Foucaults tunesische Jungen

Wie hier am 29. März berichtet, werden gegen den französischen Philosophen Michel Foucault schwere Vorwürfe wegen Kindesmissbrauchs erhoben. Georg Blume berichtet in der heutigen Ausgabe der Wochenzeitung DIE ZEIT über den Stand der Debatte in Frankreich. Ich kann die Lektüre des Artikel sehr empfehlen. Er zeigt, dass ein Übervater der sexuellen Revolution in ziemlich finstere Machenschaften verstrickt war.

Michel Foucault soll zahlreiche Kinder sexuell missbraucht haben. Der Verdacht rüttelt an dem Denkmal des französischen Philosophen, der die Kulturrevolution der 68er- Generation prägte wie kein anderer. Als Professor am Collège de France in Paris analysierte er in seinem umfangreichen Werk die Machtbeziehungen in der Kirche, der Schule, im Gefängnis und zeigte damit Unterdrückungsmechanismen auf, die vor ihm niemand so genau erkannt hatte. Er unterlegte den 68er-Spruch »Das Private ist politisch!« mit tiefgreifender historischer Empirie und Analyse. Doch nun, 37 Jahre nach seinem Tod, sieht es so aus, als könnte Foucaults Privatleben seinen längst unbestrittenen Weltruf als Philosoph dauerhaft beschädigen. »Es wird schwer sein, den meistzitierten Intellektuellen der Welt auszuradieren; dann bliebe in unseren Bibliotheken der letzten vierzig Jahre nicht mehr viel übrig«, sagt die Pariser Literaturprofessorin Tiphaine Samoyault über Foucault. Das wäre auch gar nicht ihr Ansinnen, sie schätzt das Werk Foucaults. Sie selbst hat eine hochgelobte Biografie über Roland Barthes geschrieben, der Foucaults Freund und Liebhaber gewesen war. Doch will sich Samoyault auch nicht wie viele andere in der Pariser Intellektuellenszene über die neuen Anschuldigungen gegen Foucault hinwegsetzen. »Die Vorwürfe sind glaubwürdig, was Foucaults Ausnutzung der Kinderprostitution in Nordafrika betrifft«, sagt sie, »und der aktuelle Kontext macht diese sogenannten Enthüllungen spektakulär.«

Ist das überraschend? Nein. Viele Insider wussten das schon lange. Auch der neugierige Leser postmoderner Literatur konnte entsprechende Hinweise finden, ohne dafür große Hürden überwinden zu müssen. Bereits 2010 habe ich im Blog geschrieben:

Als Heuchelei empfinde ich es auch, dass in unserer postmodernen Lebenskultur übersehen wird, dass etliche Väter der Postmoderne die »Grenzüberschreitung« erkenntnistheoretisch begründet haben. Verweisen ließe sich hier z.B. auf Marquis de Sade, Georges Bataille oder manche Prominente der 68er-Generation (siehe auch hier). Zitieren möchte ich Michel Foucault, der sich als Übervater der Postmoderne-Debatte theoretisch und praktisch für eine Sexualität »ohne Gesetz« stark machte. In einem späten Gespräch mit Edmund White sagte Foucault (Interview mit Edmund White , 12. Mai 1990, in: James Miller, Die Leidenschaft des Michel Foucault, Kiepenheuer und Witsch 1995, S. 81): „In einem gewissen Sinne habe ich während meines gesamten Lebens versucht, intellektuelle Dinge zu tun, um schöne Knaben anzuziehen.“

Vielleicht kommt ja doch noch etwas Bewegung in die Debatte über die Sexuelle Revolution? Noch einmal. Ich empfehle den Artikel sehr. Zu finden in DIE ZEIT, Nr. 15, 8. April 2021, S. 49.

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Clemens Altenberg
3 Jahre zuvor

Danke, werde ich mir holen! Ich habe vor ein paar Jahren einmal versucht, etwas (philosophisch) Kritisches über Foucault in einem postmodernen Journal zu veröffentlichen. Haben sie natürlich nicht angenommen. Erst Jahre später habe ich es dann woanders untergebracht.

Schlotti
3 Jahre zuvor

@Clemens Altenberg Manchmal „trifft“ man sich ja in den Kommentaren, um sich auszutauschen. Oder man merkt, wie unterschiedlich man geprägt und auch begabt ist. Als sie ihren philosophischen Artikel erwähnten, musste ich an meine erste Begegnung mit der Philosophie denken. Ernst gemeint bewundere ich sie, dass sie sich in der Philosophie nicht nur auskennen, sondern in ihr zuhause sind. So ganz anders als ich … Während meiner theologischen Ausbildung bin ich natürlich auf Bultmann gestoßen. Wer auf Bultmann stößt, hört früher oder später auch den Namen Martin Heidegger, der ihn ja tief geprägt hat. Was macht also ein eifriger Theologiestudent? Ich bin in die Bibliothek gegangen und habe mir „Sein und Zeit“ genommen, mich hingesetzt und angefangen zu lesen. Ich habe ungelogen ca. zwanzig Seiten gelesen und mich dann zurückgelehnt, um nachzudenken, was mir der Autor sagen will. Dabei wurde mir mehr als deutlich, dass ich nichts, wirklich gar nichts, überhaupt nichts verstanden habe. Null. Vielmehr hatte ich das Gefühl,… Weiterlesen »

Last edited 3 Jahre zuvor by Schlotti
Clemens Altenberg
3 Jahre zuvor

@ Schlotti

Sein und Zeit war mir auch zu hoch und habe es nach wenigen Seiten aufgegeben. Gott sei Dank hatte ich davor andere Philosophiebücher gelesen, die ich verstehen und die mich begeistern konnten. Allen voran natürlich die Apologie des Sokrates, einen besseren Einstieg gibt es nicht.

Die Grenzen zwischen Theologie und Philosophie sind bzw. waren lange fließend. Wie die christliche Theologie schon von Anfang an nicht ohne Philosophie auskam, kann man sehr schön und gut verständlich bei George Karamanolis nachlesen: The Philosophy of Early Christianity.

Die postmoderne Zeitschrift, die damals meinen Artikel abgelehnt hat, war übrigens an der Fakultät der evangelischen Theologie angesiedelt. Einen der Redakteure habe ich später besser kennengelernt, ein blitzgescheiter, sympathischer Mensch, aber seine theologisch-phänomenologischen Texte sagen mir so gut wie gar nichts.

Liebe Grüße,

Clemens  

Ben
3 Jahre zuvor

Auch wenn es vom Thema abweicht: Ich möchte ein Buch empfehlen, in dem Philosophie und Theologie auf herrliche, humorvolle und sinnvolle Weise auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden: „Sokrates trifft Jesus“ von Peter Kreeft. Hab selten etwas so gutes gelesen.

Clemens Altenberg
3 Jahre zuvor

@ Ben

Danke für den Tipp, habe es mir gerade bestellt. Mit dem Autor, einem katholischen Sokrates-Bewunderer, werde ich mich höchstwahrscheinlich gut anfreunden können.

Clemens Altenberg
3 Jahre zuvor

Seine Jünger hat es ja auch nicht davon abgehalten seine Jünger zu sein, dass er nicht an Aids „glaubte“, obwohl er es am eigenen Leib erfuhr, und selbst nach einem Zusammenbruch sich weiter ungeschützt in Schwulenbars- und bädern herumtrieb, nichts von Safer Sex hielt und so viele Männer mit in den Tod riss.

Es sind natürlich nicht alle liberals Fans von Foucault, die beste Kritik an ihm habe ich bei Mark Lilla gelesen: „Der Hemmungslose Geist. Die Tyrannophilie der Intellektuellen.“ Darin wird auch Derrida zerlegt.

Jutta
3 Jahre zuvor

??? DLF: Das französische Magazin „jeune afrique“ hat vor Ort in Tunesien recherchiert. In der vor wenigen Tagen erschienenen Reportage erinnern sich einige Zeitzeuginnen und Zeitzeugen anders an die Ereignisse vor über 50 Jahren in Sidi Bou Saïd: Foucault habe sich damals nicht pädophil verhalten, wird ein Mann namens Moncef Ben Abbes zitiert. Der Franzose sei von „Jungen von 17 oder 18 Jahren“ verführt worden, „mit denen er sich für kurze Zeit in den Wäldchen unter dem Leuchtturm, neben dem Friedhof getroffen“ habe. Auch sexuelle Kontakte mit Jugendlichen in diesem Alter wären allerdings nach den damals in Tunesien und Frankreich geltenden Gesetzen illegal gewesen. https://www.deutschlandfunk.de/vorwuerfe-gegen-michel-foucault-es-klingt-alles-sehr-sehr.691.de.html?dram:article_id=495404 Wahrscheinlich gibt es keine Beweise für oder dagegen. Aber sind solche Themen wirklich wichtig? Es gibt so viel Mißbrauch auf beiden Seiten, sexuellen, emotionalen wie auch geistlichen – in der Welt und in Gemeinden. Und was beweist das letztlich schon so oder so, wenn er des Mißbrauchs schuldig war? Er ist Welt. Er ist Philosoph. Wie viele… Weiterlesen »

Last edited 3 Jahre zuvor by Jutta
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