Praktische Theologie

John Mark Comers Ansatz

John Mark Comer ist Gründungspastor der Bridgetown Church in Portland. Sein Ziel es ist, Ressourcen für Jüngerschaft und Ausbildung in Ortsgemeinden zur Verfügung zu stellen. Und er hat schon allerlei publiziert. Manches davon ist hilfreich, anderes gewöhnungsbedürftig. Und wieder anderes bedenklich. Noah Senthil hat sich das genauer angeschaut: 

Comer scheint eine gemeindeähnliche Gemeinschaft ohne solide Ekklesiologie anzustreben. Er behauptet, Protestant zu sein, ignoriert aber (und beklagt manchmal auch) einen Großteil des traditionellen Protestantismus. Er bezieht sich oft auf mystische Christen in der östlich-orthodoxen, katholischen und quäkerischen Tradition. Und viele Evangelikale werden es mehr als nur ein wenig verdächtig finden, dass das Eingangszitat des Buches („Mögest du mit dem Staub deines Rabbiners bedeckt sein“) der Titel einer Predigt von Rob Bell ist, die später im ersten Kapitel zitiert wird. Was auch immer es bedeutet, das „Leben vom Meister [zu] lernen“, es scheint nicht zu bedeuten, Wort und Sakrament sowie Beichte und Bekenntnis in den Vordergrund zu stellen. Natürlich leugnet Comer nicht den Wert dieser Dinge. Sie sind nur nicht wichtig genug, sie zu berücksichtigen.

Vielleicht geht Comer nur auf Nummer sicher und versucht, so viele Menschen wie möglich anzusprechen, indem er (sozusagen als Einstieg) mit einer flexiblen und individuellen Regel beginnt. So weit, so gut. Aber der interessanteste Teil des Buches kommt in einer Nebenbemerkung: „Wenn irgend möglich, solltest du das in Gemeinschaft tun, mit ein paar Freunden, deiner Kleingruppe oder Tischgemeinschaft, oder – in einer Traumwelt – mit deiner ganzen Gemeinde.“ Die darauffolgende Fußnote präsentiert eine Version von Comer, die an keiner anderen Stelle des Buches auftaucht: „An meine Pastorenkollegen: Ich träume davon, dass die Gemeinden der Zukunft (wie die Gemeinden der Vergangenheit) sich um eine Lebensregel herum organisieren – eine Art des Zusammenseins, die ihrer Zeit, ihrem Ort und ihren Menschen angepasst ist. Das ist möglich. Würdet ihr darüber nachdenken?“

Zu behaupten, dass „die Gemeinden der Vergangenheit“ um eine Lebensregel herum organisiert waren, hat mehr mit anachronistischer Phantasie als mit historischer Realität zu tun. Aber die Kirchen der Zukunft könnten genau das tun. Stell dir vor, das ganze Buch würde diese Fußnote entfalten.

Es ist nicht falsch, darüber nachzudenken, wie man seine Zeit strategisch nutzen kann. Aber zuerst müssen wir anerkennen, dass es dabei nicht nur darum geht, eine alte Vision zurückzugewinnen – denn schließlich sprechen wir hier von einer Vision, die sich von der unserer monastischen Vorväter unterscheidet. Zweitens müssen wir erkennen, dass der Weg nach vorn darin besteht, ineinandergreifende und sich gegenseitig verstärkende Sphären ekklesiologisch-gemeindlicher, familiärer und individueller Gewohnheiten zu etablieren und aufrechtzuerhalten. Nenn mich einen Träumer, aber diese unterentwickelte Idee, die in Comers Arbeit angedeutet wird, könnte wirklich etwas Gutes bewirken.

Mehr: www.evangelium21.net.

Karl Barth: „Das Entscheidende ist das Sich-Halten an Sein Wort“

Im Rahmen von Vorbereitungen zu einer Vorlesung über Friedrich Schleiermacher und Karl Barth habe ich in den letzen Monaten kleinere und größere Portionen von beiden (und über beide) gelesen. Obwohl Kritiker sowohl der liberalen als auch der neo-orthodoxen Theologie, habe ich besonders bei Barth immer wieder erbauliche Funde gemacht. Einen will hier vorstellen:

In der Festschrit zum 70. Geburtstag beschreibt Martin Eras, wie er als katholischer Student in den 30er Jahren des 20. Jahrhundert Barths Vorlesungen an der Universität in Bonn erlebt hat. Dabei stellt er heraus, wie wichtig es Karl Barth war, dass aus seinen Studenten Prediger des Wort werden. Dogmatik sei nie Selbstzweck, sondern habe der Kirche und ihrer Verkündigung zu dienen. Barth sagte zum Umgang mit der Bibel: „Den Text nicht meistern, sondern ihm dienen!“. (Inwiefern ihm selbst das bei der Auslegung des Römerbriefs gelungen ist, mag jeder selbst beurteilen.) Dann wird eine Vorlesung beschrieben, die Barth 1934 hielt, als er schon unter höchst kritischer Beobachtung der Nationalsozialisten stand (er musste schließlich Deutschland verlassen und ging zurück in die Schweiz). Barth wollte seine Zuhörer ermutigen, auf der Kanzel Bibelausleger zu sein.

Martin Eras berichtet (Antwort, 1956, S. 875):

Der Prediger muß das schlechthinnige Vertrauen haben, daß die Bibel genügt. Die zuhörende Gemeinde liebhaben! Neben Respekt und Aufmerksamkeit für das Schriftwort Bescheidenheit (kein geschwollener Pfaffe), Beweglichkeit, Aufgeschlossenheit für den Kairos, das Entscheidende: das Gebet. „Eine gute Predigt muß auch die Gemeinde in den Duktus des Gebets hineinführen.“ „Das Ziel der Predigt sollte sein, daß die Hörer zu Hause selber nach der Bibel greifen und noch einmal sich auf den Weg begeben.“

Um rechte Prediger aus uns zu machen, hat er uns insbesondere auf die Exegese hingewiesen. So hielt er selber neben unermüdlich seinem dogmatischen Kolleg und den systematischen Seminar- und Sozietätsübungen (über CALVINS Institutio III, die Lehre von der Rechtfertigung, die Theologie der F. C., den Begriff der Theologie bei THOMAS und BONAVENTURA, AUGUSTINS Enchiridion und CALVINS Psychopannychia) immer auch eine exegetische Vorlesung. Er hat uns damals das Johannesevangelium, die Bergpredigt und den Kolosserbrief ausgelegt und, als er den Hörsaal nicht mehr betreten durfte, in der Adventszeit 1934 in seiner Wohnung Luk. 1 in „Vier Bibelstunden“ (Theol. Ex. h. Nr. 19), die er mit den Worten schloß: „Nun gebe Gott uns allen, daß wir die Weihnachtsfeier in dieser ernsten, entscheidungsvollen Zeit feiern dürfen miteinander in der Anbetung des Gottes, der es mit uns allen und mit der ganzen Welt so unendlich gut gemacht hat, wie das Evangelium es sagt und immer wieder neu sagt, und daß wir ins neue Jahr hineingehen dürfen nicht ohne zu singen und zu sagen, wie es Psalm heißt: Schmecket
und sehet, wie freundlich der Herr ist; wohl dem, der auf ihn trauet!“

Und in seiner allerletzten Bibelstunde am 10. Februar 1935, mit der er von uns und auch von Deutschland vorläufig Abschied nahm, stellte er seinen und unsern Weg und auch den der Bekennenden Kirche bußfertig unter die Herrnhuter Losung des Tages, Ps. 119, 67: „ Ehe ich gedemütigt ward, irrte ich, nun aber halte ich dein Wort“, und Jak. 4, 6: „Gott widersteht den Hoffärtigen, aber den Demütigen gibt er Gnade“, und sagte uns unter anderem: „Das Entscheidende ist das Sich-Halten an Sein Wort. Es muß jetzt viele junge Leute geben, die nicht nur großartig vom Wort Gottes reden, sondern auch das Wort ganz schlicht lesen und die nun wirklich damit umgehen. 

Das prophetische Amt der Kirche

In dem Vortrag „Gedenkt der Tage, in denen ihr viel Leidenskampf erduldetet“ habe ich im Januar 2025 über Grenzen der christlichen Gehorsamspflicht gesprochen. Das Volk Gottes soll einerseits gegenüber der weltlichen Stadt eine wohlwollende Haltung einnehmen und der Obrigkeit gehorchen. Was aber, wenn von der Kirche etwas verlangt wird, was in Gottes Augen ein Gräuel ist? Im Vortrag heißt es:

Diese Gehorsamspflicht ist für uns leicht anzunehmen, solange wir voraussetzen, dass die Obrigkeit die Übeltäter bestraft und diejenigen, die Gutes tun, unterstützt. Schwieriger wird es, wenn nicht mehr so klar erkennbar ist, ob die Obrigkeit wirklich das Gute will.

Wie verhalten wir uns in einer Zeit des Umbruchs? Das Abendland öffnet sich mehr und mehr für Maßstäbe, die im Widerspruch zu den Ordnungen stehen, die der Schöpfer dieser Welt eingestiftet hat. Wie wollen wir uns da verhalten?
Die kurze Antwort lautet: Wir können nicht bei allem mitmachen! Es gibt eine Gehorsamsgrenze: Wenn weltliche Anforderungen gegen Gottes Willen verstoßen, gilt: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg 5,29). Dieses „mehr gehorchen“ in Apg 5 steht im Kontext der Evangeliumsverkündigung. Die Apostel wollten sich keinesfalls verbieten lassen, im Namen von Jesus zu lehren. Christen sind berufen, durch ihre Worte und ihr Leben ein Zeugnis für Gottes Liebe und Wahrheit abzulegen, sogar dann, wenn es ihnen verboten wird.
Aber auch am allgemeinen Aufstand gegen Gottes Maßstäbe dürfen wir uns nicht beteiligen (prophetisches Amt, schöpferische Gegenkultur). Wir können uns den damit verbundenen Konflikten nicht mehr einfach dadurch entziehen, dass wir uns verstecken. In immer mehr Bereichen des alltäglichen Lebens wird Christen eine Entscheidung abverlangt.

Wie schwer solche Konflikte in der Praxis wiegen können, möchte ich an einem Brief von Präses D.E. Wilm illustrieren. Wilms erzählt in einem Schreiben, dass er Karl Barth zum 70. Geburtstag zukommen ließ, den Einsatz der Bekennenden Kirche im Jahre 1940 gegen das Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten.

Um was ging es? Im Frühjahr und Sommer 1939 begann eine Planungsgruppe mit der Organisation einer geheimen Aktion zur Ermordung behinderter Kinder. Am 18. August 1939 erließ das Reichsinnenministerium einen Erlass, der alle Ärzte, Schwestern und Hebammen verpflichtete, Neugeborene und Kinder unter drei Jahren, die Anzeichen einer schweren geistigen oder körperlichen Behinderung aufwiesen, zu melden. Ab Oktober 1939 drängten die Gesundheitsbehörden die Eltern behinderter Kinder, ihre Kleinkinder in eine der dafür vorgesehenen Kinderkliniken in Deutschland und Österreich zu geben. In Wirklichkeit waren diese Kliniken Tötungsanstalten. Eigens angeworbenes medizinisches Personal verabreichte den Kindern tödliche Überdosen von Medikamenten oder ließ sie verhungern. Zunächst nahmen die Ärzte und Klinikleiter nur Säuglinge und Kleinkinder in das Programm auf. Mit der Ausweitung des Programms wurden später auch Jugendliche bis 17 Jahre einbezogen. Nach vorsichtigen Schätzungen sind in den Kriegsjahren mindestens 10.000 körperlich und geistig behinderte Kinder durch das Kindereuthanasieprogramm zu Tode gekommen (wiedergegeben in Anlehung an encyclopedia.ushmm.org).

Als die Bekennende Kirche von diesem Programm erfuhr, wusste sie sich in eine Entscheidung gerufen. Sie durfte zur Ausmerzung sogenannten unwerten Lebens nicht schweigen. Was aber genau sollte sie tun?

Präses Wilm schreibt („Nach der Lektüre von ‚Der Schutz des Lebens‘“, in: Antwort, 1956, S. 16–21, hier S. 17–18):

Wir kamen von einer altpreußischen Bekenntnissynode in Leipzig, wohin wir aus Berlin ausgewichen waren. Es war ziemlich gefährlich gewesen, und wir hatten hinter verschlossenen Türen und Fensterläden in einem Gemeindehaus nahe der Thomaskirche getagt. Über ein Jahr war schon Krieg, und darum wurde die Lage der Bekennenden Kirche immer bedrohlicher, zumal sie zu den Verbrechen an Menschen, an den politischen Gefangenen in den Konzentrationslagern, an den Juden und an den russischen Kriegsgefangenen nicht geschwiegen hatte. Über ein Jahr war schon Krieg und darum lief über ein Jahr, seit dem 1. September 1939, die Aktion HITLERs zur Ausmerzung unwerten Lebens, die man dann mit dem Wort „Euthanasie“ umschrieb. Sie lief geheim, aber mit unheimlicher Brutalität. Hunderte, Tausende kranker Menschen waren bereits aus den Heilanstalten verlegt worden und wenige Wochen danach gestorben, sprich: ermordet worden.

Wir wußten das! Landesbischof WURM hatte in seinem Brief an den Reichsinnenminister diese Verbrechen beim Namen genannt und Anklage gegen die Mörder erhoben. Wir brachten damals von dieser Leipziger Synode eine Tageszeitung aus Leipzig – nur von einem Tag mit nach Hause, in der allein vier bis fünf Todesanzeigen standen, die bei näherem Zusehen klar als Anzeigen von diesem Ausmerzungstod zu erkennen waren. Und dann haben wir einander zu Hause in unserer Kirche gefragt: Müssen wir jetzt nicht laut sagen, rufen, schreien, daß hier unschuldige und hilflose Menschen ermordet werden von einer Obrigkeit, die für den Schutz des Lebens verantwortlich ist, und von Ärzten, deren höchstes Gesetz es sein muß, Leben zu erhalten, zu retten und zu heilen? Muß sich die christliche Gemeinde nicht jetzt ganz offen vor diese Kranken, ihre „geringsten Brüder“ stellen und bereit sein, die Folgen solchen Eintretens auf sich zu nehmen? Ich hatte als Kandidat in Bethel eine Zeitlang Epileptiker und Geisteskranke gepflegt und war zwei Jahre Pastor in einer Betheler Zweiganstalt gewesen, und es war von daher sehr eindrücklich die Achtung vor dem ärmsten Menschenleben mit mir gegangen. Was hatten wir an Dankbarkeit für empfangene Liebe und an rührender Anhänglichkeit unter unsern Kranken erfahren; ja, wie hatten sie uns zuweilen, wenn der Vorhang der Dunkelheiten ihrer Krankheit sich mal ein wenig lüftete, beschämt, weil wir dann ihren Glauben oder irgendeine sehr klare menschliche Erkenntnis sahen.

Es gab dann unter uns manche Aussprachen, und wir wurden gefragt, ob die Kirche zu diesem Verbrechen reden müsse und dürfe oder nicht, ob sie berufen sei, den Staat anzureden, ob wir Propheten sein könnten wie Nathan oder Hesekiel oder nicht nur Prediger des Evangeliums innerhalb unserer Gemeinden, ob Jesus etwas zu den Verbrechen des römischen Kaisers gesagt habe, und wir konnten nur immer wieder antworten, daß hier Menschen gemordet werden, die uns doch als unsere „geringsten Brüder“ anvertraut sind, und daß wir das wissen und darum für sie irgendwie eintreten müssen, daß wir Gottes Willen zu verkündigen haben, wie es Christus selbst getan und uns befohlen hat und also die Übertretung dieser Gebote strafen müssen in der Gemeinde und in der Welt.

Es gab das Ringen BODELSCHWINGHs mit dem Leibarzt HITLERS um das Leben seiner Kranken, das zugleich ein Ringen um diesen „Arzt“ war und bei dem BODELSCHWINGH sich selbst vor seine Pflegebefohlenen stellte.

Es gab unter uns stille Verabredungen der Brüder – keine Weisung einer Kirchenleitung! –, daß wir in dieser Sache nicht schweigen wollten, und manch einer hat das Wort gesagt „zum Schutz des Lebens“, indem er sein eigenes Leben aufs Spiel setzte, manch einer hat am Grabe eines so ermordeten Gemeindegliedes, dessen Urne mit einem Lügenbrief aus der Tötungsanstalt geschickt wurde, offen erklärt: „Dieser Bruder ist nicht auf natürliche Weise gestorben; an ihm ist ein Mord geschehen.“ Was das mitten im Kriege bedeutete, braucht wohl nicht gesagt zu werden. Aber es ist mir in meiner langen Gefangenschaft ein großer Trost in Stunden dunkler Anfechtung gewesen, daß auf meinem Schutzhaftbefehl, unterschrieben vom Gestapockef HEYDRICH, gestanden hatte: „Er hat durch öffentliche Stellungnahme zur Euthanasie Unruhe in die Bevölkerung getragen usw.“

Wie geht Säkularisierung?

In der FAZ „duellierten“ sich Friedrich Wilhelm Graf und Detlef Pollack in Sachen Säkulariserungthese. Friedrich Wilhelm Graf ist als Vertreter der liberalen Theologie (Mitglied der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft) mit den Untersuchungen der neuesten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (siehe dazu hier) nicht ganz zufrieden (vgl. Friedrich Wilhelm Graf, „Wie viele Gesichter hat Christus?“, FAZ vom 19.04.202, Nr. 92, S. 11). Es gebe methodische Mängel und überhaupt sollten wir die Umfragen nicht überbewerten. Denn (ebd.): 

Theologen wie Soziologen neigen oft dazu, selbst bei schwacher empirischer Grundlage starke Deutungen zu verkünden. Aber Glaubenswelten gehen in der vermeintlichen Alternative von „Wiederkehr der Götter“ und „Säkularisierung“ nicht auf. Die Lage in Berlin ist anders als die in Frankfurt oder Freiburg. Deshalb scheinen analytische Demut und Behutsamkeit geboten. Vieles verstehen wir nicht oder nur sehr unvollkommen. In der Loffeld-Debatte haben französische Geistliche darauf hingewiesen, dass die Generation Z in den letzten beiden Jahren die Messen am Aschermittwoch gestürmt habe. Gerade im musikalischen Christentum, das in der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung absurderweise keinerlei Rolle spielte, lässt sich nur wenig Erosion beobachten. Samstag für Samstag ist die Berliner Hohenzollernkirche mittags zum „Noon Song“ mit einem diversen Publikum dicht gefüllt. Karten für die zahlreichen Aufführungen von Johannes- und Matthäuspassion sind in München ausverkauft. Am Karfreitag findet im höchst weltlichen „Bergson Kunstkraftwerk“ ein Passionskonzert statt. Vielleicht ist „Säkularisierung“ doch weniger klar, weil vielschichtiger und komplizierter, als viele theologische wie soziologische Religionsdeuter derzeit meinen. Sich die Grenzen des eigenen Deutenkönnens einzugestehen, mag nicht die schlechteste epistemologische Tugend sein.

Anders sieht das der Theologe und Soziologe Detlef Pollack. In „Warum so hilflos? Religionssoziologie ist weiter, als es Friedrich Wilhelm Graf für möglichg hält“ (FAZ vom 07.05.2025, Nr. 105, S. 12) wirf er Graf vor, mit einem zu weiten Religionsbegriff zu operieren. Wenn man, wie Graf, das Weihnachtschristentum, Passionsrituale oder fluide Spiritualität einrechne, lasse sich die Lage zwar positiver deuten. Das täusche aber darüber hinweg, dass es um den Gottesglauben alles andere als gut bestellt sei. 

Heute … ist der Gottesglaube zu einer Option unter anderen geworden, die man wählen kann oder auch nicht und für die sich viele nicht mehr entscheiden. Für den Zeitabschnitt, für den repräsentative Umfragen vorliegen, lässt sich der Bedeutungsrückgang des Gottesglaubens empirisch gut nachvollziehen. 1949, zum Zeitpunkt der Gründung der Bundesrepublik, gaben 88 Prozent der Bundesbürger an, an Gott zu glauben, 78 Prozent ohne Vorbehalte und weitere zehn Prozent gemäß eigener, nichtkirchlicher Vorstellungen. Heute bekennen sich in Westdeutschland noch etwa 50 Prozent zum Glauben an Gott oder ein höheres Wesen, etwa 20 Prozent sagen, sie wüssten nicht, was sie glauben sollen, und 30 Prozent lehnen den Transzendenzglauben ausdrücklich ab. Mehr als 50 Prozent erklären, ihnen seien religiöse Fragen egal.

Diese Entwicklung ist bekannt.

Pollack macht jedoch interessanter Weise noch auf einen Prozess aufmerksam, über den weniger gesprochen wird. Es geht – mit meinen Worten ausgedrückt – um Folgendes: Indem die Vertreter der liberalen Theologie die Augen vor der dramatischen Entwicklung verschließen, verhindern sie ein Umdenken in den Kirchen. Da, wo keine Krise ist, braucht man auch nicht über die Ursachen und Richtungswechsel nachzudenken. Anstatt das Sterben der Kirchengemeinden auch mit der Kraftlosigkeit der liberalen Theologie in Verbindung zu bringen und eine andere Richtung einzuschlagen, werden die Prozesse der Entkirchlichung kleingeredet. 

Im O-Ton klingt das so: 

Es ist an der Zeit, dass die führenden Vertreter der liberalen Theologie die Befunde der empirischen Analysen zur Kenntnis nehmen. Das wäre auch deswegen wichtig, weil die Immunisierungsstrategie der liberalen Theologie das kirchliche Handeln alleinlässt. Die religionssoziologisch diagnostizierten Krisenprobleme, die nicht nur die Kirche, sondern auch den Glauben und die Religion in allen ihren Dimensionen betreffen, sind in der kirchlichen Praxis längst angekommen. Die liberale Theologie hat so in den letzten Jahren nicht ohne Erfolg an ihrer eigenen handlungspraktischen Irrelevanz gearbeitet.

Der Kritik Grafs an der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung ist eine gewisse Tragik nicht abzusprechen, falls man die Säkularisierungstendenzen wie ich mit Bedauern beobachtet. Die von einem überlegenen Standpunkt aus proklamierten Urteile bleiben weit hinter dem erreichten Stand der religionssoziologischen Diskussion zurück. Graf kennt weder die neuere religionssoziologische Literatur, noch scheint er überhaupt die Studie, die er zerreißt, gelesen zu haben. Stattdessen bedient er sich veralteter Argumentationsmuster, mit denen die Religionssoziologie seit Jahrzehnten umgeht.

Sein Text ist damit nicht nur ein Zeugnis theologischer Realitätsverweigerung, sondern auch eine Manifestation der aporetischen Situation, in die sich die liberale Theologie gebracht hat. Sie meint, mit historisierenden Einordnungen, begriffstechnischen Manövern und methodologischen Blindflügen ihre Sache retten zu können. Aber sie zeigt damit nur ihre argumentative Hilflosigkeit und wird so selbst zu einem Ausdruck dessen, was sie bekämpft: zu einem Symptom der Säkularisierung.

Kirchen haben 2024 mehr als eine Million Mitglieder verloren

Die Zahl der Kirchenaustritte ist im Jahr 2024 leicht zurückgegangen. Die Zahl der Austritte liegt jedoch weiterhin auf einem hohen Niveau. Die FAZ meldet:

Die beiden großen Kirchen in Deutschland haben im Jahr 2024 zusammen mehr als eine Million Mitglieder verloren. Das teilten die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) und die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) am Donnerstag mit. Die Zahl der Mitglieder in der katholischen Kirche sank auf 19,77 Millionen; in der evangelischen Kirche sank die Mitgliederzahl auf 17,98 Millionen.

Die Gründe für den fortgesetzten Mitgliederschwund sind Kirchenaustritte sowie das zunehmend starke Auseinanderklaffen von Sterbefällen und Taufen. In der katholischen Kirche sank die Zahl der Kirchenaustritte von rund 403.000 im Jahr 2023 auf rund 322.000 im Jahr 2024, in der evangelischen Kirche sanken die Austritte im gleichen Zeitraum von rund 380.000 auf rund 345.000.

Die rekordhohen Austrittszahlen der vergangenen Jahre wurden damit nicht mehr erreicht, die Zahl der Austritte liegt aber weiterhin auf einem deutlich höheren Niveau als vor den Missbrauchsskandalen. Erstmals seit mehreren Jahren verzeichnete die evangelische Kirche zudem wieder höhere Austrittszahlen als die katholische Kirche. Anfang des vergangenen Jahres wurde allerdings auch die ForuM-Studie zum Missbrauch in der evangelischen Kirche veröffentlicht, die womöglich einen gewissen Effekt auf die Mitgliederentwicklung in der EKD hatte. Die ForuM-Studie zieht aber anders als die MHG-Studie für die katholischen Kirche aus dem Jahr 2018 keinen starken Anstieg der Austrittszahlen nach sich.

Mehr: www.faz.net.

Männerarbeit: Mehr als nur Rechentschaftsstrukturen

Samuel James hinterfragt in seinem Artikel „Why Christian Men Need Friendship, Not Just ,Accountability’“ die „Rechenschaftskultur“, die sich christlichen Männerkreisen ausgebreitet hat. Er plädiert nicht dafür, Rechenschaftsverhältnisse, in denen man etwa Sünden bekennt, aufzukündigen. Er warnt jedoch davor, das Miteinander von Männern darauf zu reduzieren. Vielmehr brauche es eine Wiederbelebung von echten, geistlichen Männerfreundschaften:

In unserer Zeit verbringen viele Männer einen Großteil ihrer wachen Stunden damit, allein auf einem Computer herumzuhämmern. Sie kehren in eine leere Wohnung zurück und entspannen sich mit Videospielen oder Streaming, lassen sich ein billiges (einsames) Abendessen liefern, bevor sie ihren Zyklus am nächsten Tag wieder aufnehmen. 

Wie um alles in der Welt könnte ein so junger Mann nicht von einer virtuellen Verführerin manipuliert werden? Vergleiche das mit der Vision in Hebräer 10, 23–25, NGÜ: „Ferner wollen wir unbeirrbar an der Hoffnung festhalten, zu der wir uns bekennen; denn Gott ist treu und hält, was er zugesagt hat. Und weil wir auch füreinander verantwortlich sind, wollen wir uns gegenseitig dazu anspornen, einander Liebe zu erweisen und Gutes zu tun. Deshalb ist es wichtig, dass wir unseren Zusammenkünften nicht fernbleiben, wie einige sich das angewöhnt haben, sondern dass wir einander ermutigen, und das umso mehr, als – wie ihr selbst feststellen könnt – der Tag näher rückt, ´an dem der Herr wiederkommt`.“ 

Paulus will damit sagen: Männer, ihr seid wichtig. Eure Brüder brauchen euch. Ihr könnt ihnen dabei helfen, durchzuhalten. Eure Brüder brauchen euch, um sie zu Liebe und guten Werken anzuspornen. Eure Brüder brauchen euch, um sich mit euch zu treffen. Sie brauchen euch, um sie zu ermutigen. Und sie brauchen dich, um sie daran zu erinnern, dass dieses Leben nicht alles ist, was es gibt. Wir könnten es so formulieren: Wir könnten es so formulieren: Nur diejenigen, die wirklich dazugehören, können zur Rechenschaft gezogen werden.

Mehr: www.digitalliturgies.net.

VD: TC

Vergeben – Warum eigentlich?

Lilia Stromberger-Hauff hat das Buch Vergeben – Warum eigentlich? von Tim Keller gelesen. Fazit:

Tim Kellers Buch ist gerade für diejenigen eine Bereicherung, die meinen, sie hätten schon alles rund um das Thema Vergeben im Griff. Zu sehr wird in diesem Buch deutlich, dass das Evangelium nur verstanden werden kann, wenn begriffen wird, dass man selbst von teurer Gnade abhängig ist und dass eine platte Entschuldigung auch vom besten Menschen vor Gott einfach nie reicht, um die Sünde zu sühnen: Es brauchte das Kreuz, um das Unentschuldbare zu vergeben.

Verletzte Personen werden hier ermutigt, die eigenen Verfehlungen, aber auch die der Menschen um sie herum begründet anzugehen und dann die Schönheit der konkreten Vergebung zu erleben, die vom Kreuz her möglich ist.

Kann es sein, dass zwischen Menschen reservierte Beziehungen bestehen, weil echtes Vergeben und Versöhnen nicht umgesetzt wird? Daher ist dieses Buch mit den anschaulichen, sehr greifbaren Gedankengängen und mit den vielen praktischen Anregungen (auch in den vier Anhängen) gewinnbringend für Theologen, engagierte Gemeindemitarbeiter und vor allem für Personen, die Menschen seelsorgerlich begleiten, um die inneren Auseinandersetzungen rund um Vergeben und Versöhnen zu durchschauen und beantworten zu können.

Man sollte sich allerdings Zeit zum reflektierenden Lesen gönnen, weil es Keller nicht um schnelle Antworten geht, sondern darum, die eigene Not und das Ausmaß von Vergeben im Gesamtkontext zu verstehen. Immer wieder kreist er um die Kernaussagen, daher wirkt die Struktur anfangs etwas verwirrend. Es wird ein ehrliches Mitdenken abverlangt, denn Keller ist sehr konkret und aufrüttelnd, indem er das, was der Mensch innerlich diskutiert, ungeschminkt formuliert. Menschen müssen irgendwie mit dem Zerstörten im Leben umgehen, daher ist Vergeben das zentrale Dauerthema, um das Evangelium im Alltag wirksam zu erleben und auszudrücken.

Mehr: www.evangelium21.net.

Predigt-Notizen für Kinder

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Wie können wir Kindern helfen, Predigten aufmerksam zu folgen und etwas daraus für sich mitzunehmen? Wie können sie herangeführt werden, die Predigt nicht nur „auszuhalten“, sondern sich selbst als Teil der Gemeinde zu sehen? 

Mithilfe der Predigt-Notizen soll genau das gelingen: Neben Platz für Notizen oder Zeichnungen gibt es auch Platz für Fragen, schwierige Wörter, für Gebetsanliegen und Dinge, die sie über Jesus gelernt haben. Kinder werden so angeleitet, die Predigt zu reflektieren. Für Eltern ist das Blatt eine Hilfe, mit ihren Kindern über das Gehörte ins Gespräch zu kommen.

Das Predigtblatt kann gratis heruntergeladen werden: verbum-medien.de.

Doppeltes Hören bei John Sott und Tim Keller

Auf der TGC-Konferenz 2023 sprach Christopher Watkin über Tim Kellers Vermächtnis und Vision für kulturelles Engagement und kommt dabei auf das sogenannte „Doppelte Hören“ zu sprechen. 

Watkin beginnt seinen Vortrag ab Minute 27: 

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