Karl Barth

Karl Barths Antisemitismustheorie

Andreas Pangritz beschreibt in seinem Buch Die Schattenseite des Christentums: Theologie und Antisemitismus (2023, S. 166–167) Karl Barths Versuch, den Antiseminitismus zu erklären: 

Der Abschnitt über die Bibel als jüdisches Buch in den Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik (KD I/2) enthält auch eine theologische „Erklärung“ des Antisemitismus, die man als Barths Antisemitismustheorie bezeichnen kann. Einerseits grenzt sich Barth deutlich von der liberalen Kritik am Antisemitismus ab, die er als ohnmächtig empfindet, andererseits verstrickt er sich seinerseits in Ambivalenzen, die als Relikte der „Lehre der Verachtung“ gelten müssen.

Barth insistiert darauf, dass „der Antisemitismus in seiner ganzen Torheit und Bosheit“ nicht auf bloßer „Laune und Willkür“ beruhe, so dass er „durch ein bißchen Ermahnung zur Humanität“ wirksam bekämpft werden könne, „wie seine liberalen Kritiker meinen“. Vielmehr sehe und meine der Antisemitismus durchaus „etwas ganz Reales, das der ganze Liberalismus tatsächlich nicht gesehen hat“. Und dieses Reale sei eben der „natürliche Gottesbeweis“, den die „Existenz des jüdischen Volkes in der Mitte aller anderen Völker“ bedeute (KD I/2, 566f.).

Anders als die liberale Kritik des Antisemitismus, die sich mit dem Hinweis darauf begnügt, dass die Juden doch auch Menschen sind und als solche toleriert werden sollten, betont Barth die Differenz zwischen Juden und Nicht-Juden, die auf der Partikularität des göttlichen Erwählungshandelns beruhe. Die Universalität der Humanität ist in theologischer Perspektive nicht jenseits der Besonderheit des Judentums, sondern nur durch diese hindurch erschwinglich. So bedeutet die Tatsache, dass die Bibel ein „jüdisches Buch“ ist, nach Barth in der Tat eine „Zumutung“ (KD I/2, 566), sofern sie die Nichtjuden herausfordert, die Bibel nicht nur als ein Stück Weltliteratur, sondern als Gottes Wort für die ganze Menschheit anzuerkennen. Es geht Barth hier darum, die Alterität des Fremden zu akzeptieren; doch droht die Argumentation in Abwehr des Fremden umzukippen, wenn es wenig später heißt: „Darum regt sich etwas von Befremden in jedem Nichtjuden gegenüber ausnahmslos jedem, auch dem besten, dem feinsten, dem edelsten Juden“ (KD I/2, 567).

In äußerster Zuspitzung fragt Barth schließlich: „[…] wie kann der Mensch, wenn die liberale Lösung, die keine ist, ausfällt, nicht Antisemit sein?“ Und er gibt die Antwort: „Es bedarf gerade von dieser Seite gesehen wirklich des Wunders des Wortes und des Glaubens dazu, daß der Anstoß falle, die Perversion überwunden, der Antisemit in uns Allen erledigt, das Menschenwort, das Judenwort der Bibel als Gotteswort gehört, zu Herzen genommen werde“ (KD I/2, 568). Der Antisemitismus erscheint hier letztlich als der Versuch des gottlosen Menschen, im Kampf gegen das jüdische Volk zugleich die Existenz Gottes zu bestreiten. Antisemitismus ist insofern Ausdruck der Sünde, die letztlich nur durch das Wunder des Glaubens überwunden werden kann.

Karl Barth: „Das Entscheidende ist das Sich-Halten an Sein Wort“

Im Rahmen von Vorbereitungen zu einer Vorlesung über Friedrich Schleiermacher und Karl Barth habe ich in den letzen Monaten kleinere und größere Portionen von beiden (und über beide) gelesen. Obwohl Kritiker sowohl der liberalen als auch der neo-orthodoxen Theologie, habe ich besonders bei Barth immer wieder erbauliche Funde gemacht. Einen will hier vorstellen:

In der Festschrit zum 70. Geburtstag beschreibt Martin Eras, wie er als katholischer Student in den 30er Jahren des 20. Jahrhundert Barths Vorlesungen an der Universität in Bonn erlebt hat. Dabei stellt er heraus, wie wichtig es Karl Barth war, dass aus seinen Studenten Prediger des Wort werden. Dogmatik sei nie Selbstzweck, sondern habe der Kirche und ihrer Verkündigung zu dienen. Barth sagte zum Umgang mit der Bibel: „Den Text nicht meistern, sondern ihm dienen!“. (Inwiefern ihm selbst das bei der Auslegung des Römerbriefs gelungen ist, mag jeder selbst beurteilen.) Dann wird eine Vorlesung beschrieben, die Barth 1934 hielt, als er schon unter höchst kritischer Beobachtung der Nationalsozialisten stand (er musste schließlich Deutschland verlassen und ging zurück in die Schweiz). Barth wollte seine Zuhörer ermutigen, auf der Kanzel Bibelausleger zu sein.

Martin Eras berichtet (Antwort, 1956, S. 875):

Der Prediger muß das schlechthinnige Vertrauen haben, daß die Bibel genügt. Die zuhörende Gemeinde liebhaben! Neben Respekt und Aufmerksamkeit für das Schriftwort Bescheidenheit (kein geschwollener Pfaffe), Beweglichkeit, Aufgeschlossenheit für den Kairos, das Entscheidende: das Gebet. „Eine gute Predigt muß auch die Gemeinde in den Duktus des Gebets hineinführen.“ „Das Ziel der Predigt sollte sein, daß die Hörer zu Hause selber nach der Bibel greifen und noch einmal sich auf den Weg begeben.“

Um rechte Prediger aus uns zu machen, hat er uns insbesondere auf die Exegese hingewiesen. So hielt er selber neben unermüdlich seinem dogmatischen Kolleg und den systematischen Seminar- und Sozietätsübungen (über CALVINS Institutio III, die Lehre von der Rechtfertigung, die Theologie der F. C., den Begriff der Theologie bei THOMAS und BONAVENTURA, AUGUSTINS Enchiridion und CALVINS Psychopannychia) immer auch eine exegetische Vorlesung. Er hat uns damals das Johannesevangelium, die Bergpredigt und den Kolosserbrief ausgelegt und, als er den Hörsaal nicht mehr betreten durfte, in der Adventszeit 1934 in seiner Wohnung Luk. 1 in „Vier Bibelstunden“ (Theol. Ex. h. Nr. 19), die er mit den Worten schloß: „Nun gebe Gott uns allen, daß wir die Weihnachtsfeier in dieser ernsten, entscheidungsvollen Zeit feiern dürfen miteinander in der Anbetung des Gottes, der es mit uns allen und mit der ganzen Welt so unendlich gut gemacht hat, wie das Evangelium es sagt und immer wieder neu sagt, und daß wir ins neue Jahr hineingehen dürfen nicht ohne zu singen und zu sagen, wie es Psalm heißt: Schmecket
und sehet, wie freundlich der Herr ist; wohl dem, der auf ihn trauet!“

Und in seiner allerletzten Bibelstunde am 10. Februar 1935, mit der er von uns und auch von Deutschland vorläufig Abschied nahm, stellte er seinen und unsern Weg und auch den der Bekennenden Kirche bußfertig unter die Herrnhuter Losung des Tages, Ps. 119, 67: „ Ehe ich gedemütigt ward, irrte ich, nun aber halte ich dein Wort“, und Jak. 4, 6: „Gott widersteht den Hoffärtigen, aber den Demütigen gibt er Gnade“, und sagte uns unter anderem: „Das Entscheidende ist das Sich-Halten an Sein Wort. Es muß jetzt viele junge Leute geben, die nicht nur großartig vom Wort Gottes reden, sondern auch das Wort ganz schlicht lesen und die nun wirklich damit umgehen. 

Karl Barth: Das Problem der absichtlichen Schwangerschaftsunterbrechung

Karl Barth schreibt in seiner Kirchlichen Dogmatik über die Abtreibung Karl Barth (KD, III, 1993, S. 473–474): 

Wir erwägen als erstes das Problem der absichtlichen Schwangerschaftsunterbrechung (abortus, Abtreibung der Leibesfrucht). Sie kommt da in Frage, wo eine Zeugung und Befruchtung stattgefunden hat, die Geburt und Existenz eines Kindes aber aus irgend einem Grunde als unerwünscht erscheint oder geradezu gefürchtet wird. Es kommen als Täter in Betracht: die Mutter, die den Akt selbst vollzieht oder doch wünscht oder doch zuläßt, allerlei ihr mehr oder weniger sachkundig beistehende Dilettanten, der wissenschaftlich und technisch geschulte Arzt endlich, als Mitverantwortliche eventuell der Vater, Angehörige oder andere Drittpersonen, die den Vollzug dieses Aktes erlauben, fordern, ermöglichen, begünstigen, in einem weiteren, aber nicht minder strengen Sinn auch die Gesellschaft, deren Verhältnisse und deren Geist direkt oder indirekt nach solchen Akten ruft, deren Gesetze sie vielleicht zulassen. Die angewendeten Mittel, unter denen es ganz primitive und relativ vollendete gibt, können bei unserer Fragestellung zunächst keine Rolle spielen. Wir haben auf alle Fälle festzustellen, daß es sich für diesen ganzen Täterkreis einwandfrei und im Vollsinn des Wortes um Tötung menschlichen Lebens handelt. Das ungeborene Kind ist nämlich vom ersten Stadium an ein Kind, ein noch keimender, noch unselbständig lebender Mensch, aber ein Mensch, kein Etwas, nicht nur ein Teil des Mutterleibes.

Der Embryo besitzt Eigengesetzlichkeit, ein eigenes Gehirn und Nervensystem, einen eigenen Kreislauf. Sein Leben wirkt auf das der Mutter ein, wie das ihrige auf das seine. Er kann seine eigenen Krankheiten haben, an denen die Mutter keinen Anteil hat. Er kann umgekehrt auch bei schwerer Krankheit der Mutter völlig gesund sein. Er kann sterben, während die Mutter weiterlebt. Er kann auch seinerseits nach dem Tode der Mutter eine Weile weiterleben und eventuell durch einen rechtzeitigen Eingriff in deren Leiche gerettet werden. Kurz: er ist ein menschliches Lebewesen für sich. …

Wir haben uns also aller weiteren Überlegung vorangehend einzuschärfen: wer keimendes Leben vernichtet, der tötet einen Menschen, der wagt also jenes wahrhaft Ungeheuerliche, über Leben und Tod fremden, mitmenschlichen Lebens zu verfügen, das Gott gegeben, das wie sein eigenes nicht ihm, sondern Gott gehört. Er will (und muß es verantworten, ob es so ist) im Auftrage Gottes handeln, indem er jedenfalls über die zeitliche Gestalt dieses mitmenschlichen Lebens mit seiner Tat das letzte Wort zu sprechen wagt. Wer immer hier direkt oder indirekt beteiligt ist, muß zweifellos das verantworten.

Wieder muß hier zuerst und vor allem das große Halt! des göttlichen Gebotes gehört werden. Ist das zu verantworten? Darf, muß das sein? Was auch gegen die Geburt und Existenz eines Kindes sprechen mag: was kann es dafür, daß es da ist? Was hat es an seiner Mutter oder an all den Anderen verschuldet, daß man ihm nun sein keimendes Leben nehmen, es mit dem Tode bestrafen will? Müßte nicht schon seine völlige Wehr- und Hilflosigkeit, müßte nicht auch die Frage: wen man da vielleicht tötet, wem man da eine Zukunft versagt, bevor er geatmet und das Licht der Welt erblickt hat, zuerst der Mutter und dann all den Anderen die Waffe aus der Hand ringen, den Willen zu ihrem Gebrauch durchkreuzen?

Karl Barth: Vorlesungsvorbereitung als Nachtschicht

Eberhard Busch, von 1965–1968 persönlicher Assistent von Karl Barth, schreibt in seiner Barth-Biographie, wie hart dieser für die Vorbereitung seiner Vorlesungen gearbeitet und gekämpft hat (Karl Barth’s Lebenslauf, 1976, S. 140–141): 

Der Schreibtisch, an dem Barth von jetzt an (bis zu seiner Emeritierung) arbeitete, war derselbe, „an dem schon mein so viel gediegenerer Vater gelebt und gearbeitet hat“. „Da gabs nun ein tage- und nächtelanges Studieren und Hin- und Herwälzen von alten und neuen Büchern, bis ich einigermaßen – ich will nicht sagen, aufs Roß, aber wenigstens auf den akademischen Esel kam, so daß ich reiten konnte an der Universität.“ Mit unerhörtem Fleiß gab sich Barth der Vorbereitung seiner Vorlesungen hin „fast immer Nachtschicht!“ „Mehr als einmal wurde das, was ich [morgens] um 7 Uhr vorbrachte, erst zwischen 3-5 Uhr fertig.“

Es war „immer etwas schneller“ zu arbeiten, „als mein natürliches Tempo wäre … Und unsere ‚komplizierenden‘, alles auf den Kopf stellenden Gesichtspunkte vereinfachen das Geschäft auch nicht: es ist ein ewiger Krieg zwischen diesen ‚Gesichtspunkten‘ und dem Stoff, der durchaus in die alte bekannte banale Form zurückschnellen möchte“‘‘. Und wie oft seufzte der junge Professor „angesichts der Türme von Stoff, die ich nicht beherrsche“!“ Wie oft klagte er darüber, „wie ich armes Maultier da im Nebel meinen Weg su muß, über allem andern auch immer noch gehemmt durch mans de gelehrte Beweglichkeit, unbefriedigende Lateinkenn schlechtestes Gedächtnis!“ „In meinem Kopf gehts zu wie in ei Hyänenkäfig vor der Fütterung.“

John Warwick Montgomery (1931–2024)

Am 25. September 2024 ist John Warwick Montgomery heimgegangen. Montgomery war nicht nur ein exzellenter Anwalt, er war vor allem ein scharfsinniger, lutherischer Apologet des christlichen Glaubens. Hohe Bekanntheit erlangte er innerhalb der christlichen Szene durch seine Konfrontationen mit Cornelius Van Til. Während Van Til als Pionier der tranzendentalen Apologetik gilt, machte sich Montgomery einen Namen als evidenzbasierte Apologet (vgl. hier).

Vor etlichen Jahren habe ich Montgomery bei der Realisation einiger seiner Buchprojekte unterstützt, darunter der Tractatus logico-theologicus, Christ as Centre and Circumference und Christ Our Advocate [#ad]. In der Zusammenarbeit mit ihm konnte ich viel lernen, vor allem Akribi.

In Erinnerung an John Warwick Montgomery möchte ich nochmals veröffentlichen (vgl. hier), wie er sich an eine Vorlesung von Karl Barth erinnerte:

Barth in Chicago

Als ehemaliges Mitglied der theologischen Fakultät der Universität von Chicago besuchte ich vom 23. bis zum 27. April 1962 die Vorlesungen und Diskussionen von und mit Karl Barth. Ich hatte beträchtliche theologische Erwartungen, verließ die Veranstaltung jedoch auf sehr zwiespältige Weise bewegt.

Positiv betrachtet kann man Barth die stärkste, klarste Darstellung des Evangeliums zuschreiben, die es an der Universität von Chicago je gegeben hat. Ohne jegliche Entschuldigung oder anspruchsvolle Sinnverschleierung predigte Barth eine treffende, auf objektive Weise Christus in den Mittelpunkt stellende Botschaft von Gottes barmherziger Annahme des sündigen Menschen durch den Tod und die Auferstehung seines Sohnes.

Eine solche Botschaft hätte in keinem größerem Kontrast zu Chicagos theoogischer Fakultät stehen können, die ihrer „Divinity School“ schon in frühen Zeiten der Universitätsgeschichte durch ihre sozialgeschichtliche Interpretationsmethode des Christentums einen Namen gemacht hatte. Diese Methode wurde hauptsächlich von Shailer Mathews, Shirley Jackson Case, G.B. Smith, und J.M.P. Smith entwickelt und vertritt im wesentlichen die Meinung, dass
„Religion vor allem ein Phänomen des sozialen Erlebens eines bestimmten kulturellen Zeitalters“ ist, so die Bescheibung eines derzeitigen Mitgliedes des theologischen Fachbereiches, Bernard Meland. Barths Auffassung zufolge, die sich durch seine Kirchliche Dogmatik hindurch zieht, dürfe man das Christentum nie als „Religion“ in diesem Sinne bezeichnen, denn letztendlich ist es nicht das Produkt sozialer Erfahrungen des Menschen, sondern vielmehr das Ergebnis des offenbar gewordenen Wirkens des Wortes Gottes. Als Antwort auf eine Diskussionsfrage, gestellt von Schubert Ogden (ehemals tätig an der SMU und nun ebenfalls an der Universität von Chicago), entgegnete Barth:

Es ist stets eine meiner primären Absichten gewesen, die Eigenständigkeit der Theologie gegenüber der Philosophie und somit auch gegenüber dem zugehörigen Feld der Religion deutlich zu machen.

In einem theologischen Umfeld, das beständig von einer Verwirrtheit im Bezug auf besondere und allgemeine Offenbarungen geprägt ist, erschien Barth wie ein wiedererstandener George Fox, der ausruft „Wehe dir, elende Stadt Chicago“.

Doch unglücklicher Weise scheint die Wirkung der Verkündigung Baths durch seine andauernde Vernachlässigung angemessener erkenntnistheoretischer Theologie teilweise zunichte gemacht. Dieses Problem wurde von Jakob Petuchowski, einem Mitglied des „Hebrew Union College“, aufgegriffen, der in aller Aufrichtigkeit fragte, ob das Herantragen des christlichen Evangeliums an die Juden nicht das Einbeziehen eben jener textuellen und historischen Annahmen fordere, die Barth für gewöhnlich als irrelevant in Bezug auf die zentrale Verkündigung des Christus abwertet. Dieser Sachverhalt wurde umso schmerzhafter deutlich, als Edward John Carnell, ein neo-evangelikaler Vertreter, folgende Frage an Barth richtete: „Inwiefern bringt Dr. Barth seinen Standpunkt, dass die Schrift das objektive Wort Gottes ist, mit seiner Annahme, dass die Schrift mit Fehlern besudelt ist, theologisch, historisch oder sachlich in Einklang?“ Barth verbat sich zu Recht den Gebrauch des Ausdruckes „besudelt“ im Bezug auf seine Position, seine Antwort griff jedoch nicht den Kern der Frage auf, nämlich den Gegenstand angeblicher „theologischer Fehler“ in der Schrift. Dass Barth genau das frei heraus anerkennt, wurde in seiner Antwort auf eine andere Frage Carnells deutlich. Carnell stellte Barths Ablehnung, die ontologische Existenz des Teufels anzuerkennen, in Frage, und bezog sich in diesem Zusammenhang auf das bekannte Zitat Billy Sundays: „Aus zwei Gründen glaube ich daran, dass der Teufel existiert: Erstens, weil die Bibel es sagt, und zweitens, weil ich schon mit ihm zu tun hatte“. Barth konterte, dass die Einstellung Jesu und der Schreiber der Evangelien hinsichtlich der Existenz des Teufels nicht Grund genug sei, diese zu bejahen; eine Aussage die ihm Applaus von Seiten der Divinity School einbrachte.

Keine 20 Minuten später jedoch stellte Barth eine sehr detaillierte (und tadellose) Analyse der exakten Bedeutung des griechischen Ausdrucks „hypotassesthai“ in Römer 13,5 vor, und deutete an, dass dieser Abschnitt das „bewusste Mitwirken an gesellschaftlichen Ordnungen“ für den Christen zur Pflicht mache. Aber wieso sollte man sich bemühen, irgendein neutestamentliches Wort auf seine vollständige theologische Bedeutung hin auszulegen, wenn die eindeutige Position des Evangeliums zur Existenz des Satans schlichtweg abgetan werden kann? In gleicher Weise bot Barth in seinem abschließenden Vortrag über den Heiligen Geist keine Erörterung der Gegenwart des Geistes dar, sondern lediglich das vage Bild „menschlicher Freiheit“, denn „der Wind weht, wo er will“. Doch der Gebrauch der physischen Analogie erfordert die Fähigkeit, objektiv zwischen einer mit Kohlenstoffdioxid durchdrungenen Atmosphäre und einer, die mit Kohlenstoffmonoxid verunreinigt, ist zu unterscheiden.

Nicht-Christen auf der Suche nach Wahrheit, die sich im akademischen Publikum befanden, konnten nicht viel anders, als daraus zu schließen, dass es letztendlich Barths persönliche Vorliebe ist, die für ihn theologische Wahrheit ausmacht – und, dass sie somit jedes Recht dazu hatten, „seine“ Theologie lediglich als eine weitere Möglichkeit unter den zahlreichen existierenden Behauptungen unserer Zeit, von Alan Watts Zen hin zu Satres Existenzialismus, zu sehen.

Barths Vorträge in Chicago wiesen dieselben Stärken und Schwächen auf, die sich auch in seinem epochalen Kommentar zum Römerbrief von 1919 wiederfinden: starke Verkündigung, aber die Weigerung, die Quelle dieser Verkündigung erkenntnistheoretisch zu rechtfertigen. Aber in einer Zeit, in der ein Mangel an mutiger, kerygmatischer Verkündigung herrscht, sollte Barths Einsatz nicht abgewertet werden. Die Hymne Mozarts, die für die Eröffnungsfeier der Vortragsreihe ausgesucht worden war, hatte einen passenden Liedtext: „Laudate Dominum, Quoniam confirmata est supernos misericordia ejus, et veritas Domini manet in aeternum …“ [„Lobet den Herrn, denn seine Barmherzigkeit ist befestigt über uns und die Wahrheit des Herrn bleibt in Ewigkeit …“].

Prof. Dr. Dr. John Warwick Montgomery

Die Übersetzung und Wiedergabe des Beitrages erfolgte mit freundlicher Genehmigung des Autors. Übersetzt wurde der Text freundlicherweise von Daniela Stöckel. Der originale Beitrag stammt aus dem Buch: John Warwick Montgomery, The Suicide of Christian Theology, Newburgh, IN: Trinity Press, 7. Aufl. 1998, S. 191–193.

Geschichte und Offenbarung bei Karl Barth

Karl Barth forderte im Rahmen seiner theologischen Wende ein neues Hören auf das Wort Gottes. Die von ihm angestoßene Wort-Gottes-Theologie sah den eigentlichen Auftrag des Theologen darin, Gottes Wort zu hören und es zu verkündigen. In der ersten Auflage seines „Römerbriefs“ bekannte er eindrücklich, dass es ihm darauf ankommt, durch das Historische hindurch den Geist der Bibel zu erkennen (Vorwort zu ersten Auflage, Der Römerbrief 1922, 1984, S. V):

Die historisch-kritische Methode der Bibelforschung hat ihr Recht: sie weist auf eine Vorbereitung des Verständnisses, die nirgends überflüssig ist. Aber wenn ich wählen müßte zwischen ihr und der alten Inspirationslehre, ich würde entschlossen zu der letzten greifen: sie hat das größere, tiefere, wichtigere Recht, weil sie auf die Arbeit des Verstehens selbst hinweist, ohne die alle Zurüstung wertlos ist. Ich bin froh nicht wählen zu müssen zwischen beiden. Aber meine ganze Aufmerksamkeit war darauf gerichtet, durch das Historische hindurch zu sehen in den Geist der Bibel, der der ewige Geist ist.

Vierzig Jahre später schrieb Barth über seine Abkehr von der liberalen Theologie: „Irre geworden an ihrem Ethos [gemeint ist die sittliche Gesinnung seiner Lehrer, R.  K.], bemerkte ich, daß ich auch ihrer Ethik und Dogmatik, ihrer Bibelauslegung und Geschichtsdarstellung nicht mehr werde folgen können, daß die Theologie des 19. Jahrhunderts jedenfalls für mich keine Zukunft mehr hatte.“

Barth brach mit der Tradition seiner Lehrer. Der Ehrfurcht vor der Geschichte, charakteristisch für die Theologie des 19. Jahrhunderts, stellte er die Ehrfurcht vor dem Wort Gottes gegenüber. Das religiöse Bewusstsein wurde ersetzt durch die göttliche Offenbarung. Statt beim Menschen und seinem Reden und Denken über Gott anzuknüpfen, setzt Barth bei Gott und seinem Reden und Denken über die Menschen an. Er schrieb (Das Wort Gottes und die Theologie, 1925, S. 18):

Den Inhalt der Bibel bilden gar nicht Menschengedanken über Gott, sondern die rechten Gottesgedanken über den Menschen. Nicht wie wir von Gott reden sollen, steht in der Bibel, sondern was er zu uns sagt, nicht wie wir den Weg zu ihm finden, sondern wie er den Weg zu uns gesucht und gefunden hat … Das steht in der Bibel. Das Wort Gottes steht in der Bibel.

Hat diese Rückkehr zum Wort Gottes zu einer nachhaltigen Erneuerung der Theologie geführt? Wurde die kirchliche Verkündigung durch das Vertrauen auf die Offenbarung zu neuem Leben erweckt?

Für Karl Barth oder Emil Brunner war es ausgeschlossen, hinter die Einsichten der historischen Geschichtsauffassung zurückzugehen. Für sie ist die Bibel nicht die uns von Gott anvertraute Offenbarung, sondern lediglich das Zeugnis der Offenbarung. Zeugen sind wichtig. Zeugen irren aber auch. Und so wurde der Graben zwischen kritischer Bibelauslegung und Dogmatik sowie Dogmatik und Verkündigung nicht überbrückt. 

Pastor Wilhelm Jannasch (1888–1966) hat in seinem Aufsatz „Karl Barth und die Praktische Theologie“ (Theologische Literaturzeitschrift, 75. Jg., Nr. 1, Januar 1951, S. 2–16, hier S. 4–5) sehr gut herausgearbeitet, wie die Entkoppelung von Geschichte und Offenbarung die damals junge Theologengeneration massiv belastet hat. Jannasch schrieb über eine ihm zugegangene Barthsche Auslegung von Matthäus 28,16–20.

Es sieht zunächst so aus, als ob Barth tatsächlich dem kritisch erzogenen Theologen weit entgegenkäme. Gehört der behandelte Matthäustext auch in das neutestamentliche Zeugnis „vom Geschehen der vierzig Tage nach Ostern“ (S. 5), so ist nach Barth doch dieses Zeugnis so lückenhaft und widerspruchsvoll, daß es unmöglich ist, „eine Historie in unserem Sinne des Begriffs herauszuschälen“. Auch Matthäus redet nach Barth, „im Stil geschichtlicher Sage“, „ähnlich wie etwa die Schöpfungsgeschichte“ (S. 7). – „Ungefähr sagt das“ in diesem Falle der Neutestamentler auch; und der Student oder angehende Vikar, der solches bei dem Dogmatiker B. liest, wird vielleicht zunächst beglückt aufatmen und hoffen, daß die böse Kluft zwischen kritischer Auslegung und systematischer Besinnung hier überbrückt sei. Aber bei näherem Zusehen zeigt sich, daß Barths kritische Voraussetzungen einem negativen Vorzeichen vor einer eingeklammerten komplexen Größe gleichen, auf das wider alle Regeln bei der Rechnung keine Rücksicht genommen wird. Die so unwidersprechliche Feststellung, daß die österlichen Texte sich nicht harmonisieren lassen, bleibt im Grunde unbeachtet; es entsteht doch eine Art Geschichte der vierzig Tage nach Ostern, die nach Barths vorausgegangenen Erklärungen nicht entstehen dürfte, kurz, der Dogmatiker treibt schließlich lediglich seine eigene Exegese, statt dem Manne der kirchlichen Praxis wenigstens durch ein wirkliches Ernstnehmen der fachlichen Exegese von heut, die in Barths Meditation wohl zitiert, aber nicht eigentlich diskutiert wird, über den fatalen Eindruck hinwegzuhelfen, daß Dogmatiker und Neutestamentler zweierlei Neues Testament vor sich haben.

Dieser Eindruck aber bedeutet nach meiner Erkenntnis eine der schwersten Belastungen unserer jungen Theologengeneration, die entweder unter Ablehnung jeder Dogmatik, bewaffnet lediglich mit einer mehr oder minder einseitigen und kritischen Exegese, an ihre praktischen Aufgaben herangeht, oder die umgekehrt nach ihrer Dogmatik die Exegese reguliert. Das, was die Theologie und die jungen Theologen insonderheit brauchen, ist eine unermüdliche Erörterung dessen, was Barth in unserer Schrift auf den Seiten 6 und besonders 7 (unter 2) gegenüber einer bestimmten Form der neutestamentlichen Exegese in verhältnismäßiger Kürze und sehr viel eingehender in seiner Kirchl. Dogmatik (III, 2, Seite 531 ff.) gegen Bultmann speziell über den biblischen Sinn des Osterereignisses ausgeführt hat. Ich möchte es fast für glücklich halten, daß es an unserer Stelle ohne das Stichwort „Entmythologisierung“ geschieht; so wird deutlich, daß es sich letztlich bei dem heutigen Dissensus in Sachen der neutestamentliehen Exegese um die Frage dreht, ob das Geschehen, das im neutestamentlichen Kerygma vorausgesetzt ist, für uns mehr oder minder belanglos bleibt, weil die Deutung der alten Gemeinde im Vordergründe steht, oder ob vielmehr dies Geschehen selber so entscheidend ist, daß auch der Glaube der späteren Gemeinde von ihm begründet und geformt wird, so daß die Einmaligkeit dieses wirklichen Geschehens (S. 6) auch für die heutige Verkündigung in der Gemeinde gar nicht stark genug betont werden kann.

Karl Barth: Ein Leben im Widerspruch

Die nachfolgend Buchbesprechung erschien zuerst in GLAUBEN UND DENKEN HEUTE, Nr. 22, (2/2018).

Christiane Tietz. Karl Barth: Ein Leben im Widerspruch. München: C. H. Beck, 2018. ISBN: 978-3-406-72523-4, Hardcover, 538 S. Euro 29,95.

41msXYCKD2L SX319 BO1 204 203 200Zum 50. Todesjahr erinnert Christiane Tietz mit Karl Barth: Ein Leben im Widerspruch an den großen Schweizer Theologen, der am 10. Dezember 1968 im Alter von 82 Jahren verstarb. Es handelt sich um die erste deutschsprachige Biografie seit Jahrzehnten, der für die Barth-Forschung sehr bedeutende Lebenslauf des Barth-Assistenten Eberhard Busch erschien 1975.

Erwartungsgemäß beginnt die Biografie mit dem Blick auf Barths Familie sowie seine Kindheit und Schulzeit. Zu lesen ist allerlei, was zwar schon Eberhard Busch zusammentrug, aber dennoch wenig bekannt ist. Karls Vater, Fritz Barth (eigentlich Johann Friedrich), lernte im Gymnasium etwa unter Friedrich Nietzsche und sprach von ihm mit Hochachtung. Er saß in der Schule neben seinem Freund Eduard Thurneysen (1856–1900), dessen Sohn, der ebenfalls Eduard hieß (1888–1974), ein enger Wegbegleiter Karls werden sollte.
Ausführlich wird der Einfluss der Liberalen Theologie während Barths Theologenausbildung dokumentiert. Er studierte in Bern, Berlin, Tübingen und Marburg. Barth bezeichnete sich damals als Schüler Adolf von Harnacks (1851–1930) und hing sogar Bilder von ihm und Julius Kaftan (1848–1926) über sein Bett (vgl. S. 50). Adolf Schlatter in Tübingen hörte er mit „heftiger innerer Abneigung, weil er durch die historische Kritik einen ganz anderen Umgang mit der Bibel gelernt hatte“ (S. 53). In Marburg begeisterte ihn der große Liberale Wilhelm Herrmann. Bei ihm fand er, was er gesucht hatte: eine „Theologie, aufgebaut auf die ‚Kritik der praktischen Vernunft‘ von Kant.“ Er hat Herrmann „mit allen Poren“ in sich aufgenommen (S. 55). Herrmanns Denken war durch Kants Philosophie und den jüngeren Schleiermacher geprägt. In seinen Augen waren Schleiermachers Reden Über die Religion „geradezu das Wichtigste und Richtigste …, was seit dem Abschluß des neutestamentlichen Kanons auf dem Feld christlichen Erkennens und Bekennens ans Licht getreten“ ist (S. 56). Barth selbst studierte während seiner Marburger Zeit Schleiermacher und Kant ebenfalls gründlich. Die Kritik der reinen Vernunft hatte er sogar zweimal mit dem Lineal in der Hand von Anfang bis Ende durchgearbeitet. Im Rückblick lobte Barth den liberalen Professor für die Einseitigkeit seiner Arbeit, denn eine „anständige Theologie ist immer einseitig“. Dass Herrmann den Anspruch seiner dogmatischen Theologie mit allgemeinen philosophischen Überlegungen, also vom Menschen aus, begründete, konnte Barth in der Retrospektive nur scharf verurteilen. Barth sollte ja schon bald Schleiermacher auf den Kopf stellen und behaupten, dass am Anfang der Dogmatik nicht der Mensch mit seinen Spekulationen, sondern „Gott selbst in seinem Wort“ stehe (vgl. S. 56–57).

Was der damals dreiundzwanzig Jahre alte Barth aus dem Studium mitgenommen hatte, ist in seinem Aufsatz „Moderne Theologie und Reichsgottesarbeit“ aus dem Jahre 1909 nachzulesen. Im Rucksack eines modernen Theologen befänden sich zwei Dinge: „Zum einen der ‚historische Relativismus‘, der Texte und Geschichte des Christentums mit historischen Methoden untersuche und deshalb ‚keine absolute Größe‘ in der Natur und Geisteswelt mehr gelten lassen könne“ (S. 61). Zum anderen läge im Rucksack der modernen Theologen der religiöse Individualismus, denn „die Sittlichkeit als Voraussetzung der Religion habe es allein mit dem Individuum zu tun“ (S. 61). Kurz: Jesus war für ihn ein Religionsstifter wie jeder andere auch und jede theologische Arbeit muss davon ausgehen, dass es keine allgemeingültige Offenbarung gebe, also jeder Mensch nur für sich selbst beantworten könne, wo er Wahrheit gefunden habe (vgl. S. 61).

Beim Vikariat in Genf (1909–1911) und dem Pfarrdienst in Safenwil (1911–1921) stand Barth unter dem Einfluss des christlichen Sozialismus. Die Zutaten auf dem Weg dahin waren vielfältig. Das Reich Gottes als ethische Aufgabe war etwa das große Thema der Liberalen Theologie, die er sich im Studium angeeignet hatte. Durch seinen Freund Thurneysen lernte er zudem Hermann Kutter kennen, der als Pfarrer am Zürcher Neumünster predigte, dass die Verheißungen Gottes mit der Sozialdemokratie endlich in Erfüllung gehen würden. Beachtlichen Einfluss entwickelten freilich auch die Erfahrungen in der Arbeiterstadt Safenwil. Er konnte dort mit eigenen Augen sehen, unter welch schwierigen Bedingungen die einfachen Leute schufteten. Das schärfte seinen Blick für die soziale Frage. „Die Nähe lag für Barth in dem, was die soziale Bewegung und die Sozialdemokratie wollen: Das, ‚was sie wollen, … das wollte Jesus auch‘. Deshalb könne man auch ‚als Atheist und Materialist und Darwinist ein echter Nachfolger und Jünger Jesu sein‘. Der Sozialismus als proletarische Bewegung sei eine Bewegung von unten. Ganz ähnlich war Jesus Arbeiter und wandte sich an die Armen und Unterdrückten … Pointiert gesagt: ‚Nicht wir sollen in den Himmel, sondern der Himmel soll zu uns kommen‘“ (S. 82). 1915 trat Barth in die Sozialdemokratische Partei der Schweiz ein (vgl. S. 86). Obwohl die Wende hin zur Wort-Gottes-Theologie, zu der wir gleich kommen, diese Begeisterung abmilderte, blieb Barth der sozialistischen Idee und der Sozialdemokratie sein Leben lang verbunden. Nach dem Krieg verteidigte er sogar Josef Stalin, da er glaubte, dem sowjetischen Diktator sei es im Kern um die „soziale Frage“ gegangen.

In die Pfarrzeit von Safenwil fiel Karl Barths theologische Wende, die unter verschiedenen Bezeichnungen – „Wort-Gottes-Theologie“, „Dialektische Theologie“, „Theologie der Krise“ oder „Neo-Orthodoxie“ – in die Neuere Theologiegeschichte eingegangen ist.

Der Römerbrief war während dieser Umorientierungsphase treibende Kraft. Barth las das Schreiben des Paulus zunächst, weil er einfach wissen wollte, was in diesem alten Text steht. Aus den Notizen, die er für sich und ein paar Freunde zur persönlichen Auferbauung anfertigte, entwickelte sich am Ende seine berühmte Römerbriefauslegung. Als die erste Auflage vergriffen war, erwägte er zunächst einen einfachen Nachdruck. Letztlich hat er aber seinen Text dann so grundlegend überarbeitet, dass er später sagen musste, „es war kaum ein Stein auf dem anderen geblieben“ (Der Römerbrief, „Vorwort zum Neudruck“, 1963, S. 6).

Nach Barth verwechseln die Menschen Gott und die Welt. Ja, der Neuprotestantismus beschäftigt sich gar nicht mit Gott und seiner Offenbarung, sondern mit dem Glauben der Menschen. „Kirche und Mission, persönliche Gesinnungstüchtigkeit und Moralität, Pazifismus und Sozialdemokratie vertreten nicht das Reich Gottes, sondern in neuen Formen das alte Reich der Menschen“ (Der Römerbrief, 1919, geschrieben allerdings 1918, S. 42). In der Theologie muss es jedoch zuerst um Gott gehen (hier überschneiden sich m. E. etliche Anstöße mit denen Erich Schaeders, vgl. Theozentrische Theologie, 2 Bde. 1914/16). Denn, so Barth: „Er will Erlöser sein. Er will rechthaben durch seine Kraft. Denn nur, was er tut und vollbringt, ist etwas wirklich und entscheidend Neues und Hilfreiches … Gott muss allein handeln, wenn es zu einer Erlösung kommen soll“ (Der Römerbrief, 1919, S. 398).

In der zweiten Auflage betont er das Anderssein Gottes gegenüber dem Menschen noch stärker als schon in der Auflage von 1919. Anknüpfend an Kierkegaard streicht er die unendliche Verschiedenheit der Qualität zwischen Gott und Mensch heraus. „Jesus Christus überbrückt zwar die Distanz zwischen Gott und Mensch, aber so, dass er sie gerade unterstreicht“ (S. 142). „Barth hämmert immer wieder ein: Der Unterschied zwischen Gott und Mensch ist nicht nur graduell, so als ob in Gott all das Gute des Menschen in gesteigerter Form vorkäme. Der Unterschied zwischen Gott und Mensch ist kategorial, grundsätzlich. Keine menschliche Vorstellung von Gott trifft ihn. ‚Gott, die reine Grenze und der reine Anfang alles dessen, was wir sind, haben und tun, in unendlichem qualitativem Unterschied dem Menschen und allem Menschlichen gegenüberstehend, nie und nimmer identisch mit dem, was wir Gott nennen, als Gott erleben, ahnen und anbeten, das unbedingte Halt! gegenüber aller menschlichen Unruhe und das unbedingte Vorwärts! gegenüber aller menschlichen Ruhe, das Ja in unserm Nein und das Nein in unserm ja, der Erste und der Letzte … und als solcher der Unbekannte, nie und nimmer aber eine Größe unter andern in der uns bekannten Mitte, Gott der Herr, der Schöpfer und Erlöser – das ist der lebendige Gott!‘“ (S. 142).

Auf Christiane Tietz wurde ich aufmerksam, als ich ihren englischsprachigen Aufsatz „Karl Barth and Charlotte von Kirschbaum“ (Theology Today 74, Nr. 2 (2017), S. 86–111) zu Gesicht bekam. Der Text, der die „Notgemeinschaft“ von Karl Barth, Nelly Barth und Charlotte von Kirschbaum beschreibt, hat in Nordamerika und anderswo für viel Wirbel gesorgt. Außerhalb der deutschsprachigen Welt war weniger bekannt, dass Barth 35 Jahre mit seiner Mitarbeiterin und Geliebten Charlotte von Kirschbaum und seiner Ehefrau unter einem Dach wohnte. Sogar in Europa blieb das Verhältnis lange Zeit Gerücht, da keine schriftlichen Dokumente zugänglich waren und Vermerke, etwa die in Buschs’ Lebensbeschreibung, doch etwas schattenhaft blieben (vgl. Karl Barths Lebenslauf, 1976, S. 198–200). Als sich 1991 Barths Nachkommen dazu entschieden, den die Beziehung betreffenden Schriftwechsel, soweit noch vorhanden, öffentlich zu machen, wurde fassbar, wie sehr sich Karl und Charlotte liebten und welch unermessliche Belastung die Dreiecksbeziehung zugleich für die Familie war.

Der Theologieprofessor Barth, fast 39 Jahre alt und inzwischen Vater von fünf Kindern, lernte Charlotte in Oberrieden am Zürichsee kennen. Nach ihrer ersten Begegnung begannen sie, einander Briefe zu schreiben und es entwickelte sich eine passionierte Liebesbeziehung. Barth war wichtig, dass seine Frau Nelly davon wusste. Obwohl er zeitweise erwog, das Verhältnis zu beenden, zog Charlotte von Kirschbaum schließlich im Oktober 1929 in das Haus der Familie in Münster ein. Sie lebte von nun als wichtigste theologische Mitstreiterin in der „Familie“. Die Kinder Franziska und Markus Barth schrieben im Entwurf zu einem Vorwort für die Ausgabe des Briefwechsels über die damaligen Umstände: „Unsere liebe Mutter, Nelly Barth, kommt leider in diesem Briefbande nicht zum Wort. Im ‚Lebenslauf‘ Karl Barths von Eberhard Busch wird gebührlich herausgehoben, wie schwer das Leben zu dritt im selben Hause war: ‚Unzumutbar‘, sagen wir Kinder im nachhinein. Und doch hat es unsere Mutter durchgehalten und trug somit ihren großen Teil an der Arbeit unseres Vaters bei. Wußte sie doch, wie unersetzlich Lollo von Kirschbaums theologische Assistenz und unaufhörliche Mithilfe für das Durchführen des großen Werkes war. Daß es auch menschlich zu keinem Bruch im Familienleben kam, war großmütig von unserer Mutter und wir sind ihr dafür von ganzem Herzen dankbar“ (S. 188). Christiane Tietz kommentiert: „Privat gelang es Barth nicht, eine bessere Lösung der belastenden Dreierkonstellation zu finden. Doch der Schuld, die er damit auf sich lud, blieb sich Barth bewusst. Er beschönigte die Situation nicht und versuchte sie auch nicht theologisch zu rechtfertigen. Erstaunlich ist, dass Barth an dieser Stelle keine christologischen Argumentationsfiguren benutzte, um eine Klärung herbeizuführen. Er formulierte beispielsweise nicht von der Liebe Christi zur Gemeinde her eine Begründung für sein Leben mit zwei Frauen. Ihn, der sonst ‚Erfahrung‘ als theologische Kategorie ablehnte, hielt hier die eigene Erfahrung in ihrem Bann“ (S. 417).

Ich frage mich, ob nicht doch Barths existentialistische Ethik eine Rolle spielte. Es lohnt sich, seine Auslegung von Römer 12 in der Römerbriefauslegung von 1922 zu lesen. Barth überschreibt den Abschnitt mit „Die große Störung“ und spricht sich dort im Grunde gegen eine diesseitsbezogene Ethik aus. „Es ist, wenn es zu Ethik kommen soll, nichts anderes möglich, als Kritik alles Ethos, d. h. aber ein grundsätzliches, womöglich immer in Winkeldrehung von 360° sich vollziehendes Bewegen der Problematik unseres Lebens an jedem einzelnen gegebenen Punkte“ (Der Römerbrief, 1922, S. 413). Das Denken des Lebens muss „verschlungene Wege gehen, in so unerhörte Fernen schweifen“ (Der Römerbrief, 1922, S. 411). „Gnade heißt: Selbstverständlichkeit des schlechten Gewissens mitten in den Verrichtungen der schlechten Welt, aber gerade in dieser Selbstverständlichkeit des schlechten Gewissens die unerhört neue Möglichkeit eines (nie und nirgends ‚guten‘) getrösteten Gewissens“ (Der Römerbrief, 1922, S. 414).

Neben vielen anderen bekannten Ereignissen wird dann Barths Aufstieg innerhalb der theologischen Elite und seine herausragende Rolle im Kirchenkampf geschildert. Viel Raum bekommen überdies Entstehung, Aufbau und Inhalt der monumentalen Kirchlichen Dogmatik (S. 369–390). Doch auch weniger bekannte Geschehnisse werden vermittelt. Amüsant schildert Tietz den Feldzug Barths gegen die Einführung der Frauenordination. In den Nachkriegsjahren engagierte er sich vielfältig ökumenisch. Als 1948 die konstituierende Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen stattfand, hielt er sogar den Eröffnungsvortrag. Auch in der ökumenischen Kommission „Leben und Arbeit der Frauen in der Kirche“, die überwiegend von Frauen besetzt war, wirkte er mit. Schnell wurde deutlich, dass diese Frauen engagiert für die Frauenordination kämpften. Barth lehnte das Pfarramt für Frauen allerdings auf Grundlage des biblischen Befundes ab. Tietz berichtet:

„Außer Barth arbeiteten in dieser Kommission nur wenige Männer mit, unter ihnen der amerikanische Theologe Reinhold Niebuhr (1892–1971) und Martin Niemöller. Die Frauen in der Kommission setzten sich für die generelle Zulassung von Frauen zum Pfarramt und zu anderen Führungsämtern ein. Barth sah in ihren Argumenten eine Tendenz wirksam, die er in seinem Einleitungsreferat kritisiert hatte: dass man nicht von biblischen Texten, sondern von humanistischen Gedanken aus argumentiere. Er habe, so erklärte er bei jenem Treffen der Reformierten, ‚aufrichtige … Sympathie‘ für die Sache der Frauen. Aber die biblischen Texte sprächen von einer ‚Unterordnung der Frau unter den Mann, die Paulus der Unterordnung der Gemeinde unter Christus zur Seite stellt‘. Bei Paulus sei nicht nur der Satz ‚in Christus ist nicht Mann noch Weib‘ (Galater 3,27) zu finden, auf den sich die Frauen in der Kommission beriefen, sondern auch manches andere, das eben von diesen Ordnungsstrukturen spreche. Gegen das Argument, Paulus rede hier zeitgebunden und man müsse die Texte im ‚Geiste Jesu‘ verstehen, polemisierte Barth heftig: ‚Wer sich wirklich und mit Recht auf den Geist Jesu beruft, darf sich keine Freiballonfahrten in den Himmel einer humanistischen Theologie gestatten. Der wirkliche Geist Jesu ist vom Wort der Apostel und Propheten nicht zu trennen.‘“ (S. 351)

Freilich moniert die Autorin: „Man wird sich hier kritisch fragen müssen, ob Barth an dieser Stelle nicht doch der Vorstellung von einer wortwörtlichen Autorität der Bibel verfällt, die seine Schrifthermeneutik eigentlich zu vermeiden hilft. Wie wenig Barth die Anliegen der Frauen damals überhaupt nachvollziehen konnte, belegt ein Brief an Charlotte von Kirschbaum vom 31. August 1948 über seine Teilnahme in dieser Kommission: ‚Ich habe mir die Lippen franzig geredet, um ihnen Gen. 1–2, 1.Kor. 11, Eph 5 etc. einleuchtend und annehmbar zu machen … Aber die women fallen immer noch zähnefletschend auf ihre equality zurück, wollen für Alles und Jedes ‚ordiniert‘ werden, auf Münsterkanzeln predigen und was noch Alles‘“ (S. 351).

Sogar die Gespräche mit dem Baptistenprediger Billy Graham werden kurz erörtert. Barth lernte Graham im August 1960 in der Schweiz kennen und fand ihn eigentlich sympathisch. Über seine Predigten war er hingegen entsetzt. Seiner Meinung nach verkündigte der Evangelist vor allem Gesetz. Er drohte den Hörern und wollte ihnen Angst machen. Während einer Pressekonferenz in den USA sagte er: „Christlicher Glaube fängt mit Freude an, nicht mit Furcht. Herr Graham fängt damit an, daß er den Leuten Angst macht“ (S. 394).

Sein letztes Kolloquium hielt Karl Barth im Sommersemester 1968. Es war noch einmal Friedrich Schleiermacher gewidmet, mit dem er bis zu seinem Lebensende nicht fertig wurde: „‚Ich habe seine romantische Theologie ein Leben lang ernstlich bekämpft‘, schrieb er an einen Freund, ‚möchte aber zum Schluß versuchen, sie unter der heutigen Jugend zum Leuchten zu bringen‘“ (S. 397).

Ab 1964 ging es Barth gesundheitlich und mental spürbar schlechter. In den letzten vier Jahren seines Lebens verbrachte er rund neuneinhalb Monate im Krankenhaus. Auf eine Prostataerkrankung folgte in den Weihnachtstagen 1964 ein kleiner Schlaganfall. Noch bedrückender als die gesundheitlichen Nöte wog allerdings, dass „seit den frühen 1960er Jahren bei Charlotte von Kirschbaum Zeichen einer dementiellen Gehirnerkrankung sichtbar wurden“ (S. 403). Zu Beginn des Jahres 1966 zog sie schließlich in die psychiatrische Klinik „Sonnenhalde“ in Riehen bei Basel. Sie starb am 2. Juli 1975, fast sieben Jahre später als ihr Weggefährte.

Barth kämpfte hin und wieder mit depressiven Stimmungen. In seinen letzten Lebensmonaten wurden sie schlimm. Sein Assistent Eberhard Busch berichtet von Tagen und Nächten voller ernster Depressionen und Anfechtungen. Er habe einem zugeflüstert: „… früher habe er es schön zu lehren gewußt: ‚Vor Dir [Gott] niemand bestehen kann‘, aber jetzt erfahre er erst, was das heißt“ (S. 413). „Sein letztes Telefonat am 9. Dezember war der Anruf von Eduard Thurneysen, mit dem er wieder enger Kontakt hatte. Sie unterhielten sich, wie Thurneysen berichtete, über die aktuelle Lage der Welt, die beide bedrückend fanden. Barth schloss das Telefonat mit den Worten: ‚Ja, die Welt ist dunkel. Nur ja die Ohren nicht hängen lassen! Nie! Denn es wird regiert, nicht nur in Moskau oder in Washington oder in Peking, aber ganz von oben, vom Himmel her. Gott sitzt im Regimente. Darum fürchte ich mich nicht. Bleiben wir doch zuversichtlich auch in dunkelsten Augenblicken! Lassen wir die Hoffnung nicht sinken, die Hoffnung für alle Menschen, für die ganze Völkerwelt! Gott läßt uns nicht fallen, keinen einzigen von uns und uns alle miteinander nicht! Es wird regiert!‘ Karl Barth starb in der folgenden Nacht, am 10. Dezember 1968, im Schlaf“ (S. 414).

Die kritische Analyse von Barths Wort-Gottes-Theologie bekommt trotz hilfreicher Erläuterungen hier und da verhältnismäßig wenig Raum. Das ist nachvollziehbar, handelt es sich doch nicht um eine kontroverstheologische Studie, sondern um eine Biografie, geschrieben von einer Theologin, die dem barthschen Ansatz nahesteht. Im Epilog wird immerhin das kritische Urteil, das Barths Theologie im deutschsprachigen Raum erfährt, deutlich bezeugt. Während in den USA, England oder Asien Karl Barth zu den meistgelesenen Theologen gehört, hat sich im deutschsprachigen Raum das Lager der „Schleiermacherianer“ durchgesetzt. Aus ihrer Sicht hat Barths Theologie keine Zukunft, da ihr die Anschlussfähigkeit an Kultur und Wissenschaft fehlt. Jörg Lauster resümiert scharf: „Die Wort-Gottes-Theologie hat in der theologischen Landschaft Flurschäden hinterlassen. … Dieser absichtlich kultivierte Verzicht auf wissenschaftliche Anschlussfähigkeit begünstigt eine Vorliebe für immanente Sprachspiele und Argumentationsgänge, denen man außerhalb dieser Kreise nicht folgen kann. Die Remythisierung der Gottesvorstellung, das beharrliche Insistieren darauf, dass Gott redet, stellt eine geradezu gewaltsame Infantilisierung des Gottesbegriffs dar, die vielfach abschreckend und ausschließend wirken muss, weil sie keinerlei Anknüpfungspunkte an modernes kritisches Denken bereithält“ (S. 419, Original: J. Lauster, Zwischen Entzauberung und Remythisierung, 2018, S. 18f.).

Die Verfasserin der Biografie hält hingegen die Dialektische Theologie nach wie vor für wegweisend. Mit einigen anderen hält sie daran fest, dass es in der „Theologie nicht zuerst um die menschliche Kulturleistung Religion geht, sondern um Gott. Gott ist … nicht der Begriff für eine gewisse Transzendenzbezogenheit des Menschen, sondern Gott und Mensch sind fundamental voneinander unterschieden und nur Gott kann die Distanz zum Menschen überbrücken“ (S. 419–420).

Gerade solche Einlassungen machen deutlich, dass Barth mit seiner Wort-
Gottes-Theologie eminente Schwachstellen des Neuprotestantismus aufgedeckt hat. Sein Wunsch, Schleiermacher zu überwinden und konsequent von Gott her zu denken, weist in die richtige Richtung. Überwunden hat er die Krise der Theologie freilich nicht. Eher könnte man behaupten, er sei auf halber Wegstrecke steckengeblieben. Die Theologie muss meines Erachtens noch radikaler fragen, was Gott sagt. Sie muss Gott beim Wort nehmen und wird nicht drumherum kommen, hinter den Kantianismus zurückzugehen und manche neuzeitliche Weichenstellung zu korrigieren.

Jenen, die sich gründlicher mit Barths Theologie und ihren Baustellen vertraut machen wollen, ist zunächst einmal zu empfehlen, einige von Barths eigenen Texten zu lesen. Es muss ja nicht gleich die schwere Kirchliche Dogmatik oder der (exegetisch übrigens oft auf tönernen Füßen stehende) Römerbrief sein. Die Einführung in die evangelische Theologie, die auf eine Vorlesung nach dem Rücktritt vom akademischen Lehrdienst 1961/62 zurückgeht und in energischer Kürze zusammenträgt, was er in seiner Dogmatik lehrte, ist hingegen gut verdauliche Einstiegslektüre (6. Aufl., 2006). Ergänzend sollten kritische Studien gelesen werden. Empfehlen kann ich die Untersuchungen von Klaus Bockmühl (Atheismus in der Christenheit, 1969, sowie das Kapitel „Karl Barth“ in Verantwortung des Glaubens im Wandel der Zeit, 2001, S. 84–137), Bernhard Rothen (Die Klarheit der Schrift, 2 Bde., 1990) sowie David Gibson und Daniel Strange (die Herausgeber des Sammelbands Engaging with Barth, 2008).

Die neue Biografie fördert ohne Zweifel ein besseres Verstehen der barthschen Theologie. Ich habe für die Lektüre der Lebensgeschichte nur wenige Tage gebraucht. Karl Barth: Ein Leben im Widerspruch ist eingängig geschrieben und entsprechend leicht zu lesen. Christiane Tietz hat gewissenhaft recherchiert und meisterhaft erzählt. Ich empfehle die Biografie gern.

Christiane Tietz spricht über Karl Barth

Auf Christiane Tietz wurde ich aufmerksam, als ich ihren englischsprachigen Aufsatz „Karl Barth and Charlotte von Kirschbaum“ (Theology Today 74, no. 2 (2017): 86-111) zu Gesicht bekam. Der Text, der die „Notgemeinschaft“ von Karl Barth, Nelly Barth und Charlotte Kirschbaum beschreibt, hat in Nordamerika und anderswo für ziemlich viel Wirbel gesorgt (vgl. z.B. hier). Außerhalb der deutschsprachigen Welt war es weniger bekannt, dass Barth 35 Jahre mit seiner Mitarbeiterin und Geliebten Charlotte von Kirschbaum und seiner Ehefrau unter einem Dach wohnte.

Im Herbst konnte ich Christiane Tietz’ Biographie über Karl Barth lesen (siehe auch hier u. hier). Ich habe nur wenige Tage gebraucht, da es eingängig geschrieben und spannend zu lesen ist. Das Buch kann ich all jenen, die mehr über Barth und seine Theologie wissen möchten, herzlich empfehlen.

Die Theologin Tietz hat nun im DLF über Karl Barth gesprochen. Wer Karl Barth: Ein Leben im Widerspruch nicht lesen möchte oder keine Zeit dafür hat, sollte wenigstens diese 20 Minuten investieren. Ihre Auskünfte sind präzise und lohnend. Ihre Kritik an der Schleiermacher-Renaissance in Deutschland teile ich übrigens, ihr Hoffnung darauf, dass die Theologie Barths uns aus der Krise führen kann, jedoch nicht. Für eine Überwindung der Krise müssen wir weiter zurückgehen und radikaler sein, als Barth es war.

Hier die Aufzeichnung des Interviews:

Schleiermacher oder Barth? Entspannte Pluralität!

Schleiermacher oder Barth? Seit 100 Jahren spaltet dieser theologische Streit den deutschen Protestantismus. Der EKD-Kulturbeauftragte Johann Hinrich Claussen hat sich in einem DLF-Gespräch auf die Seite Schleiermachers gestellt. Der DLF schreibt:

An Schleiermacher fasziniere ihn der Versuch, so Claussen, sich den Glauben über das individuelle religiöse Leben zu erschließen. Was ihm an Schleiermacher missfalle? „Gar nichts. Reine Liebe und Bewunderung.“

Zugleich sagte Claussen, er sei froh darüber, dass es in der evangelischen Kirche heute kein so starkes Lager- und Frontendenken mehr gebe wie früher, sondern eine „entspannte Pluralität.“ Dennoch betonte er mit Blick auf die evangelische Theologie: „Streiten ist unser Kerngeschäft.“

Weder Schleiermacher, noch Barth, hätten sich, da bin ich mir sicher, über eine „entspannte Pluralität“ gefreut. Aber so ist das eben noch: „Alles ist möglich!“

Hier das Gespräch:

 

Karl Barths verlorener Kampf gegen die Frauenordination

Barth 1956 in Wuppertal (Bild CC BY-SA).

Karl Barth engagierte sich in den Nachkriegsjahren vielfältig ökumenisch. Als 1948 die konstituierende Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen stattfand, hielt er sogar am 23. August den Eröffnungsvortrag.

Auch in der ökumenischen Kommission „Leben und Arbeit der Frauen in der Kirche“, die überwiegend von Frauen besetzt war und für die Frauenordination kämpfte, wirkte er mit. Barth lehnte jedoch die Frauenordination auf Grundlage des biblischen Befundes ab. Christiane Tietz schreibt in ihrer Barth-Biographie dazu:

Außer Barth arbeiteten in dieser Kommission nur wenige Männer mit, unter ihnen der amerikanische Theologe Reinhold Niebuhr (1892–1971) und Martin Niemöller. Die Frauen in der Kommission setzten sich für die generelle Zulassung von Frauen zum Pfarramt und zu anderen Führungsämtern ein. Barth sah in ihren Argumenten eine Tendenz wirksam, die er in seinem Einleitungsreferat kritisiert hatte: dass man nicht von biblischen Texten, sondern von humanistischen Gedanken aus argumentiere. Er habe, so erklärte er bei jenem Treffen der Reformierten, „aufrichtige … Sympathie“ für die Sache der Frauen. Aber die biblischen Texte sprächen von einer „Unterordnung der Frau unter den Mann, die Paulus der Unterordnung der Gemeinde unter Christus zur Seite stellt“. Bei Paulus sei nicht nur der Satz „in Christus ist nicht Mann noch Weib“ (Galater 3,27) zu finden, auf den sich die Frauen in der Kommission beriefen, sondern auch manches andere, das eben von diesen Ordnungsstrukturen spreche. Gegen das Argument, Paulus rede hier zeitgebunden und man müsse die Texte im „Geiste Jesu“ verstehen, polemisierte Barth heftig: „Wer sich wirklich und mit Recht auf den Geist Jesu beruft, darf sich keine Freiballonfahrten in den Himmel einer humanistischen Theologie gestatten. Der wirkliche Geist Jesu ist vom Wort der Apostel und Propheten nicht zu trennen.“

Freilich kommentiert Prof. Tietz diesen Vorfall eindeutig:

Man wird sich hier kritisch fragen müssen, ob Barth an dieser Stelle nicht doch der Vorstellung von einer wortwörtlichen Autorität der Bibel verfällt, die seine Schrifthermeneutik eigentlich zu vermeiden hilft. Wie wenig Barth die Anliegen der Frauen damals überhaupt nachvollziehen konnte, belegt ein Brief an Charlotte von Kirschbaum [Barths Sekretärin und Geliebte, Anm. von mir] vom 31. August 1948 über seine Teilnahme in dieser Kommission: „Ich habe mir die Lippen franzig geredet, um ihne um ihnen Gen. 1–2, 1.Kor. 11, Eph 5 etc. einleuchtend und annehmbar zu machen … Aber die women fallen immer noch zähnefletschend auf ihre equality zurück, wollen für Alles und Jedes ‚ordiniert‘ werden, auf Münsterkanzeln predigen und was noch Alles.“

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