Philosophie

Päivi Räsänen vor Gericht

Nachdem die frühere finnische Innenministerin Päivi Räsänen am 30. März 2022 freigesprochen wurde, muss sie sich derzeit erneut verteidigen, da die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt hatte. Gegenstand des Rechtsstreits ist ein Tweet mit Versen aus dem neutestamentlichen Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom (Röm 1, 24-27), in dem es um gleichgeschlechtliche Sexualität geht (vgl. hier).

Die Menschenrechtsorganisation ADF berichtet dankenswerterweise über den Prozess und schreibt über die Argumentation der Staatsanwaltschaft: 

Der Verhandlungstag begann mit den Argumenten der Staatsanwaltschaft. Zu dem Büchlein mit dem Titel „Als Mann und Frau schuf Er sie“, das Räsänen vor fast 20 Jahren über christliche Anthropologie und Homosexualität veröffentlicht hat, sagte die Staatsanwaltschaft: „Der Punkt ist nicht, ob es wahr ist oder nicht, sondern, dass es beleidigend ist.“ Die Staatsanwältin stellte auch fest, dass „nicht die Autoren der Bibel angeklagt“ werden, aber die Verwendung des Wortes „Sünde […] herabsetzend“ sei und „sexuelle Rechte“ verletze.

Die Staatsanwaltschaft argumentierte weiterhin: „Wir können Meinungsfreiheit begrenzen wenn es um die Ausdrucksform von Religion geht.“ Zum Bibel-Tweet brachte die Staatsanwaltschaft ihre Argumentation auf den Punkt: „Sie können die Bibel zitieren, aber Räsänens Interpretation und Meinung zu dem Bibelvers ist kriminell.“

Im vergangenen Jahr legte die Staatsanwaltschaft Berufung gegen das einstimmige Urteil des Bezirksgerichts Helsinki vom März 2022 ein, in dem Räsänen und Bischof Pohjola vom Vorwurf der „Hassrede“ freigesprochen wurden. Das Bezirksgericht entschied, dass es nicht die Aufgabe des Gerichts sei, „biblische Begriffe zu interpretieren“. Die Staatsanwaltschaft argumentiert jedoch, das Gericht habe Räsänens Tweet „falsch interpretiert“ und sei zu einem falschen Schluss gekommen. 

Also: „Der Punkt ist nicht, ob es wahr ist oder nicht, sondern, dass es beleidigend ist.“ Ganz offen wird eingestanden, dass es nicht darum geht, die Wahrheit herauszufinden. Die Bibelauslegung von Räsänen, die durch 2000 Jahre Kirchengeschichte über alle Konfessionen hinweg gedeckt ist, wird von der Staatsanwaltschaft als „kriminell“ bezeichnet. Das „Beleidigtsein“ einer bestimmten Gruppe von Menschen wiegt schwerer als die semantische Wahrheit und die gut bezeugte Geschichte. Das Gefühl einer Opfergruppe soll über Recht und Unrecht entscheiden.  

Derzeit wird auf die Urteilsverkündigung gewartet. Wir sind gespannt und zuversichtlich. Würde das Gericht der Staatsanwaltschaft zustimmen, wäre dies ein schwarzer Tag für die Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit. 

Mehr: adfinternational.org.

Reformation als Vorläufer des Säkularismus?

Nicht nur aus den Reihen der katholischen Apologetik hören wir, dass die Reformation die Säkularisierung angestoßen hat und somit für die spätmoderne Beliebigkeitskultur (auch in Glaubensfragen) mitverantwortlich ist. Historiker wie Brad S. Gregory zeigen ebenfalls, dass unter dem Einfluss der Reformation der christliche Glaube ein betont subjektives und therapeutisches Profil erhielt (vgl. The Unintended Reformation von von Brad S. Gregory).

Matthew Barrett würde Entwicklungen dieser Art nicht bestreiten. Doch insgesamt plädiert er dafür, besser zu verstehen, dass die Reformatoren in vielen Bereichen in Kontinuität zur historischen Kirche stehen, etwa bei der Formulierung der Dreieinigkeitslehre. Nur dort, wo diese Grundlagen vergessen oder verleugnet werden, kann sich der Subjektivismus durchsetzen. Sein Buch The Reformation as Renewal: Retrieving the One, Holy, Catholic, and Apostolic Church wird daher von vielen Theologen ungeduldig erwartet.

Wer nicht bis zur Veröffentlichung dieses Grundlagenwerkes warten möchte, bekommt durch den Podcast Should we blame the Reformation for secularism? die Möglichkeit, Barrett zuzuhören, wenn er über Metaphysik, Platon, Aristoteles, den Universalienstreit oder Luthers Kritik am Scholastizismus spricht.

Hier: UPDATED–2023_04_06_Parkison–2_mixdown–1.mp3.

Augusto Del Noce: Ursprünge des modernen Säkularismus überdenken

Der italienische Philosoph Augusto Del Noce (1910–1989) hinterfragt in seinem Buch The Problem of Atheism die pessimistische Vorstellung, dass „bei jedem Philosophen, von Descartes an“ die Geschichte der Philosophie als Prozess der Säkularisierung zu lesen sei. Obwohl Descartes vielleicht die Rebellion des Rationalismus gegen das Christentum ermöglichte, war sein eigentliches Anliegen genau das Gegenteil. Er wollte die unverwechselbaren und eng miteinander verbundenen Verpflichtungen des Christentums zu Freiheit, Transzendenz und Menschenwürde bewahren.

Publilc Discourse, das Journal des Witherspoon Instituts, schreibt: 

Trotz der Fehler in Descartes‘ Denken, die den Aufstieg des Rationalismus ermöglichten, kann man ihn also nicht als Begründer des modernen Säkularismus bezeichnen. Die heute weit verbreitete Irreligion ist weniger aus Ideen entstanden als aus unserer Entscheidung, Ideen zur Rationalisierung unserer eigenen egoistischen Entscheidungen zu nutzen. Atheismus ist keine zwangsläufige Folge von Kräften außerhalb von uns: Ob wir mit seiner Hilfe für Gott leben oder durch unser begrenztes Verständnis für uns selbst, liegt an uns. Dies ist die hoffnungsvolle Botschaft, die den Kern von Das Problem des Atheismus bildet: eine Widerlegung der pessimistischen Vorstellung, dass „n jedem Philosophen, von Descartes an“ … „die Geschichte der Philosophie ein Prozess der Säkularisierung ist.“ Die Lösung für den zeitgenössischen Atheismus besteht nicht darin, die Moderne und ihre edlen Bestrebungen nach Freiheit, Wahrheit und Achtung der Menschenwürde aufzugeben. Wir müssen stattdessen einen Weg finden, unseren Mitbürgern zu zeigen, warum wir diesen Idealen ohne Gott nicht konsequent gerecht werden können.

Mehr: www.thepublicdiscourse.com.

Süchtig nach Sinn

Die transzendentale Obdachlosigkeit, mit welcher der postmoderne Mensch zu leben gelernt hat, bleibt nicht ohne Konsequenz. Der Verlust von objektivem Sinn und das religiöse Vakuum treiben ein neues Suchtverhalten hervor. Und das birgt – so meint Peter Strasser – politischen Sprengstoff:

Die zweite Konsequenz der rabiaten Abwehr des aufgeklärten westlichen Denkens: Allerorten regen sich mit grosser Vehemenz Kollektivismen, die hart religiös unterbaut sind. Das Individuum, das eben noch alle möglichen Spielarten der gewaltlosen Spiritualität und Esoterik durchspielte, ohne sich innerlich selbst befrieden zu können, sucht sein Heil in politreligiösen Strömungen, die manifest faschistoiden Mustern folgen … Worauf also in Zukunft – und es wird eine Zukunft mannigfacher, weltumspannender Krisen sein – besonders geachtet werden sollte, ist der Umstand, dass, neben den bekannten Süchten, der Verlust von objektivem Sinn und das damit einhergehende existenzielle Vakuum in unseren postmodernen Gesellschaften ein neues Suchtverhalten hervortreibt. Jenes Vakuum wird zusehends durch irrationale Lehren und Aktivitäten überdeckt, deren Entzug zu suizidalem, hyperaggressivem und amokläuferischem Verhalten führen kann.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.nzz.ch.

„Die wahre Quelle allen Rechtes“

Nach Auffassung des sogenannten Rechtspositivismus gilt als Recht allein das, was der Gesetzgeber als solches verabschiedet hat. Eine Beurteilung des Rechts an moralischen Maßstäben verbietet sich in rechtspositivistischen Gesellschaften, weil es keine einheitlichen Moralvorstellungen gibt. Jegliches Recht ist von Menschen gemacht. Falls diese meinen, wir brauchen ein neues Ehe- und Familienverständnis, dann wird eben ein „Ehe für alle“-Gesetz beschlossen.

In Abgrenzung zu diesem Rechtspositivismus vertritt das Naturrecht, dass Recht und Moral nicht so einfach voneinander getrennt werden kann. Etwas ist Recht oder Unrecht, weil es uns mit der Natur gegeben ist. Eltern die Kinder wegzunehmen, ohne das es dafür schwerwiegende Gründe gibt, ist demnach Unrecht – egal was das positive Recht dazu sagt. Alle vom Menschen gemachten Gesetze müssen an der Moral gemessen werden. Nur Gesetze, die diesen moralischen Ansprüchen des Naturrechts genügen, können den Anspruch erheben, befolgt zu werden. So waren viele Gesetze der Nationalsozialisten – etwa die Rassengesetze – objektives Unrecht.

Die „modernen Gesellschaften“ haben sich weitgehend von einem höheren Gesetz oder einer höheren Ordnung verabschiedet. Der Mensch tritt als alleiniger Gesetzgeber auf. Das macht es Despoten leicht, ihre eigenen Interessen auch rechtlich durchzusetzen. Sie haben in den Augen der Positivisten schlichtweg andere Werte. Mangels eines übergeordneten Maßstabs ist es im strengen Sinne unmöglich, zu behaupten, irgendein Wertsystem sei besser als ein anderes.

Der Philosoph Robert Spaemann (1927–2018), selbst Verfechter einer Naturrechtsposition, hat einmal anhand eines persönlichen Erlebnisses demonstriert, dass der Rechtspositivismus eine „Schönwettertheorie“ ist. Spaemann schreibt in „Warum gibt es kein Recht ohne Naturrecht?“ (in: Hanns-Gregor Nissing (Hg.), Naturrecht und Kirche im säkularen Staat, 2016, S. 27–34, hier S. 27):

Nach dem Krieg hörte ich in Münster auf dem Domplatz eine Predigt des Kardinals von Galen vor dem zerstörten Dom. Der Domplatz war schwarz vor Menschen, und der damalige Bischof, Clemens August, sagte: „Eurer Liebe verdanke ich mein Leben.“ Dann fügte er mit donnernder Stimme hinzu: „Was wir jetzt erlebt haben, die Tyrannei, die Unterdrückung, die Zerstörung, das alles war die Strafe Gottes für das, was die Deutschen 1919 an den Anfang ihrer Verfassung gestellt haben: ‚Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.’ Jetzt haben wir die Staatsgewalt kennen gelernt, die vom Volke ausgeht. Es wird Zeit, dass wir uns besinnen auf die wahre Quelle allen Rechtes.“

Nach den grauenhaften Tyranneien des 20. Jahrhunderts ist der Rechtspositivismus eigentlich kaum zu retten. Er ist eine Schönwettertheorie. Er entzieht der Verurteilung von Staatsverbrechen jede objektive Grundlage. Wenn der Wille des Gesetzgebers an keinen ihm vorgegeben Maßstab des Richtigen und des Falschen, des Guten und des Schlechten gebunden ist, und wenn die Verkündigung im Gesetzblatt eines Staates die höchste Legitimation der Gesetze ist, dann kann es keine Rechtfertigung geben, die den Bürger auf irgend eine Weise im Gewissen binden kann.

Der große Bluff

Sind wir mal ehrlich: Pippi Langstrumpf mochten wir sehr, da ihre Lebensphilosophie neue Möglichkeiten eröffnet hat:

Zwei mal drei macht vier,
widewidewitt und drei macht neune,
ich mach mir die Welt,
widewide wie sie mir gefällt.

Inzwischen spüren wir mit allen Sinnen und dem Verstand, dass sich die Wirklichkeit nicht nach Belieben verbiegen lässt. Im Gegenteil: Wir müssen uns – zumindest langfristig – nach ihr richten.

David Signer schildert für die NZZ den Fall des Hochstaplers George Santos, der es im Land der unbegrenzten Möglichkeiten weit gebracht hatte, aber dann – weil seine Lügen aufflogen – mit seinem Storytelling scheiterte.

Signer schreibt:

Vor allem aber vermischt sich die uramerikanisch-christliche Vorstellung, dass der Glaube Berge versetze, heutzutage mit einer postmodernen Relativierung der Wirklichkeit als blossem «Konstrukt» und «Diskurs». Dazu passt, dass selbst das Geschlecht fluid und eine Frage der Wahl wird. Wer wollte es dem «kreativen» Santos also verargen, wenn er noch einen Schritt weiter geht und auch die eigene Biografie zur Erfindung erklärt? Damit schafft er es zu allem anderen auch noch, das eher republikanische Mantra vom Selfmademan mit einem eher demokratischen und woken Touch von Diversität zu versehen. Mehr «American Dream» geht kaum.

Mehr: www.nzz.ch.

VD: LR

Die Tyrannei der Tugendhaften

Jürg Altwegg skizziert in seinem FAZ-Beitrag „Die Tyrannei der Tugendhaften“ die Kritik des französischen Philosophen Pierre-André Taguieff am Postmodernismus. Interessant dabei ist, dass sich auch der russische Nationalist Alexander Dugin bei der französischen Postmoderne bedient, um den Umsturz der Diktatur des Westens zu fördern. Jürg Altwegg schreibt:

Der Ideenhistoriker Pierre-André Taguieff deutet den „militanten und ideologisierten Hass auf die europäische Kultur“, den Woke predige, als „Diabolisierung des Westens“. Die „Dekonstruktion“ führt er auf den Einfluss von Heidegger und Nietzsche in Frankreich zurück. Taguieff kennt die philosophische und politische Wirkungsgeschichte der französischen Postmoderne in beiden Ländern. „Black Lives Matter wurde 2013 von drei militanten Marxistinnen begründet“, hält er in „Pourquoi décon­struire?“ fest. Aus dem Antirassismus wurde ein Rassismus. Die Umschreibung der Geschichte belegt er mit dem Hinweis auf Historiker, die den Anfang der Demokratie nicht in Athen, sondern in Afrika situieren. Woke versteht Taguieff als Wiedergeburt der „revolutionären Utopie“.

Nebenbei weitet er seine Darstellung auf den russischen Nationalisten und Ideologen Alexander Dugin aus. Dugin kennt die französische Postmoderne und zitiert ihre Autoren. Die Dekonstruktion der westlichen Hegemonie unterstützt er laut Taguieff „ohne Einschränkung“. Sie entspricht dem Willen „zum Umsturz der Diktatur des Westens“. Dugin benutzt das „Arsenal der postmodernen Kritik“. Verworfen aber wird das von Woke angerichtete „allgemeine Chaos“ mit der „Umkehrung der Hierarchie“ und der „Auflösung ihrer Komponenten“: Geschlecht, Wissen, Gesellschaft, Politik.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): https://www.faz.net.

Spätmoderne in der Krise

Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa schreiben in ihrem Vorwort zum Buch Spätmoderne in der Krise über die Partikularisierungsthese von Jean-François Lyotard (Suhrkamp, 2021, S.11):

Von Jean-François Lyotard stammt bekanntlich die 1979 in Das postmoderne Wissen entfaltete These, dass wir am „Ende der großen Erzählungen“ der Moderne und der Modernisierung angelangt seien. Die großen Theorien gesellschaftlicher Entwicklung, welche die klassische Moderne prägten, hätten in der Postmoderne an Kredit verloren, gefragt seien nur mehr die „kleinen Erzählungen“, die spezifischen Analysen: lokal, zeitlich und sachlich begrenzt. Lyotards Kritik am Erbe der Geschichtsphilosophie und an deren aus heutiger Sicht naiv und einseitig anmutenden Fortschrittsgeschichten war sicherlich berechtigt – aber mit seiner Prognose, dass damit die umfassenden theoretischen Deutungsversuche überflüssig werden, lag er letztendlich falsch. Genau das Gegenteil ist inzwischen eingetreten.

Sogar die Zahlen sind politisch

In den USA kursiert seit Jahren der Verdacht, Mathematik sei eine europäische und damit weiße Erfindung und müsse daher völlig neu bewertet werden. Nun geht es auch in Großbritannien der Mathematik im Namen der Wokeness-Bewegung an den Kragen.

Die FAZ schreibt: 

Die jüngsten Empfehlungen fordern eine von den Studenten mitbestimmte multikulturelle und entkolonialisierte Sicht auf die Fächer. Studenten müssten auf problematische Fragen in der Entwicklung der ihnen beigebrachten Inhalte aufmerksam gemacht werden, wie etwa darauf, dass Pioniere der Statistik die Rassenhygiene gefördert hätten und dass Mathematiker mit dem Sklavenhandel, dem Rassismus oder dem Nationalsozialismus verstrickt gewesen seien.

Die Mathematik steht als Ziel für Forderungen nach Gleichheit, Vielfalt, Zugänglichkeit und Inklusivität keineswegs allein da. Ähnliche Feststellungen und Anregungen finden sich in den jüngsten „Benchmark-Statements“ der QAA für fünfundzwanzig Fächer. So wird Informatikern nahegelegt, sich damit zu befassen, wie „Spaltungen und Hierarchien von kolonialem Wert“, was immer das heißen mag, in ihrem Fach vervielfältigt und bekräftigt würden.

Zurecht sehen einige Professoren die Gefahr der Verdummung und einer ideologischen Vereinnahmung durch aktivistische Akademiker.

Weiter heißt es zu Cancel-Culture: 

An den Hochschulen beanspruchen Studenten das Recht, nicht gekränkt zu werden, wie die Rektorin der Universität Oxford unlängst bedauerte. In Cambridge teilt die Rektorin eines Colleges den Studenten schriftlich mit, dass sie einen Vortrag der sich zur binären Geschlechterordnung bekennenden „Economist“-Journalistin Helen Joyce boykottieren werde, weil deren Ansichten „beleidigend und hassenswert“ seien. Kein Wunder, dass Studenten sich ermutigt fühlten, die wegen ihrer „genderkritischen“ Haltung geschasste Philosophieprofessorin Kathleen Scott durch Trommelprotest zu übertönen. Die Mentalität, die solchen Initiativen zugrunde liegt, hat die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie in der vergangenen Woche in ihrem Beitrag zur diesjährigen Vortragsreihe zu Ehren des BBC-Gründers John Reith aufgegriffen. Sie sprach im Zusammenhang mit dem Recht der freien Rede von einer durch die Cancel-Kultur verursachten „Epidemie der Selbstzensur“, die dazu führe, dass die Literatur zunehmend durch die ideologische Brille gesehen werde, statt nach literarischen Maßstäben bemessen zu werden.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.faz.net.

Die empathischen Menschen sind die neuen Narzissten

Kaum eine Fähigkeit wird heute so gehypt wie die Empathie. Einfühlung ist Trend, jede Krise wird mit einem Gang zum Therapeuten beantwortet. Doch die Schattenseiten der Tugend blieben bislang weitgehend unthematisiert. 

Marie-Luise Goldmann stellt für DIE WELT den Roman Die Markierten der Isländerin Frida Ísberg vor, in dem der Tugend der Empathie der Kampf angesagt wird: 

Denn unsere Gegenwart ist nicht nur von handfesten Krisen geprägt, zu denen ein Krieg, eine Pandemie und ein Energiemangel gehören. Sondern es ist auch die Ära, in der psychologische Diagnosen wie Zauberpilze aus dem Boden schießen. So wie die Kategorien „toxisch“, „narzisstisch“, „traumatisch“ und „depressiv“ im Zweifel auf jede Störung passen, avanciert gleichzeitig das positive Gegenkonzept zum Patentrezept: die Empathie. Wer empathisch ist, sich also in andere Menschen hineinfühlen kann, befinde sich auf dem besten Weg zur Rettung der Welt und der eigenen Psyche – so der Tenor.

Das Problem: Der Hype um die Empathie führt zu einer bedrohlichen Aufspaltung in Partikularinteressen, aus denen kein gemeinsamer Nenner gebildet werden kann, weil alles bloß „eine persönliche Meinung“ ist, die man vor dem eigenen subjektiven Erfahrungshorizont zu begreifen habe. In der Kommentarfunktion auf sozialen Medien liest man Dinge wie „Nicht böse gemeint, ist nur meine Meinung“ oder „Sehe ich anders, aber du kannst ja deine Meinung haben, das ist okay“. Mit der Einsicht in die Begrenztheit menschlicher Perspektiven wird jedes Gespräch im Keim erstickt. Argumente werden als Waffen verunglimpft, Diskussionen als Kampf.

Mehr hier (hinter einer Bezahlschranke): www.welt.de.

Nach oben scrollen
DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner