Anthropozentrismus als Herausforderung
Wolfhart Pannenberg (1928–2014), ein großer systematischer Theologe aus München, hat darauf hingewiesen, dass die heutigen theologischen Positionen sehr eng mit der Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts in Verbindung stehen. Die Verknüpfung „mit der alten Kirche und dem Mittelalter“ ist demgegenüber nicht so eng, da damals „die Problemlage“ eine andere war.
Wir können dieser Analyse mit kleinen Einschränkungen zustimmen, besonders hinsichtlich der protestantischen Kirchen. Die katholische oder orthodoxe Theologie war und ist nach ihrem Selbstverständnis stärker um eine Kontinuität mit der Alten Kirche und der Scholastik bemüht. Allerdings ist heute auch unter den Lutheranern, Reformierten oder Evangelikalen die Sehnsucht zu finden, eine Verbindung zum alten und mittelalterlichen Denken herzustellen. Umgekehrt bemüht sich die Katholische Kirche seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) um Anschlussfähigkeit an modernes Denken.
Aber worauf genau reagierte die Theologie des 19. Jahrhunderts?
Konservative wie liberale Theologen stellen einen Zusammenhang mit der Aufklärung her, insbesondere mit der Philosophie Immanuel Kants (1724–1804).[ii] Obwohl der Einfluss von Kant und der Aufklärung groß war, formten freilich noch andere Kräfte Denkströmungen und Umstände die theologischen Entwicklungen ab dem 19. Jahrhundert. Das 18. Jahrhundert brachte nicht nur den Übergang vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild, sondern auch den Übergang von einem gottzentrierten zu einem menschenzentrierten Weltbild. Der Mensch rückte mehr und mehr in den Mittelpunkt. Karl Barth (1886–1968) sprach in diesem Zusammenhang vom absolutistischen Menschen.
„‚Absolutismus‘ kann offenbar allgemein bedeuten: ein Lebenssystem, das gegründet ist auf die gläubige Voraussetzung der Allmacht des menschlichen Vermögens. Der Mensch, der seine eigene Kraft, sein Können, die in seiner Humanität, d. h. in seinem Menschsein als solchem schlummernde Potentialität entdeckt, der sie als Letztes, Eigentliches, Absolutes, will sagen: als ein Gelöstes, in sich selbst Berechtigtes und Bevollmächtigtes und Mächtiges versteht, der sie darum hemmungslos nach allen Seiten in Gang setzt, dieser Mensch ist der absolutistische Mensch.“
Vor Karl Barth kritisierte bereits Erich Schaeder (1861–1936) die anthropozentrische Theologie: „Sie neigt in verschiedenen Formen und Graden dahin, die offenbare Herrlichkeit Gottes durch die Rücksicht auf den Menschen und auf das Menschliche zu verkürzen oder zu lädieren. In das Zentrum ihrer Betrachtung, in das Gott gehört, schiebt sich ihr mit größerer oder geringerer Energie der Mensch.“ Demnach hat der Mensch zu sich selbst gefunden. Er besann sich auf seine Fähigkeiten und setze sich selbst zum „Maß aller Dinge“.
Der aus einer anderen Ecke kommende Philosoph Hans Blumenberg (1920–1996) hat eine ähnliche Beobachtung gemacht. Anders als Barth oder Schaeder bewertete er die Tendenz als Befreiung. Er sprach von einer „Selbstbehauptung“ des Menschen „gegen den theologischen Absolutismus“ in der Neuzeit. Das Denken und Leben im 18. Jahrhundert war also erheblich geprägt von dieser Konzentration auf das menschliche Erkennen, Wissen und Wollen, kurz: auf das Vermögen des Menschen. Dieser Anthropozentrismus, wie wir es nennen können, hat Strömungen wie Aufklärung, Säkularisierung und Humanismus beflügelt.