Philosophie

Antony Flew (1923–2010)

Flew.jpgAntony Flew ist nach langer Krankheit am 8. April 2010 verstorben. Flew, der sich als atheistischer Philosoph einen exzellenten Ruf erwarb, bekennt sich seit 2004 zu seiner Abkehr vom Atheismus. Wikipedia schreibt über seinen Glaubenswechsel:

In seinem 2007 erschienen Buch »There Is a God: How the World’s Most Notorious Atheist Changed His Mind« erläutert Flew, wieso er vom Atheisten zum Gläubigen wurde. Obwohl Antony Flew gegenüber einem Reporter der New York Times einräumte, dass er das Buch, obwohl unter seinem Namen erschienen, nicht selbst geschrieben hat. Das Buch wurde demnach im wesentlichen von dem christlichen Autor Roy Varghese geschrieben, welcher dies auch selbst bestätigt. Diese Version von Roy Varghese wurde nach Angaben des publizierenden Verlagshauses HarperCollins nochmals von dem evangelikalen Pastor Bob Hostetler überarbeitet und erweitert. Nach dieser Kontroverse wurde Antony Flew erneut gefragt; in einer späteren Stellungnahme bestätigte er, dass er zu dem steht, was in dem Buch geschrieben wurde.

Der Telegraph hat einen Nachruf verfasst. Informationen über seine Kritik an Richard Dawkins befinden sich hier.

Erträumte Neuzeit

Decartes.jpgDescartes war dreiundzwanzig Jahre alt, als er in der Nacht vom 10. zum 11. November 1619 drei Träume hatte. Von dieser Nacht der Träume her datierte er jene geistige Revolution, aus der seine Philosophie hervorging, die durch einen absoluten Neuanfang gekennzeichnet war. Alles, was ihn bis dahin bestimmt hatte, will er in dieser Nacht hinter sich gelassen haben. Dies ereignete sich, als Descartes im Dienst der bayerischen Armee stand und an der militärischen Kampagne von 1619 in Deutschland teilnahm. Im Winterlager in Ulm 1619/20 fasste er, wie Paul Valéry schreibt, den Entschluss, sich selbst als Quelle und Bürgen allen Wertes in Fragen der Erkenntnis zu nehmen. Das berühmte »Cogito, ergo sum«, Ich denke, also bin ich, soll in diesem Winter zur Grundlage seiner Philosophie geworden sein.

Mehr im Artikel »Die Nacht der Träume« von Henning Ritter: www.faz.net.

Alle Wirklichkeit ist auf Gott bezogen

Ich habe vor einigen Wochen hier auf humorvolle Weise über ein Symposium des Schweizer Martin Bucer Seminars verwiesen und einen seriösen Bericht angekündigt. Hier mein Kurzbericht:

Alle Wirklichkeit ist auf Gott bezogen
Erstes Schweizer Symposium des Martin Bucer Seminars war der Amsterdamer Philosophie gewidmet

Wissenschaft, die sich ausschließlich auf die Welt der messbaren Erscheinungen beschränkt, kann nicht alle Aspekte der Wirklichkeit erfassen. Wissenschaft ist immer Abstraktion von Alltagserfahrung und nimmt bestimmte Gesichtspunkte besonders unter die Lupe. Deshalb darf keine Einzelwissenschaft die Deutungshoheit über Gottes Schöpfung für sich beanspruchen. Zu diesem Ergebnis kamen die Teilnehmer des ersten Schweizer Symposiums, das vom Martin Bucer Seminar (MBS) zwischen dem 18. und 20. September im Ferienhotel Seeblick am Vierwaldstättersee veranstaltet wurde.

Schultz.jpgThema des Symposiums war die so genannte »Amsterdamer Philosophie«, die von dem reformierten, holländischen Philosoph Herman Dooyeweerd (1894–1977) begründet wurde. Dooyeweerd zeigte durch umfangreiche Untersuchungen, dass das Denken der Menschen von Erkenntnisinteressen bestimmt wird. Anders als Immanuel Kant, der eine reine Vernunft behauptete und die logische Wirklichkeit verabsolutierte, wird nach Dooyeweerd alles Denken von im Herzen der Menschen verankerten Grundmotiven geprägt.

Professor Gianfranco Schultz (erstes Foto) von der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel (CH), der für die Einführung in die Amsterdamer Schule gewonnen werden konnte, zeigte in seinen Vorträgen, dass einerseits unser Denken durch die Auflehnung gegen Gott gezeichnet ist. »Es geht ein Riss durch diese Welt und durch uns selbst«, sagte Schultz. Wir Menschen revoltieren gegen Gott und sind erlösungsbedürftig. Menschen, die ihre Abhängigkeit von Gott bejahen und dem Evangelium von Jesus Christus vertrauen, haben andererseits unendlich viele Entfaltungsmöglichkeiten. »Dass das, was Gott in die Welt hineingelegt hat, erschlossen werden soll, dass Dinge zu ihrem Recht kommen sollen, habe Dooyeweerd in seinen Arbeiten immer wieder deutlich machen können«, sagte Schultz.

Glas.jpg Professor Gerrit Glas von der Freien Universität Amsterdam (NL) stellte in seinen Vorträgen heraus, dass die Amsterdamer Philosophie für die Psychologie sehr fruchtbar gemacht werden kann. Der renommierte Psychiater und Philosoph demonstrierte anhand vieler Fallbeispiele aus seiner Forschungsarbeit, dass der Dooyeweerdsche Ansatz der Komplexität des Menschen angemessener ist, als Anthropologien, die sich auf wenige Aspekte des Menschen konzentrieren. Hier bewährt sich insbesondere die Lehre von der »Souveränität im eigenen Kreis«, sagte Glas. Demnach ist die Wirklichkeit durch Sphären strukturiert, in denen jeweils eigene Gesetze gelten. So können etwa die Gesetze der Biologie nicht einfach auf die Psychologie übertragen werden oder umgekehrt. Denn während die Biologie das Biotische studiert, beschäftigt sich die Psychologie mit dem Psychischen. In beiden Spähren gelten unterschiedliche Gesetzmäßigkeiten.

Hansjürg Huber, Präsident des Schweizer Martin Bucer Seminars, hatte anlässlich seines runden Geburtstags zu dem Symposium eingeladen. Der Initiator dankte in seiner Schlussrede beiden Professoren für ihre kompetenten und engagierten Einführungsvorlesungen. Ihnen sei es gelungen, den Teilnehmern die komplexen und zugleich leistungsfähigen Ansätze vorzustellen und die teilweise kontroversen Diskussionen zu leiten. Durch die »Beschäftigung mit der Amsterdamer Philosophie sei eine Basis dafür gelegt, um weiter an dem Thema zu arbeiten«, sagte Huber. Für die Arbeit mit Menschen im Sozialwesen, in der Medizin oder Seelsorge brauchen wir eine solide christliche Anthropologie. »Wir Christen müssten sprachfähiger werden und uns in die aktuellen Debatten um Welt- und Menschenbilder einmischen«, formulierte Huber als Wunsch für weitere Symposien.

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Beitrag als PDF: Alle Wirklichkeit ist auf Gott bezogen.pdf

Alvin Plantinga im Interview

Hier ein Interview mit dem christlichen Philosophen Alvin Plantinga (zusammen ca. 25 Minuten):

Teil 1 – Argumente für Gott:

Reasons for God from CPX on Vimeo.

Teil 2 – Wo liegt Richard Dawkins falsch?:

Where Richard Dawkins goes wrong from CPX on Vimeo.

Teil 3 – Sicherer Glaube ohne Beweise?:

Sure Faith without Proof from CPX on Vimeo.

Teil 4 – Ist Gott gut?:

Is God good? from CPX on Vimeo.

Where Richard Dawkins goes wrong from CPX on Vimeo.

VD: JT

Heidegger als Versuchung

Odo Marquard beschreibt in seinem Aufsatz »Sprachmonismus und Sprachpluralismus« amüsiert, wie während seiner Studienzeit in Freiburg Martin Heidegger zur Versuchung wurde (Quelle: Skepsis in der Moderne, S.74–75). Später kamen freilich andere Versuchungen, wie z.B. die Frankfurter Schule, hinzu.

Für meine Generation – die unmittelbare Generation der Studierenden nach Ende des Zweiten Weltkriegs – war zweifellos Heidegger die Versuchung. Den Namen Heidegger habe ich zuerst 1947 in Münster gehört. Zum Winter 1949 sind drei Studenten der Philosophie – Hermann Lübbe, Karlfried Gründer und ich – dann aus Münster nach Freiburg gekommen, gleichzeitig mit Ernst Tugendhat, der aus Amerika kam und in seinen Philosophischen Aufsätzen darüber berichtet. Wir kamen auch und gerade Heideggers wegen nach Freiburg. Heidegger durfte damals noch nicht wieder lesen: Vielleicht hat gerade das zusätzlich stimuliert. Heidegger war – trotz seiner Abwesenheit – überall präsent; nur ein Beispiel: Es gab damals Professorenbilder im Ansichtskartenstil in Freiburg zu kaufen. Jede Professorenansichtskarte kostete 80 Pfennige, nur Heidegger kostete – bei gleicher Aufmachung – 1,20 D-Mark. In der Philosophie war Freiburg ein durch Heidegger missioniertes Gebiet: Alle glaubten – irgendwie – an Heidegger. Aber es gab zugleich mehrere Sekten – die Fink-Sekte, die Müller-Sekte, die Szilasi-Sekte, auch die Welte-Sekte -, die darum stritten, den »wahren« Heidegger zu repräsentieren, was sie – nicht eigentlich bei den Lehrern, aber bei den Schülern – gegeneinander unerbitt- lich machte: Anstandshalber durfte niemand die jeweils anderen Sekten auch nur besuchen. Nur wir »Münsteraner« und Ernst Tugendhat galten diesen Sekten als philosophisch unzuverlässig – sozusagen als potentielle Heidegger-Heiden – und durften als Strafe für unsere Unzuverlässigkeit schimpflicherweise alle Sekten besuchen. Die Komik dieser Situation – man traf nicht auf einen Heidegger, sondern auf vier Heideggers und auf vier Heidegger- Jargons – wurde uns sehr bald bewußt. Sie führte zur weiteren Relativierung des Heidegger-Anspruchs: So sind wir – zumindest ein wenig – Heideggers Jargon entronnen.

Wir gehen keinen vergnüglichen Zeiten entgegen

Robert Spaemann hat WELT ONLINE ein bemerkenswertes Interview gegeben und dabei das offensichtliche Problem der schwindenden Denk- und Meinungsfreiheit offensiv angesprochen: »Generell ist die Meinungsfreiheit jetzt schon auf katastrophale Weise eingeschränkt im Vergleich zu den 50er Jahren. Wir lebten damals in einem viel freieren Land. Heute liegen Tretminen überall. Das ist neu.«

Schon Jean Jacques Rousseau hat darauf hingewiesen, dass die »unbesiegbare Natur« zurück schlägt, wenn die Herrscher falsche Gesetze erlassen und gegen die Ordnung der Dinge verstoßen. Wahrheit lässt sich auch durch eine demokratische Entscheidung nicht beugen. Es kann sehr wohl einer demokratischen Entscheidung unterliegen – und das sagt auch Rousseau – wenn in einem Land gegen die Natur der Dinge gehandelt wird. Dann kann man nur abwarten, bis die Katastrophen eintreten und es sieht aus, als wären wir heute in genau dieser Lage. Es ist der Kern des Klimagipfels und es war der Ursprung der Bankenkrise, dass fundamentale Wahrheiten außer Acht gelassen wurden. Entweder wir beugen uns diesen eisernen Gesetzmäßigkeiten für unser Überleben, vor allem für das Überleben unserer Kinder und Enkel, oder wir tun es eben nicht und dann müssen allerdings nicht wir die Zeche zahlen, sondern unsere Nachkommen.

Leider sprechen heute wenige so klar wie der katholische Philosoph. DIE ZEIT schrieb mal über Spaemann: »… der Philosophieprofessor macht keine Professorenphilosophie, keine leidenschaftslose Archivarbeit an vergangenen Gedankensystemen. Seine Sprache ist intensiv und variantenreich; er schreibt von allen deutschen Philosophen das beste Deutsch. Die Denker der Vergangenheit, Platon, Augustinus oder Leibniz, sind für ihn nicht Forschungsgegenstände, sondern Gesprächspartner und Zeitgenossen einer ewigen Gegenwart«.

Hier der vollständige Text: www.welt.de.

Geist der (Zer)Störung

Bei den Vorbereitungen für einen Vortrag stieß ich bei Zygmunt Baumann erneut auf ein strenges Zitat (Ansichten der Postmoderne, 1995, S. 6):

[Die Postmoderne] ist ein Geisteszustand, der sich vor allem durch seine alles verspottende, alles aushöhlende, alles zersetzende Destruktivität auszeichnet. Es scheint zuweilen, als sei der postmoderne Geist die Kritik im Augenblick ihres definitiven Triumphes: eine Kritik, der es immer schwerer fällt, kritisch zu sein, weil sie alles, was sie zu kritisieren pflegte, zerstört hat.

Kierkegaards Sprung (Teil 5)

Dürfen Christen ihren Glauben durchdenken?

Kierkegaard diente den säkularen Existentialisten als Folie und ist Vordenker einer Theologie, die Offenbarung von Geschichte abtrennt. Er drängte bedauerlicherweise genau die Leute, die die Notwendigkeit einer lebendigen Christusbeziehung hervorhoben, in ein anti-intellektuelles Denkklima. Kierkegaard, der selbst einen erwähnenswerten Teil seines Vermögens für seine 2748 Bücher ausgab, initiierte so ungewollt eine Welle bildungsfeindlichen Christentums. Warum Verstehen, wenn Existieren im Glauben und Verstehen einander ausschließen?

Kierkegaard wollte mit seinem Rückzug in den fides qua das Christentum gegenüber der Offenbarungskritik immunisieren. Die christliche Metaphysik wurde seit Kant in den Bereich des spekulativen Denkens verwiesen und durch eine streng an den Naturwissenschaften orientierte Erkenntnistheorie ersetzt. Mit der Etablierung dieses neuzeitlichen Wissenschaftsideals setzte die massive Kritik an der historischen Zuverlässigkeit der biblischen Überlieferungen ein. Es war diese Kritik, die den ›garstigen Graben‹ tiefer und breiter machte. Und genau dieser Kritik wollte er den leidenschaftlichen Glauben entziehen. Kierkegaard reagierte auf die Kritik der Offenbarung mit dem Appell, beim Glauben stehenzubleiben oder, um es anders zu sagen, mit dem Denken in den Glaubensdingen aufzuhören. Er verkennt dabei die zentrale Stellung, die das Denken im Leben der Gläubigen ein­nimmt. Anstatt nach Antworten auf die glaubensbedrohenden Zweifel zu suchen, verbietet Kierkegaard das Denken und fordert Gehorsam. Dieser Reflex löst natürlich das Problem nicht, sondern verdrängt es. Ohne Denken gibt es keinen Glauben. Schauen wir uns deshalb abschließend kurz an, warum das Denken im Leben eines Christen von großer Bedeutung ist.

Schon auf ihren ersten Seiten hebt die Bibel die Bedeutung des Denkens heraus. Der Sündenfallbericht beginnt nämlich damit, dass die Schlange Eva auf böse Gedanken bringen will. Der Höhepunkt der Versuchung durch die Schlange ist das Versprechen: »Ihr werdet sein wie Gott und erkennen, was Gut und Böse ist« (Gen 3,5). Der Fall fand schließlich statt, als Eva sah, »dass der Baum begehrenswert war, Einsicht zu geben« (Gen 3,6). Auch in Röm 1,20–23 u. 28 lesen wir, dass der Abfall des Menschen von Gott in seinem Denken beginnt:

… weil sie Gott zwar kannten, ihn aber weder als Gott verherrlichten, noch ihm gedankt haben, sondern in ihren Gedanken in Torheit verfielen und ihr unverständiges Herz verfinstert wurde. Indem sie behaupteten, Weise zu sein, sind sie zu Narren geworden und haben die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes vertauscht mit dem Gleichnis eines Bildes …

Paulus kritisiert hier ein Denken, dass Gott die ihm gebührende Ehre verweigert. Das undankbare Denken des Menschen bleibt auf sich selbst bezogen, ist sich also selbst Gesetz. Dieses autonome Denken richtet sich gegen Gott, wird zur Selbstverherrlichung des Menschen benutzt und ersinnt allerlei Rechtfertigungen für die Sünde. Aber die Boshaftigkeit bezieht sich nicht auf die Formen des Denkens (z.B. die Logik), sondern auch auf die Denkvoraussetzungen und Inhalte. Das Denken ist finster und böse, weil es unter dem Einfluss der Sünde missbraucht wird. Die Alternative zum verkehrten Denken ist gleich­wohl nicht die Gedankenlosigkeit, sondern das gute Denken. Wir neigen dazu, den Bericht über den Sündenfall so zu deuten, als ob Einsicht und Erkenntnis an sich verwerflich seien. Aber die Problematik des Falls ist nicht Erkenntnis allgemein, sondern Erkenntnis, die unabhängig von Gott gewonnen wird. Kurt Hübner schreibt zum Sündenfallbericht:

Unter Erkenntnis aber ist hier die Hybris gemeint, dass sich der Mensch selbst, aus eigener Kraft, ohne der Gottheit zu bedürfen und ohne Rückbeziehung (religio) oder Rücksicht auf Gott, das Wissen über das so zu verstehende Gute und Böse anmaßt.

Verwerflich ist also nicht die Einsicht oder die Vernunft, sondern die heimatlose Vernunft. Schon im Alten Testament wird deutlich, dass die Alternative zum Miss­brauch des Denkens der gottgewollte Einsatz des Denkens ist. So lesen wir z.B. in Spr 28,26: »Wer auf seinen Verstand vertraut, der ist ein Tor; wer aber in Weisheit lebt, der wird entkommen.« Und wenn wir in Spr 3,5 lesen: »Verlass dich auf den Herrn von ganzem Herzen, und verlass dich nicht auf deinen Verstand«, dann will damit nicht behauptet sein, dass Gottvertrauen in die Denkfaulheit führt. Der Autor warnt uns ganz im Sinne des Sündenfallberichtes davor, den Verstand autonom, also losgelöst von Gottes Gedanken, zu ge­brauchen. Wir sind berufen nachzudenken, was Gott denkt. Der Mensch, der durch den Glauben an den gekreuzigten und auferstandenen Christus Vergebung für seine Schuld – auch die Schuld seines verkehrten Denkens – und ein neues Leben geschenkt bekommt, erhält ein neues Herz und damit ein neues Denken. Der unversöhnte Mensch kann die Interessen Gottes nicht erkennen. Der Mensch in der Gemeinschaft mit Gott hat jedoch »das Denken des Christus« (1Kor 2,16; vgl. 1,10). An die Stelle des bösen Denkens tritt Gottes Weisheit und ein Denken, das in Christus »alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis« sucht und findet (Kol 2,3). Der Friede mit Gott macht also das gute Denken wieder möglich. Er ist Voraussetzung dafür, dass die durch Sünde verwundete und selbstherrliche Vernunft heilt und ihre Heimat zurückfindet.

Das bedeutet jedoch nicht, dass sich das Denken eines Christen automatisch dem Denken Gottes unterordnet. Jemand, der Frieden mit Gott geschenkt bekommen hat, muss lernen, Gott mit seinem Denken zu lieben. Jesus sagt in Mt 22,37: »Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und ganzem Verstand«. Paulus verfolgt mit seiner Aufforderung in Röm 12,1–2 ein ähnliches Anliegen: »Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene«. Christen sollen ihre Gedanken unter den Gehorsam Christi bringen (vgl. 2Kor 10,5). Deshalb ist ein Christ ein denkender Mensch, ein Mensch, der seine nun beheimatete Vernunft dazu einsetzt, Gott die Ehre zu geben.

Kierkegaards moralischer Appell, beim Glauben stehen zu bleiben, kann möglicherweise Zweifel und Unfrieden kurzfristig verdrängen. Langfristig steht er einer Glaubensvertiefung im Weg. Nur Gottes Worte, die tief fallen (vgl. Lk 8,12; ähnlich Mt 13,19), also denkerisch verarbeitet und in ein Verhältnis zur Lebenswirklichkeit gebracht werden, können aufgehen und Frucht bringen. Kierkegaard, der die Erbauung der lebendigen Christenheit im Sinne hatte, trug so unbeabsichtigt mit zur nihilistischen Wende des 19. Jahrhunderts bei. Seine Anschauung vom Christsein hat – wie Thomas Johnson treffend konstatiert – die westliche Gesellschaft tief verunsichert. »Eine Gesellschaft, die die Rationalität preisgibt, muss Gott, die Würde des Menschen, Sinn und all­gemeingültige moralische Werte als etwas Irrationales ansehen. Eine ganze Zivilisation verlor das intellektuelle Fundament, das ihr einst das Christentum gegeben hat.«

Schluss

Rethinking Secularism: the Power of Religion in the Public Sphere

rethinking1.jpgAm 22. Oktober kam es zu einem Zusammentreffen von Judith Butler, Charles Taylor, Cornel West und Jürgen Habermas. Das Symposium »Rethinking Secularism: the Power of Religion in the Public Sphere« bot folgende Vorträge an:

  • Judith Butler: Is Judaism Zionism? Religious Sources for the Critique of Violence
  • Jürgen Habermas: »The Political« – The Rational Sense of a Questionable Inheritance of Political Theology
  • Charles Taylor: Why We Need a Radical Redefinition of Secularism
  • Cornel West: Prophetic Religion and The Future of Capitalist Civilization …

Mitschnitte der Vorträge können hier gehört werden: blogs.ssrc.org.
Interessant fand ich eine Diskussion zwischen dem Agnostiker Jürgen Habermas und dem Kommunitarist Charles Taylor. Eine (allerdings sehr schlechte) Tonaufnahme davon sowie eine Transkription gibt es hier: blogs.ssrc.org.

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