdische Studenten wird es in Deutschland eng

Heike Schmoll liefert einen Lagebericht über den Antisemtismus an den deutschen Hochschulen. Die Situation darf nicht mehr beschönigt werden. Vielmehr muss gehandelt werden. Zu dieser Einschätzung kommen das Ramer Institute for German-Jewish Relations des American Jewish Committees Berlin (AJC Berlin) und die Jüdische Studierendenunion Deutschland (JSUD) in ihrem am Donnerstag in Berlin veröffentlichten Lagebericht „Antisemitismus an Hochschulen“. Am Schlimmsten ist die Lage übrigens in Berlin, einer links-grünen Hochburg. 

Hier: 

Es gebe kaum noch einen universitären Raum, der frei von antisemitischer Gewalt sei, die Betroffenen isolierten sich zunehmend und mieden den universitären Raum. Zufällige Begegnungen, Freundschaften, Hochschulgruppen oder Bekanntschaften seien für jüdische Studenten ausgeschlossen. Seit dem 7. Oktober 2023 befinden sie sich nach eigenem Bekunden in einer „Ausnahmesituation“. Häufig könnten sie nicht einmal die Universität betreten, ohne mit antisemitischen Schmierereien konfrontiert zu werden. Allein im Jahr 2023 haben die Meldestellen von RIAS 151 Vorfälle an Hochschulen dokumentiert, drei Viertel davon nach dem 7. Oktober. Davon betroffen waren 38 Juden oder Israelis.

Für 2024 gibt es noch keine belastbaren Zahlen, doch keine Anzeichen dafür, dass die Vorfälle abgenommen haben. Im Jahr 2021 waren es noch 16 Vorfälle, die als antisemitisch bewertet wurden, im Jahr 2022 insgesamt 23. Erfasst werden nur Vorfälle am Campus selbst, antisemitische Beleidigungen und Bemerkungen in Chatgruppen, auf Onlineseiten sind gar nicht erfasst. Als traurige Höhepunkte werden der gewaltsame Angriff auf den jüdischen FU-Studenten in Berlin genannt, der dabei schwer verletzt wurde, sowie die Hörsaalbesetzungen an FU und Alice Salomon Hochschule.

An der TU Berlin haben Unbekannte einen Schornstein und eine Wolke mit einer Israelfahne an eine Wand gezeichnet und dazu geschrieben: „Sechs Millionen waren nicht genug“. Veiler meinte, Berlin sei bisher sicher ein „Hotspot“ antisemitischer Vorfälle an Hochschulen gewesen. Die FU Berlin könne die Bezeichnung „Freie“ in ihrem Namen streichen, jüdische Studenten könnten sich dort nicht mehr frei bewegen.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.faz.net.

Folgen der Vergessenheit

Heike Schmoll bringt den wachsenden Antisemitismus auch mit der Geschichtsvergessenheit in Verbindung, die inzwischen an den Schulen zur Selbstverständlichkeit geworden ist. In Berlin und in Hamburg ist die Lage besonders schlimm. „Gerade für Schüler aus Familien mit Migrationsgeschichte wäre der Geschichtsunterricht eine Gelegenheit, nicht nur das Juden- und Christentum besser zu verstehen, sondern auch die Geschichte des Einwanderungslandes zu begreifen.“ Aber in der 5. und 6. Klasse der Grundschule und in den anderen weiterführenden Schularten wird nur noch das Mischfach Gesellschaftswissenschaften unterrichtet, das Geschichte, Geographie, Politik und Ethik umfasst.  

Sie schreibt (FAZ vom 01.12.25, Nr. 48, S. 57):

Am auffälligsten, so die Fachwissenschaftler in ihrer Kritik, sei die fehlende Grundeinführung in die Geschichte der Religion. In den wählbaren Vertiefungsmodulen im ersten Halbjahr war Religion bisher nur noch als Teil des Oberthemas „Umbrüche, Transformationen und Krisen“ in den Blick gekommen. Bei der Vormoderne wurden als mögliche Schwerpunkte „Entstehung und Ausbreitung des Islams“ und „Die Reformation im Europa als Ausgangspunkt für Transformation“ genannt. Die Weichenstellung für die erste radikale Transformation, die im spätrömischen Reich einsetzende Verbindung von Staat und christlicher Religion, die in Byzanz und im Westen über mehr als ein Jahrtausend fortgesetzt wurde, wurde dagegen nicht einmal auf dem Gymnasium eingeführt. Das bedeutet, dass die historischen Grundlagen aller drei abrahamitischer Religionen ausfallen. Das ist umso fataler, als es in Berlin auch keinen Religionsunterricht als Wahlpflichtfach wie in anderen Bundesländern gibt. Die derzeitige Berliner Koalition wollte ihn laut Koalitionsvertrag einführen, doch daran hat von Anfang an niemand geglaubt. Inzwischen spricht niemand mehr davon.

Für eine respektvolle Interaktion von Schülern unterschiedlicher Herkunft und die Entwicklung ihrer historischen Identität sind solche Grundlagen allerdings unerlässlich. Historische Kenntnis allein wird nicht ausreichen, um antisemitische Gesinnungen zu verhindern, aber politische Bildung auch nicht. Es tut sich eine riesige Kluft zwischen den Sonntagsreden mit dem gemeinsamen Kampf gegen Antisemitismus gerade an Schulen mit mehrheitlich muslimischer Schülerschaft und der schulischen Wirklichkeit auf.

Aus der jüngsten Shell-Studie geht hervor, dass die Gottesfrage für Jugendliche mit christlichem Hintergrund dramatisch abfällt (auf 38 Prozent), bei muslimischem aber konstant hoch bleibt (72 Prozent). Über die Qualität der religiösen Unterweisung wird man andernorts Rückschlüsse ziehen müssen, aber der Befund als solcher ist Anlass genug, das Wissen über Christentum und Judentum gerade bei Kindern aus Migrantenfamilien, aber auch bei den vielen Agnostikern zu vertiefen. Genau das geschieht an den Schularten unterhalb des Gymnasiums in Berlin genauso wenig wie eine Unterweisung in der älteren und mittleren Geschichte.

Ein bedrohlicher Teufelskreis für Juden unter uns

Jüdische Eltern schicken ihre Kinder wieder auf jüdische Schulen und sorgen sich um ihre Sicherheit. Die Öffentlichkeit nimmt das einfach hin, als traurige Normalität. Heike Schmoll kommentiert die Entwicklung mit besorgten und zugleich klaren Worten: 

Jüdische Eltern haben vielerorts ihre Kinder von allgemeinen Schulen genommen und sie auf jüdische Institutionen geschickt, wo die Kinder gut bewacht hinter Mauern und Zäunen mit anderen jüdischen Kindern lernen. Nicht selten werden sie von den Eltern abgeholt, weil sie nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren sollen.

Jüdische Symbole werden nicht mehr offen getragen, es werden keine jüdischen Lieder gesungen, wenn andere zuhören können, und schon gar nicht wird Hebräisch gesprochen. Wie lange will die Öffentlichkeit hinnehmen, dass Juden sich wieder verstecken und in ständiger Angst leben müssen? Der Teufelskreis der Sicherheit statt Sichtbarkeit muss jetzt durchbrochen werden, weil es um die Zukunft des Zusammenlebens geht.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.faz.net.

Das Gerücht über die Juden

Boris Schumatsky ist in Moskau aufgewachsen und lebt als Schriftsteller und Publizist in Berlin. Er hat für die NZZ ein Essay verfasst, indem er berschreibt, wie er den Antisemitismus von Stalin, Judith Butler, Greta Thunberg oder Malcolm Ohanwe wahrnimmt.

Theodor Adorno nennt den Antisemitismus „das Gerücht über die Juden“, denn er ist mehr als nur Hass gegen Fremde, sondern ein Narrativ, eine Erzählung aus Worten, die töten. Diese Erzählung ist endlos, hier nur eine Kostprobe davon, was ich nach dem Massaker höre:

Ich höre Judith Butler. Sie hatte schon 2006 die Hamas und den Hizbullah zu einem „Teil der progressiven Linken“ erklärt. Heute sagt sie in einem Interview mit „Democracy Now“, es handle sich um keine Terroristen, sondern um „bewaffneten Widerstand“. Das ist inhuman, aber nicht antisemitisch. Butler sagt, Israels Krieg gegen die Hamas sei ein Genozid, auch wenn er anders aussehe als der Holocaust. Israel töte gezielt Menschen, die einer „rassischen“ Gruppe angehörten. Die Zivilisten in Gaza werden von israelischen Bomben getötet, von der Hamas als Schutzschilde benutzt und von Butler rhetorisch missbraucht, um das Gerücht zu verbreiten: Die blutrünstigen Israeli seien die Nazis von heute. Das ist die alte Ritualmordlegende, nur modernisiert, das ist Antisemitismus.

Ich lese Malcolm Ohanwe. Der deutsche Fernsehmann schreibt, das Massaker sei die Antwort auf die „masslose und willkürliche Gewalt“ der Israeli. Das ist keine neue Logik, schon die Shoah wurde oft als Reaktion auf den „jüdischen Bolschewismus“ bezeichnet und damit entschuldigt. Ohanwe steht in der alten Tradition, die Juden für ihr Leid verantwortlich zu machen. Das ist Antisemitismus.

Ich sehe, wie Greta Thunberg in einem Post eine proisraelische Weltverschwörung der Medien unterstellt und für einen Account wirbt, der Israel des Genozids in Gaza beschuldigt. Vielen ist in Thunbergs Posting eine Stoff-Krake aufgefallen, der Code für jüdische Weltregierung. Die Aktivistin sagt, sie habe das nicht gewusst, und vielleicht wusste sie auch nicht, welche antisemitischen Quellen sie Millionen ihrer Fans empfahl. Aber was sie weiss oder nicht weiss, ist irrelevant, es zählt, was sie tut. Shares sind Taten, „dog whistles“, die versteckten Codes, sind Taten, und all das ist Antisemitismus.

Mehr hier: www.nzz.ch.

Antisemitismus als „Dekolonisierungstool“

Politiker, Medien sowie gewöhnliche Bürger sind darüber überrascht, dass Linke sich in den letzten Tagen eindeutig auf die Seite der Palästinenser oder gar der Hamas gestellt haben. Wie ist es möglich, dass genau jene Gruppen, die seit Jahren nachdrücklich vor einem rechten Antisemitimus warnen, jetzt auf der Seite derer stehen, die Israel mit unvorstellbarer Brutalität überfallen haben? 

Das kommt nicht aus dem Nichts. Viele Linke hegen schon lange gewisse Sympathien mit dem palästinensischen Befreiungskampf. Der Siegeszug gegen „den Westen“ wird in den Zusammenhang einer größeren Revolution gestellt. Die Adorno-Preisträgerin Judith Butler, die übrigens selbst Jüdin und zudem Pazifistin ist, hat bekanntlich einmal gesagt, dass Hamas und Hisbollah als Teil der globalen linken Bewegung zu sehen seien.

Der Historiker Vojin Saša Vukadinović erklärt erfreulicherweise in einem Beitrag für die linke Wochenzeitung JUNGLE WORLD, dass für Teile der Linken dieser Kampf gegen Israel eine konsequente Umsetzung der sogenannten „Dekolonisierung“ ist. Er schreibt: 

Was der Imperativ „decolonize!“, der seit einigen Jahren nicht nur den identitätspolitischen Aktivismus befeuert, sondern in Windeseile von den hiesigen Geistes- und Sozialwissenschaften adaptiert worden ist, in Bezug auf Israel meint, hat die Hamas am 7. Oktober demonstriert. Die universitäre Anhängerschaft dieses Kampfbegriffs bemüht sich nun um Schadensbegrenzung. Zwar dürfte sie in den kommenden Monaten versuchen, sich aus der Affäre zu winden, doch daran, was dieser neumodische wie gesellschaftlich akzeptierte antisemitische Code meint, gibt es keinen Zweifel mehr. Wer ihn verwendet, bezieht Position.

Wenige sind dabei so ehrlich wie Najma Sharif, eine US-amerikanische Influencerin, die für die TeenVogue und In Style schreibt. Noch am Tag des Pogroms setzte sie einen Tweet ab, in dem es hieß: „Was dachtet Ihr alle denn, was Dekolonisierung bedeutet? Vibes? Seminararbeiten? Essays? Loser.“ Der Zuspruch für diese unverhohlene Bejahung des Massenmords lag in kürzester Zeit im sechsstelligen Bereich. Höhnend legte Sharif noch nach: „Wenn ‚nicht so‘, wie denn sonst. Zeigt’s uns lol.“

Statt darüber nachzudenken, in welchem Verhältnis ihr Weltbild und ihr Jargon zum Massaker stehen könnten, sind die Verfechterinnen und Verfechter des Dekolonisierungsgedankens nun bestrebt, diesen zu retten. So behauptete Vanessa Thompson, die vor einigen Jahren an der Goethe-Universität Frankfurt am Main lehrte, nun Professorin an der Queen’s University in Kanada ist und einen deutschsprachigen Reader zu Abolitionismus herausgegeben hat, auf Twitter, dass „das, was passiert“, das „unmittelbare Resultat von Besatzung und Landraub“ sei. Während diese Umschreibung des palästinensischen Überfalls zeigt, dass Thompson ein objektiver Begriff für den Terror nicht über die Tastatur geht, integriert sie ihn umgekehrt sehr flott: Es sei „abstoßend“, dass Menschen die israelischen Opfer betrauern, nicht aber den „Massenmord an den Palästinensern“. 

Auch Frédéric Schwilden hat für DIE WELT diesen Zusammenhang beobachtet, wenn er schreibt: 

Dass es diese Menschen gibt und gab, das wusste ich. Aber dass es so viele sind, macht mich ratlos. Und noch ratloser sollte uns machen, dass diese Menschen in ihrem Sein sogar systemisch unterstützt worden sind und noch werden. Die Bundesregierung fördert stolz jedes Projekt, dass irgendwas mit „Intersektionalität“ und „Postkolonialismus“ im Namen trägt. Und da sind nicht die jungen Männer, die auf der Straße rauchen, oder die Muttis am Gemüsestand. Das sind die akademischen Weißbrote. Aber sie sind der intellektuelle Nährboden, der diese Leute ermutigt, der denen, wie es dann so oft heißt, „eine Stimme“ gibt.

Höhepunkt dieser Haltung war eine Documenta, bei der ein indonesisches Kollektiv aus post-kolonialer Perspektive Karikaturen in Kassel auf- und erst nach großen Protesten wieder abhängte, auf der Juden unter anderem mit SS-Runen im Gesicht oder mit Schweinenasen gezeigt wurden. Die Hamburger Kunsthochschule fand das so überzeugend, dass sie zwei Männern des indonesischen Kuratoren-Kollektivs der Documenta eine Gastprofessur gab.

Die beiden Professoren wiederum likten nach dem Terror dieser Woche einen Beitrag auf Instagram, in dem Jugendliche in Neukölln die Hamas bejubeln.

Und weiter sagt er:

Der Philosoph und Historiker Konstantin Sakkas veröffentlichte vor einiger Zeit den Text mit dem allessagenden Titel: „Die Geburt des Postkolonialismus aus dem Geist des Faschismus“. Er beschreibt das alles sehr gut. Da ist ein Diversity-besoffenes Milieu, das außer ein bisschen Judith Butler wenig gelesen und oft gar nichts verstanden hat. Und dieses Milieu hält es seit einiger Zeit für besonders progressiv, alles zu dekolonialisieren. Besonders Israel natürlich. Es sind Harvard-Absolventinnen, Menschen, die feministische Außenpolitik gut finden, die Gender- oder Postcolonial Studies studieren und sich für queeres Leben und Black Lives Matter einsetzen.

VD: JL

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