Gesellschaft

Kultur und Offenbarung

Tobias hat meinen Beitrag über Karl Barth und die Kontextualisierung kommentiert und der Diskussion einen neuen (weniger historischen, sondern mehr inhaltlichen) Schwerpunkt abverlangt. Der folgende Beitrag widmet sich daher dem Thema »Kultur und Offenbarung« und nimmt direkt Bezug auf einen Aufsatz des Buches ZeitGeist.

Aus pragmatischen Gründen biete ich meine Anmerkung wieder als PDF-Datei an. Ich kann meine Gedanken so besser sortieren als beim direkten Schreiben im Blog und außerdem Quellenangaben einarbeiten. Zudem ist auf diese Weise das Ausdrucken und Lesen – falls man es denn überhaupt will – einfacher.

Hier der Beitrag: offenbarungdurchkultur.pdf.

Auf nach »Little Bagdad«

jaramana1.jpgPetra Tabeling beschreibt in einem Artikel für Das Parlament (12. Nov. 2007, S. 3) den Exodus der Christen aus dem Irak. Mehr als 20.000 irakische Flüchtlinge haben im vergangenen Jahr Zuflucht in den Ländern der EU gesucht, davon allein 9.000 im liberalen Schweden. Der überwiegende Teil der irakischen Flüchtlinge sind Christen, die im Irak nur etwa drei Prozent der Bevölkerung ausmachen. Sie gehören den Chaldäern, der syrisch-orthodoxen oder der assyrischen Kirche an.

Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) dokumentiert im Jahrbuch Märtyrer 2007 die Situation der Christen im Irak. Der Beitrag über die größte Christenverfolgung der Gegenwart kann hier frei heruntergeladen werden: GfbV_auszug.pdf.

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Bild: Die Hauptstraße im Damaszener Viertel Jaramana. Viele der Schulkinder sind Iraker. Seit dem Ansturm der Flüchtlinge hat sich die Schülerstärke in vielen Klassen der syrischen Stadt von 25 auf 60 erhöht (Quelle: G.M. Keller mit freundlicher Genehmigung).

Wo sind die türkischen Christen?

TürkeiWußten Sie, dass vor knapp 100 Jahren der Anteil der Christen an der Gesamtbevölkerung in der Türkei bei 30 Prozent lag? Heute sind nur noch ca. 0,2 Prozent der in der Türkei lebenden Menschen Christen.

Während der diesjährigen Arbeit am Jahrbuch für Christenverfolgung hatte ich das Vergnügen, die Soziologin Tessa Hofmann kennenzulernen. Frau Hofmann, eine Expertin für Minderheiten- und Genozidforschung, verfügt über exzellente Kenntnisse der türkischen Geschichte. In ihrem Beirag zum Jahrbuch hat sie die Entchristianisierung und die Situation der Christen heute in der Türkei detailliert und eindrücklich beschrieben. Klingt das nicht spannend?

Das heutige türkische Staatsgebiet bildete für knapp zwei Jahrtausende ein zutiefst christlich geprägtes Land. Nicht nur, dass sich dort zahlreiche Schauplätze von Ereignissen des Neuen und Alten Testaments noch immer in Augenschein nehmen lassen – vom Archeberg Ararat im Armenischen Hochland bis zum auch von Muslimen verehrten Geburtsort Abrahams in Urfa –, sondern frühe und bis in das 20. Jahrhundert zahlenmäßig wie auch in ihren kulturellen Leistungen bedeutende christliche Gemeinschaften trugen erheblich zu dieser Prägung bei – auch nach der Eroberung der byzantinischen Hauptstadt Konstantinopel durch die Osmanen (1453). Dass wir trotz Apostelgeschichte, trotz der bedeutenden Kirchenväter, Märtyrer und Heiligen Kleinasiens – Basileios der Große etwa, Grigorios von Nazianz, Grigorios von Nyssa oder Nikolaos von Myra – die Türkei nicht mehr als uraltes christliches Kulturland begreifen, liegt an der Radikalität, mit der türkische Nationalisten im Verlauf eines knappen Jahrhunderts das Christentum in Kleinasien und Nordmesopotamien entwurzelten und die Erinnerung an seine Träger zu tilgen versuchten.

Gern können Sie den Aufsatz »Wer in der Türkei Christ ist, zahlt einen Preis dafür …« selbst lesen. Erfreulicherweise wurde er freigegeben und kann hier heruntergeladen werden: Hofmann_auszug.pdf.

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Bild: Creative Commons

Nobelpreisträger James Watson erneut in der Kritik

JamesDWatson.jpgJames D. Watson wurde von einer leitenden Funktion des Cold Spring Harbor Laboratoriums in New York vorerst entbunden, da seine Äußerungen über die angeblich mangelhafte Intelligenz von Schwarzafrikanern eine Welle des Protestes ausgelöst hatten (vgl. Die Welt).

Das Laboratorium entschied richtig. Schade nur, dass Watson’s Forderung, erblich belastete Föten zu töten, trotz einiger internationaler Empörung für ihn folgenlos blieb. Es wird »während der nächsten Jahrzehnte einen immer stärkeren Konsens darüber geben, daß Menschen das Recht haben, dem Leben erbgeschädigter Föten ein Ende zu setzen«, schrieb er in seinem Aufsatz »Die Ethik des Genoms« (FAZ, Nr. 227, 26.09.2000).

Einen Artikel über die bizzare Ethik des umstrittenen Mitentdeckers der Doppelhelixstruktur können sie hier herunterladen: Die Alpträume des James D. Watson.

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Bild: National Library of Medicine

Jahrbuch zur Christenverfolgung »Märtyrer 2007« erschienen

Von den weltweit rund 2,1 Milliarden Christen leiden ca. 200 Millionen wegen ihres Glaubens unter Diskriminierungen, schwerwiegenden Benachteiligungen und zum Teil heftigen Anfeindungen bis hin zu Verfolgung. Informationen dazu liefert das neue Jahrbuch zur Christenverfolgung, das von den Herausgebern, der Deutschen Evangelischen Allianz (DEA) und der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM), bei einer Presskonferenz am 10. Oktober in Bonn vorgestellt worden ist.

Im vergangenen Jahr ist die Lage der meisten betroffenen Christen gleichbleibend angespannt geblieben oder hat sich sogar noch weiter verschlechtert. Vor allem im Irak hat sich die Situation dramatisch zugespitzt. Drei Viertel der christlichen Iraker haben wegen gezielter Einschüchterungen, Übergriffen und Entführungen ihre Heimat verlassen. Auch in Indien und Pakistan ist die Zahl der Drohungen und Gewalttaten durch nichtstaatliche Extremisten weiter gestiegen. Völlig neu sind in Pakistan Drohungen gegen Christen, entweder zum Islam überzutreten oder vertrieben zu werden.

Informationslage hat sich verbessert

Bei der Vorstellung des Jahrbuches in Bonn erläuterte Prof. Dr. mult. Thomas Schirrmacher, Vorstandsmitglied der IGFM und Geschäftsführer des Arbeitskreises Menschenrechte der Deutschen Evangelischen Allianz:

Es ist erfreulich, dass es wie bei anderen Menschenrechtsverletzungen immer selbstverständlicher wird, Verletzungen der Religionsfreiheit und Verfolgung aus religiösen Gründen zu dokumentieren und anzuprangern und Medien und Politik das Thema nicht mehr verschämt verschweigen.

Dass der Weg von der Dokumentation von Verbrechen bis zu ihrer Überwindung noch lang ist, betonte IGFM Mitarbeiter Max Klingberg:

Es ist erschreckend, wie sehr sich unsere Gesellschaft an die alltägliche Entrechtung christlicher Minderheiten gewöhnt hat. Nimmt man internationale Rechtsstandards als Maßstab, so ist die Lage von Millionen von Christen haarsträubend und zum Teil auch eine einzige Katastrophe. Im beschaulichen Mitteleuropa braucht es ein gehöriges Maß an Vorstellungskraft, um sich auch nur annähernd in die tägliche Lebenswirklichkeit von Millionen anderer Christen hinein zu denken.

Religiös und politisch motivierte Verfolgung von Christen

Dabei ist die Liste der Staaten, in denen Christen diskriminiert, ja zum Teil heftig diskriminiert oder verfolgt werden, bedrückend lang. Dazu zählen neben Indien, in dem extremistische Hinduisten für eine Vielzahl von Gewaltverbrechen an Christen verantwortlich sind, vor allem die verbliebenen Einparteiendiktaturen sozialistischer Prägung und auch das neomarxistische Regime in Eritrea. Bei der Mehrheit der Länder, in denen Christen um ihres Glaubens willen leiden, handelt es sich allerdings um islamisch geprägte Staaten. Darunter sind mitnichten nur die ärmsten Entwicklungsländer, sondern auch wohlhabende Golfstaaten und Urlaubs-»Paradiese« wie Ägypten.

Zum Inhalt des Jahrbuches

Das Jahrbuch dokumentiert unter anderem den Beschluss des Bundestages, der die Bundesregierung auffordert, sich weltweit gegen Christenverfolgung und Verfolgung anderer Religionen einzusetzen, so wie die Rede der menschenrechtspolitischen Sprecherin der Unionsfraktion Erika Steinbach in der dazugehörenden Bundestagsdebatte. Fachleute, wie Dr. Tessa Hofmann vom Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin, liefern geschichtliche und aktuelle Länderberichte zu Indonesien und der Türkei. Thomas Schirrmacher legt seinen Vortrag zugunsten eines Ethik-Codes der Weltweiten Evangelischen Allianz gemeinsam mit Vatikan und Weltkirchenrat vor. Die Gesellschaft für bedrohte Völker warnt vor dem Ende der christlichen Minderheit im Irak. Open Doors dokumentiert die Lage weltweit sowie Übergriffe gegen Christen in Indien. Dazu gibt es weitere Dokumente und Informationen, so eine Darstellung des wegweisenden Asyl-Urteils des Verwaltungsgerichts Stuttgart zugunsten einer zum Christentum konvertierten Iranerin und Hintergrundinformationen zur Ermordung von drei Christen in Malatya (Türkei).

Literaturangaben

Studien zur Religionsfreiheit / Studies in Religious Freedom – ISSN 1618-7865, Bd. 12
Max Klingberg, Thomas Schirrmacher, Ron Kubsch (Hg.): Märtyrer 2007 – Das Jahrbuch zur Christenverfolgung heute, zugleich idea-Dokumentation 10/2007, 234 S. Pb. 9,90 €, ISBN 978-3-938116-35-7.

Expelled – No Intelligence Allowed

Der Filmemacher Mark Mathis produziert derzeit einen Kinofilm über Wissenschaftler, die sich zum Intelligent Design (ID) bekennen und deshalb mit allerlei Repressalien zu kämpfen haben. Durch den Film führt der amerikanische Schauspieler und Journalist Ben Stein.

Während der Trailer viel versprechend aussieht, wird das Projekt vom Nachrichtenmagazin Der Spiegel als fundamentalistische Propaganda für den Kreationismus eingestuft. Vorgeworfen wird den Produzenten, dass sie R. Dawkins, Paul Z. Myers und andere Evolutionisten unter dem Vorwand interviewt hätten, einen ausgewogenen Streifen über die aktuelle ID-Debatte zu drehen. Tatsächlich sei die Dokumentation jedoch eine Verteidigung des ID-Konzeptes. Die Produzenten und Ben Stein weisen den Vorwurf zurück und erklärten The New York Times, dass kein Interviewpartner über die Absicht des Films im Unklaren gelassen worden sei. Die Tatsache, dass der Film ursprünglich »Crossroads« heißen sollte und dann zu »Expelled – No Intelligence Allowed« umbenannt wurde, hätte rein werbetechnische Gründe gehabt.

Steht uns eine neue Inquisition bevor?

feuerWährend die Klischeevorstellungen über die Inquisition und den Index verbotener Bücher durch die Öffnung der Vatikanarchive im Jahr 1998 allmählich korrigiert werden, erscheinen am Horizont neue zensierende Geister. Drei Beispiele:

(1) Kürzlich wurde in den U.S.A damit begonnen, die Gefängnisbibliotheken von christlicher Literatur zu befreien, um einer möglichen Fanatisierung der Insassen zuvor zu kommen. Die Liste der weiterhin erlaubten christlichen Literatur umfasst lediglich 150 Bücher. Auch einige Bücher von C. S. Lewis sind in Zukunft nicht erwünscht. (Mark Earley von der Organisation Prison Fellowship hat darüber berichtet und die New York Times informierte in einem Artikel über scharfe Proteste.)

(2) Ebenfalls in den U.S.A. wurde dem renommierten Astronom Guillermo Gonzalez im April 2007 eine Professur verweigert, weil er sich zum »Intelligent Design« bekennt. Wozu haben wir eigentlich all die Antidiskriminierungsgesetze?

(3) Anfang Oktober wird der Europarat darüber tagen, ob der Kreationismus einschließlich »Intelligent Design« eine Gefahr für die Wissenschaft und die Menschenrechte darstellt. Der französische Europapolitiker Guy Lengagne, der das umstrittene (105 Punkte umfassende) Dokument 11375 über die »Gefahren des Kreationismus« wesentlich initiierte, würde gern all jene vom Wissenschaftsbetrieb auszuschließen, die intellektuelle Zweifel an der Evolutionstheorie hegen. Die Argumentationsfigur sieht ungefähr so aus: Da es absolut keinen Zweifel an der Wissenschaftlichkeit der Evolutionstheorie gibt, können Kreationisten und ID’ler nur fundamentalistisch verführte Ignoranten sein. Also:

Wenn wir nicht wachsam sind, sind Werte, die den Kern des Europarates bilden, in Gefahr, von kreationistischen Fundamentalisten bedroht zu werden.

Der Wissenschaftstheoretiker Hans Albert dürfte an diesem Argument seine Freude haben. Es ist ein klassischer Fall für die »Immunisierung« eines (in diesem Fall ›evolutionistischen‹) Dogmas.

Andreas Dippel hat für das Medienmagazin pro die wichtigsten Hintergrundinformationen über die Debatte im Europarat kompakt zusammengestellt.

Die Europäische Evangelische Allianz ermutigt dazu, auf die Abgeordneten zuzugehen und gegen drohende Denkverbote zu protestieren. Es sei skandalös, dass der suggestive Entwurf des Europarates behaupte, die Demokratie und die Menschenrechte seien durch den Kreationismus gefährdet, heißt es in ihrer Stellungnahme. Eine ähnliche Auffassung vertritt Paul C. Murdoch vom Arbeitskreis der für Religionsfreiheit der Deutschen Evangelischen Allianz in einem Brief an den Leiter der Deutschen Delegation in der Versammlung des Europarats.

Mein Kollege, Freund und Philosoph Thomas K. Johnson hat einen offenen (und zugleich sehr persönlichen) Brief an Senator Guy Lengagne geschrieben. Matthew Cserhati hat für die Hungarian Protestant Creation Research Group in einem Schreiben berechtigten Unmut formuliert. Thomas Torrance, vom Departmen of Economics der School of Management & Languages in Edinburgh hat ebenfalls einen bedenkenswerten Kommentar verfasst. (Alle drei Dokumente biete ich mit freundlicher Genehmigung der Verfasser an.) Die Zensurgeister scheinen sehr nervös zu sein. Hoffen wir, dass sie bald wieder verschwinden.

„Kultur macht etwas mit uns“

Nachfolgend die Wiedergabe eines Interviews zum Buch »Die Postmoderne: Abschied von der Eindeutigkeit« (Bonner Querschnitte, Ausgabe 42, 09/2007).

»Kultur macht etwas mit uns«
Bonner Querschnitte im Gespräch mit Ron Kubsch über das Buch
»Die Postmoderne: Abschied von der Eindeutigkeit« und die
Vermischung von Kultur und Evangelium.

BQ: Herr Kubsch, Sie haben 2007 ein Buch über die Postmoderne geschrieben. Einige Leute sprechen bereits von der Post-Postmoderne.
RK: In der Tat scheint die große Begeisterung für die Postmoderne bereits verflogen zu sein. Nicht nur die drei großen französischen Denker der Postmoderne gehören der Geschichte an, in diesem Sommer verstarb nun auch der einflussreiche Richard Rorty. Trotzdem werden die Grabgesänge zu früh angestimmt. Die Postmoderne hat unsere Lebenskultur flächendeckend verändert und wird uns noch über viele Jahre prägen. Außerdem hinkt die fromme Lebenswelt – wie so oft – der allgemeinen Entwicklung hinterher. Die Theorie der Postmoderne ist bisher in Deutschland aus Gründen, die ich jetzt nicht aufzählen möchte, nie richtig an­gekommen. Nun erobert sie den Evangelikalismus doch noch. Sie kommt dies­mal nicht aus Paris, sondern aus den post-evangelikalen Kreisen der U.S.A.
BQ: Können Sie, bevor wir konkreter werden, kurz erklären, was Sie unter »Postmoderne« verstehen?
RK: Nein, kurz kann ich das nicht erklären. Ich habe das vor einigen Jahren bei einer Veranstaltung einmal versucht. Anschließend bedankte sich eine Frau bei mir für die Einführung und fragte, was das Thema eigentlich mit der »Post« zu tun habe (lacht).
Im Ernst: Die Vorsilbe »post« mit der Bedeutung »nach« hilft uns weiter. Die Postmoderne repräsentiert nämlich die Zeit oder besser das Denken nach der Neuzeit (französisch: temps modernes). Die Neuzeit war geprägt von Optimismus, Einheitsdenken und der Suche nach allgemeingültigen Gesetzen und Wertvorstellungen. Aus der Sicht bedeutender postmoderner Philosophen ist das neuzeitliche Programm gescheitert. Es habe uns nicht geholfen, die Welt besser zu verstehen oder besser zu machen, es habe uns nach Auschwitz geführt. Die Ideale der Neuzeit erscheinen den postmodernen Theoretikern suspekt. Sie radikalisieren die Vernunftkritik – die ja schon in die Neuzeit eingeschlossen war – und wenden sie auf die Vernunft selbst an. So verabschiedet sich die Postmoderne von den Einheitsträumereien und einer „reinen Vernunft“. Sie zielt auf radikale Vielfalt. Die Vernunft, die Gerechtigkeit, die Religion oder die Wahrheit kann es für die nach-moderne Philosophie nicht mehr geben. Der bedeutendste Philosoph der Postmoderne, François Lyotard, sagte einmal sinngemäß: Wir haben die Sehnsucht nach dem Ganzen und dem Einen teuer bezahlt. Wir brauchen und wollen das nicht mehr. Die Trauerarbeit ist inzwischen abgeschlossen. Unsere Antwort muss lauten: Krieg dem Ganzen.
BQ: Wie sieht dieser Krieg gegen das Ganze denn aus?
RK: Die Zeit der Suche nach einem alles erklärenden Weltbild ist vorbei. Es werden keine Manifeste mehr verfasst. Die Idee eines freien, selbstbestimmten Menschen gilt als überholte Fiktion. Das Interesse für Brüche, das Kleine, das Vorübergehende und das Unerklärliche wächst. Universelle Regeln und Über­zeugungen werden durch Verträge ersetzt, die immer nur Verträge des Übergangs sein können. Das Absolute verschwindet, da es nach Auffassung der Postmodernen nur in den Terror führen kann.
BQ: Können Sie das an praktischen Beispielen erläutern?
RK: Die Gesellschaft fragmentarisiert immer stärker, da es keine verbindenden Leitideen mehr gibt. So wie in der Fernsehwelt monatlich neue Spartenkanäle eröffnet werden, bilden sich in der Gesellschaft Subkulturen, die sich untereinander nur noch wenig zu sagen haben. Wir erleben eine Abkehr von der Sonderstellung des Menschen, die im Abendland selbstverständlich war. Die Kunst liefert nur wenige Innovationen und selten klare Botschaften, sondern ist vor allem Wiederholung und Verfremdung dessen, was wir schon kennen. Oder nehmen wir das Thema Sexualität. Sexualität ist in der Postmoderne keine Frage allgemeingültiger Werte, sondern Verhandlungssache. Solange Sexualität freiwillig zustande kommt, ist alles erlaubt. Wer interessiert sich noch dafür, ob es recht oder richtig ist, Gruppensex zu haben oder homosexuelle Neigungen auszuleben? Jemand, der sich in öffentlichen Diskursen noch auf göttliche Gebote oder eine Schöpfungsordnung beruft, hat es schwer. Meinungsumfragen werden da deutlich ernster genommen. Interessant ist übrigens, dass die Freiheit des Menschen andererseits scharf bestritten wird. Man könnte also fragen: Unter welchen Bedingungen kommen solche „Verhandlungsergebnisse“ eigentlich freiwillig zustande?
BQ: Sind das die Gründe, warum wir uns mit dem postmoderne Denken beschäftigen müssen?
RK: Unsere Lebenswelt prägt uns. Die Kultur besetzt unsere Gewohnheiten, unsere Überzeugungen und selbstverständlich unsere Sprache. Leider werden wir uns dieser tiefen Einprägungen oft erst bewusst, wenn wir für längere Zeit unseren Kulturraum wechseln. Ich habe mehrere Kulturen kennengelernt und kann jedem, dem es möglich ist, empfehlen, das auch mal zu machen. Die Kultur, mit der wir aufgewachsen sind, tragen wir immer mit uns herum. Wenn wir das nicht durchschauen und verstehen, kann sie in unserem Leben viel Macht entfalten. Deshalb ist es so wichtig, sich mit der eigenen Lebenswelt zu be­schäftigen.
BQ: Das klingt fast kulturfeindlich. Haben Sie etwas gegen Kultur, vielleicht etwas gegen die postmoderne Kultur?
RK: Im Gegenteil, ohne Kultur können wir ja überhaupt nicht leben. Kultur ist Ausdruck unserer Geschöpflichkeit. Aber wir dürfen nicht unterschätzen, dass Kultur auch etwas mit uns macht. Deshalb müssen wir Kulturen reflektieren, verstehen und manchmal auch kritisieren. Christen, die in einer dem Evangelium gegenüber feindlichen Kultur leben, müssen viele Spannungen aushalten. Im Neuen Testament lesen wir davon, dass die Gemeinden manchmal eine Gegenkultur zur Welt entwickelt haben. Andere Kulturphänomene, wie etwa die griechische Sprache im römischen Reich, haben die Verbreitung des Evangeliums enorm vereinfacht. So differenziert sehe ich auch die Postmoderne. Manche Einsichten der postmodernen Denker sind sehr hilfreich. Die Kritik an der Deutungshoheit der Naturwissenschaften korrigiert zum Beispiel die eindimensional verwissenschaftlichte Wahrnehmung der Welt. Eine postmoderne Kultur ist pluralistisch und erlaubt uns, unseren Glauben zu leben. Andere Aspekte, wie beispielsweise der strenge Relativismus, sind kritikwürdig. Ein harter Postmodernismus unterwirft alles der Zeitlichkeit, da gibt es keine zeitlosen Botschaften oder Werte mehr.
BQ: Aber die evangelistische Arbeit ist doch unter den postmodernen Bedingungen eher einfacher. Die Menschen sind wieder offen für Religion.
RK: Natürlich können wir an dieser Offenheit anknüpfen. Wenn wir allerdings den postmodernen Bezugsrahmen hinterfragen, machen die eben noch so offenen Menschen schnell wieder dicht. Nun sagen manche, wir müssen das Evangelium auf eine Weise verkündigen, dass es mit dem postmodernen Denken kompatibel ist. Wir müssen unsere Theologie, unsere Gemeinde- und Missionsarbeit usw. an die neuen Bedingungen anpassen. Das ist – etwas überspitzt – die Position einiger Aktivisten der Emerging Church-Bewegung.
Meines Erachtens kann das nicht funktionieren. Streng genommen ist das Evangelium innerhalb eines postmodernen Bezugsrahmens überhaupt nicht verstehbar. Wolfgang Welsch, der renommierteste postmoderne Philosoph in Deutschland, sagt: Die Nicht-Existenz eine Metaregel, eines obersten Prinzips, eines Gottes, eines Königs, eines Jüngsten Gerichtes usw. macht das Herz des Postmodernismus aus. Wenn wir nun versuchen, das Evangelium mit dieser Grundeinsicht zu versöhnen, verfremden wir es. Was am Ende dabei herauskommt, ist ein anderes Evangelium. Die Leute verstehen gar nicht, worum es geht. Wir landen so bei neuen Formen des Mystizismus. Deshalb müssen wir das Denken der Postmoderne selbst herausfordern, so, wie früher viele Christen das neuzeitliche Denken herausgefordert haben. Die Botschaft der Bibel ist für das postmoderne Wirklichkeitsverständnis eine Provokation. Sie sagt, es gibt einen lebendigen Gott. Dieser Gott hat sich uns Menschen verstehbar und ein für allemal verbindlich offenbart. Dieser Gott wird eines Tages Rechenschaft von uns fordern. In einem postmodernen Bezugsrahmen sind diese Botschaften Nonsens. Also müssen wir uns mit diesem Bezugsrahmen beschäftigen. Wir kommen an dieser Auseinandersetzung nicht vorbei.
BQ: Aber hat nicht Lesslie Newbigin gezeigt, dass es ein kulturfreies Evangelium überhaupt nicht geben kann? Das Evangelium kann doch in viele Kulturen inkarnieren.
RK: Evangelium geht immer in Kultur ein und ist insofern nie kulturfrei. Andererseits dürfen wir das Evangelium nicht mit Kultur verwechseln. Es ist ein großes Verdienst von Karl Barth, deutlich herausgearbeitet zu haben, dass keine Kultur ein eigenes Recht vor dem Evangelium hat. Kulturelle Unterschiede wollen beachtet sein, aber sie sind nicht das Entscheidende. Der Kulturprotestantismus hatte im 19. Jahrhundert Evangelium mit Kultur und Bildung verwechselt. Karl Barth durchschaute das und plädierte mutig für das Hören auf das Wort Gottes. Ich bin nun wahrlich kein Barthianer, aber für diesen Mut bin ich ihm sehr dank­bar. Es besorgt mich, dass diese Unterscheidung wieder in Vergessenheit gerät.
BQ: Können Sie konkreter werden?
RK: Zurecht machen uns heute christliche Philosophen, Missiologen und Soziologen darauf aufmerksam, dass unser Christsein immer durch Kultur imprägniert ist. Das wurde oft übersehen und so haben wir manchmal den bürgerlichen Konservatismus des Abendlandes mit dem Evangelium verwechselt. Dies zu durchschauen, ist eine herausragende Leistung z. B. von Lesslie Newbigin. Andererseits neigen heute jedoch viele Evangelikale oder Post-Evangelikale zur Überhöhung der Kultur. Das geht so weit, dass die Kultur wieder als Raum einer besonderen Gottesoffenbarung verstanden wird. So wird das Wort Gottes durch Kultur komplettiert oder sogar korrigiert. Ich dachte, dass besonders die Christen in Deutschland wegen der tragischen Erfahrungen im Dritten Reich gegenüber solchen Vorstellungen immun sein würden. Aber offensichtlich ist das nicht der Fall.
BQ: Welche Erfahrungen haben Sie denn im Sinn?
RK: Die protestantisch-nationalistische Bewegung der »Deutschen Christen« verstand das deutsche Volkstum als eine von Gott gegebene Lebensordnung. Dieses falsche Offenbarungsverständnis ermöglichte ein lebensfeindliches und rassis­tisch verbogenes Christentum. Hätten die Kreise der »Deutschen Christen« die Bibel ernster genommen, hätten sie die Ideologie des Nationalsozialismus entlarven können.
BQ: Welches Kulturverständnis empfehlen Sie den Christen, die in einer postmodernen Gesellschaft leben?
RK: Wir sollen Kultur verstehen, wertschätzen, prüfen und prägen. Praktische Theologie und Evangelisation muss heute in Europa anders aussehen, als in der Nachkriegszeit. Solche Unterschiede gilt es zu beachten. Wer aber das uneinholbare Evangelium von Jesus Christus nicht von Kultur unterscheidet, wird Gottes Reden irgendwann nicht mehr vernehmen, da es kulturell überfremdet ist. Das frohmachende Evangelium, das von den Aposteln ein für allemal überliefert wurde, muss unsere Herzen ausfüllen. Das Evangelium ist nicht anpassungs- oder ergänzungsbedürftig. Der Judasbrief sagt im 3. Vers sinngemäß, dass den Christen der Glaube für alle Zeit, also auch für alle Kulturen, überliefert wurde. Dieses unveränderliche Evangelium vom Kreuz ist es, das wir auch den Menschen in den postmodernen Gesellschaften durch Wort und Tat zu bezeugen haben.
BQ: Wir danken Ihnen für das Gespräch.

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Download des Gesprächs mit Pressemeldung: BQ0043.pdf

War das Familienbild im Dritten Reich vorbildlich?

familie.jpgGegenwärtigen wird heftig darüber diskutiert, ob die Familienwerte während der Zeit des Nationalsozialismus für uns eine Vorbildwirkung haben könnten. Scheinbar waren damals die Familien in Takt, die Rollenverständnisse klar verteilt, die Geburtenraten stimmten. Der Theologe und Soziologe Thomas Schirrmacher sieht das anders. Im Rahmen seiner Arbeit an der Promotion über Hitlers Kriegsreligion verfestigte sich die Einsicht, dass der Nationalsozialismus den verbreiteten Zusammenbruch der Familie mit zu verantworten hat. Er begründet seine Aufassung mit folgenden acht Punkten:

1. alle nichtarischen Familien wurden bis hin zur physischen Ausrottung bekämpft;

2. angeblich rassische Mischehen wurden zur Auflösung gezwungen und es wurde tief in das Menschenrecht auf freie Partnerwahl eingegriffen;

3. man hat alle arischen Familien nicht mehr an irgendwelchen Familienwerten gemessen, sondern allein an ihrer Bedeutung für Volk, Rasse und Krieg;

4. die Rolle der Mütter auf eine biologische reduziert wurden und man für die gefühlsmäßig-seelische Seite der Elternschaft und das Selbständigwerden als Erziehungsziel nur Hohn und Spott übrig hatte;

5. die Kinder den Eltern möglichst früh entfremdet wurden und innerhalb nationalsozialistischer Organisationen neuen ›Vorbildern‹ und Autoritäten unterstellte;

6. durch den Rassekrieg überhaupt erst die ›vaterlose Gesellschaft‹ (Mitscherlich) hervorbracht wurde und nicht nur in Deutschland, sondern auch bei den Kriegsgegnern Millionen Familien zerstörte und das bewusst in Kauf nahm;

7. die Bedeutung der Ehe hintan gestellt wurde, indem der Gedanke eines ›Kindes für den Führer‹ auch ohne feste Beziehung zu dem biologischen Vater (z. B. einem SS-Offizier) propagiert wurde, was die Grundlage des Lebensborngedankens war, und schließlich

8. Hitler selbst verbal sehr frauenfeindlich war.

Die volltändige Stellungnahme kann hier heruntergeladen werden: bq042.pdf.

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