Ethik

Beiträge aus dem Bereich Ethik.

Datenschatten

201104201802.jpgThomas Thiel hat eine hervorragende Rezension zu einem wichtigen Buch geschrieben:

Technik und Wissenschaft, heißt es, hätten die Welt entzaubert, aber man kann auch zu dem Schluss gelangen, dass sich mit dem technischen Fortschritt eine neue Art des Unheimlichen über sie gelegt hat. Man spricht gern von technischer Magie, muss es jedoch nicht Verzauberung nennen. Es ist kein verlockendes, eher ein diffuses und gespenstisches Gefühl, das sich einstellt. Es äußert sich am stärksten dann, wenn maschinelle Leistungskraft dem eigenen Vermögen in Bereichen voraus ist, die man zum engeren Kern der Persönlichkeit rechnet. Wenn Taschenrechner eine bestimmte Art logischen Denkens abnehmen, ist das relativ leicht zu verschmerzen. Wenn aber Algorithmen in Urteil- und Geschmacksbildung eingreifen, wenn sie besser wissen, welches Lied man jetzt gerade hören möchte oder welches Buch man sich als nächstes bestellen sollte, und wenn Fremde Wissen über die eigene Person erlangen, dessen Quellen man nicht kennt und das mit unvermuteten Effekten und in unerwarteten Situationen hervortritt, dann äußert sich das als eine neue Form von prometheischer Scham: die Erfahrung, dass uns nur noch eine fiktive Autonomie bleibt, die von technischen Verfahren unsichtbar kanalisiert wird.

Hier die Buchbesprechung, die auch darauf eingeht, das soziale Netzwerke bereits vor der Einführung von Gesichtserkennungsfunktionen stehen: www.faz.net.

Das Buch gibt’s hier:

 

Die Kultivierung der Auslese

Ernst-Wolfgang Böckenförde hatte in seinem Aufsatz »Warum nicht PID?« in der FAZ vom 14. März 2011 für den uneingeschränkten Schutz des menschlichen Lebens plädiert. Damit fand Bockenförder erwartungsgemäß nicht nur Zustimmung.

In einem am 24. März veröffentlichten Brief distanzierte sich ein Leser nicht nur von dem christlichen, sondern auch von dem kantschen Begriff der Menschenwürde, demnach der Mensch in sich selbst Zweck ist und niemals Mittel zum Zweck sein darf. Unter Berufung auf die postmoderne Kommunikationstheorie von Niklas Luhmann forderte der FAZ-Leser einen Würdebegriff der Performance. Würde verdient demnach eine Person dann und nur dann, wenn sie sich selbt als souveräne und individuelle Person darstellen kann. Die Würde für einen Embryo spiele also keine Rolle, »weil er sich noch nicht selbst darstellen« könne. Menschenwürde solle nur jemand für sich in Anspruch nehmen, der sinnvolles Kommunizieren beherrsche (siehe FAZ vom 24. März 2011, Nr. 70, S. 34).

Am 26. März veröffentlichte die FAZ ein weiteres Schreiben. Diesmal brachte ausgerechnet ein Theologieprofessors den darwinistischen Zugang ins Spiel, der an Nietzsches »Nicht nur fort sollst du dich pflanzen, sondern hinauf!« erinnert (KSA, Bd. 2, S. 90). Wir hätten, so der Autor, in den letzten 150 Jahren viel dazugelernt, was das Wesen des Lebens anbeträfe. Eine Betrachtung des Einzelnen ohne Einbeziehung der Leben ermöglichenden Population sei sinnlos. Wenn es einen ethischen Referenzpunkt gäbe, so sei das »die Tatsasche des übergreifenden Lebensprozesses, der sich seit mehr als drei Milliarden Jahren auf dieser Erde behauptet hat, innerhalb dessen wir Menschen die Fähigkeit erlangt haben, den Prozess der genetischen Entwicklung durch die seit etwa hundert tausend Jahren verfügbare Intelligenz und die seit etwa sechstausend Jahren verfügbaren Sprachen und die seit zehn Jahren verfügbare – allerdings noch recht primitive – Technologie der Gentechnik gezielt zu beschleunigen.« »Wir selbst existieren nur«, schreibt der Verfasser weiter, »weil ungeheuerlich viele Arten auf dem Weg in die Zukunft sterben mussten, aber wir verbieten den Umgang mit genetischen Änderungen, weil einzelne Zellen eliminiert werden, deren Strukturen nachweisbar zu Krankheiten und Beeinträchtigungen bei einzelnen Menschen führen.« Ein möglicher Missbrauch von Freiheit dürfe uns »nicht daran hindern, die übergreifende Bestimmung des Menschen als Teil eines planetarischen Lebensauftrages zu sehen. Und dieser Lebensauftrag sagt ganz klar, dass wir noch keinesfalls am ›Ziel‹ sind« (siehe FAZ vom 26. März 2011, Nr. 72, S. 8).

Schließlich meldete sich in einem Leserbrief, der am 5. April veröffentlicht wurde, auch noch ein Mediziner zu Wort. Auf persönliche Erlebnisse mit lebensmüden Schwerstbehinderten anspielend, fragt er, ob nicht »bei einigen genetisch geschädigten Embryonen die Menschenwürde nur dann erhalten geblieben wäre, wenn sie nicht ausgetragen worden wären?« Die Aussortierung nach PID wäre – so gesehen – »eine Möglichkeit, die Menschenwürde von Embryonen zu bewahren« (siehe FAZ vom 5. April 2011, Nr. 80, S. 17).

Düstere Stellungnahmen. Ich kann nur hoffen, dass die Autoren selbst nie in Umstände hineingeraten, die es ihnen schwer machen, ihr personales Wesen positiv unter Beweis zu stellen. Mir scheint diese Kultivierung der Auslese die Ablösung vom christlichen Menschenbild zu spiegeln. Georg Simmel schrieb in seiner Philosophie des Geldes (Georg Simmel: Philosophische Kultur, Frankfurt am Main 2008, S. 590, zitiert nach einem Newsletter des Instituts für Demographie, Allgemeinwohl und Familie):

Tatsächlich ruht die ganze vom Christentum beherrschte Entwicklung der Lebenswerte auf der Idee, dass der Mensch einen absoluten Wert besitzt; jenseits aller Einzelheiten, aller Relativitäten, aller besonderen Kräfte und Äußerungen seines empirischen Wesens steht eben »der Mensch«, als etwas einheitliches und unteilbares, dessen Wert überhaupt nicht mit irgendeinem quantitativen Maßstab gewogen und deshalb auch nicht mit einem bloßen Mehr oder Weniger eines anderen Wertes aufgewogen werden kann.

Der evangelische Bonner Ethikprofessor Ulrich Eibach hat treffend zwischen Person und Persönlichkeit unterschieden. Persönlichkeit ist das, was uns konkret von einem anderen Menschen entgegentritt. Person jedoch ist der unzerstörbare Wesenskern, den auch Personen haben, deren »Persönlichkeit« für uns nur schwer feststellbar ist: z. B. Ungeborene, geistig Behinderte oder im Koma Liegende. Die unantastbare Würde der Person hängt gerade nicht am Beweis ihrer Persönlichkeit, also an dem Vorhandensein aller Körperteile, an bestimmten geistigen Fähigkeiten oder an der Fähigkeit, sich selbst verteidigen zu können.

Nach biblischem Verständnis ist ein Mensch auch dann eine unantastbare Person, die als »Ebenbild Gottes« geschaffen wurde, wenn das Menschliche kaum noch zu erkennen ist. So war die Persönlichkeit des besessenen Geraseners, der wie ein Tier lebte, fraß und brüllte, kaum noch menschlich zu nennen (vgl. Lk 8, 26–39). Doch Jesus sah in ihm ein Ebenbild Gottes. Durch die Befreiung aus der Macht des Bösen erschien die Persönlichkeit des Mannes wieder und er saß da und redete vernünftig, als wäre nie etwas gewesen. Hätte man ihn als Tier einstufen dürfen, nur weil das Menschliche kaum noch zu erkennen war? Und wer legt dann fest, welche äußeren Kennzeichen und Verhalten einen Menschen zum Menschen zu machen?

In der biblischen Ethik ist dem Menschen die Definitionsgewalt dafür, wer Mensch ist und Menschwürde genießt, entzogen. Wenn der Mensch anfängt zu definieren, welche seiner Mitmenschen Personen sind und welche nicht, ist letztlich niemand mehr sicher.

Du sollst nicht töten

Daniel Deckers schreibt am 16. April in einem FAZ-Kommentar zur PID:

Im Fall der PID reichen weder der Wunsch nach einem gesunden Kind noch die Verpflichtung, größeres Leid zu lindern, aus, um dieses Verfahren a priori oder auch nur in bestimmten Extremfällen als sittlich geboten erscheinen zu lassen. Denn die PID ist auch deswegen umstritten, weil sich auf dem Weg der Technikfolgenabschätzung – analog zu der sittlichen Bewertung der Kernenergie – Gesichtspunkte ergeben, die die Vermutung nahelegen, es könne zu einer irreversiblen Veränderung der Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens kommen: von der Unterscheidung zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben bis zu der Wahrnehmung von Schwangerschaft als einem Geschehen auf Probe, das die emotionale Bindung der Mutter an das werdende Leben wesentlich beeinträchtigt. Der stärkste Einwand gegen die PID ergibt sich noch immer aus der Abwägung von Rechtspflichten gegen Tugendpflichten. Wie kann es zulässig sein, in der Erfüllung der Tugendpflicht zu helfen eine unabdingbare Rechtspflicht (»Du sollst nicht töten«) zu verletzen?

Die Antwort auf diese Frage hängt indes von der Prämisse ab, ob der Embryo auch in vitro jener Schutzverpflichtung der Rechtsordnung unterliegt, die die Verfassung in der Achtung und im Schutz der Menschenwürde jeder Person zuspricht. An der Auslegung von Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes durch das Parlament und womöglich durch das Bundesverfassungsgericht wird sich im konkreten Fall der PID zeigen, welches Bild sich unsere Gesellschaft von sich selbst macht: Ob man in ihr von Beginn an als Mensch gleichberechtigter Teil der menschlichen Gemeinschaft ist oder ob man erst nach von der Gesellschaft festzulegenden Kriterien zum Menschen werden darf.

Hier der sehr lesenswerte Kommentar: www.faz.net.

Eine Pille für die Moral

Gibt es in Zukunft ein Medikament, das Schwerverbrecher in Gutmenschen verwandelt? Neue Studienergebnisse mit Psychopharmaka klingen vielversprechend.

Es gibt bereits Medikamente, die das Verhalten von Menschen beeinflussen: Psychopharmaka hellen die Stimmung auf, andere Medikamente beruhigen nervöse oder ängstliche Menschen, und manche Wirkstoffe verändern sogar das Sozialverhalten, wie der Arzneistoff Fluoxetin.

Er wird Patienten eigentlich verschrieben, die an einer Depression leiden, aber neuere Untersuchungen zeigen, dass er Menschen harmoniebedürftiger macht und auch Einfluss auf ihre Moralvorstellung hat.

Wenn solche Effekte möglich sind, könnten dann Pillen in Zukunft unsere Vorstellung von Gut und Böse beeinflussen? Dann würde eine Behandlung mit »Moral-Pillen« den Gefängnisbesuch ersetzen. Schwerverbrecher bekämen dann nicht 15 Jahre Knast, sondern lebenslang ein Medikament verabreicht.

»Für Schwerverbrecher könnte so eine Pille sinnvoll sein, wenn sie sicherstellt, dass sie nicht mehr straffällig werden, indem sie ihnen die Aggressivität raubt«, sagt Thorsten Galert von der Europäischen Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen in Bad Neuenahr-Ahrweiler.

Wir hatten das alles schon mal. Vor einigen Jahrzehnten schlug man uns vor, das Trinkwasser mit LSD anzureichern. Das hebe die Stimmung.

Hier der Artikel »Eine Pille, die Menschen moralischer macht«: www.welt.de.

Soll es noch ein ärztliches Ethos geben?

Ein Beschluss der Bundesärztekammer verändert das Berufsbild des Arztes in einschneidender Weise: Die deutsche Ärzteschaft stellt sich selbst (!) die Mitwirkung bei der Selbsttötung frei.

Das Philosophin Petra Gehring beschreibt in einem Beitrag für die FAZ einen stillen aber dramatischen Wandel im Selbstverständnis der Ärzteschaft. Mit der neuen Regelung sollen die »verschiedenen und differenzierten Moralvorstellungen von Ärzten in einer pluralistischen Gesellschaft« anerkannt werden, heißt es im Vorwort der neuen Grundsätze. Praktisch ist nun die Duldung der Beteiligung von Ärzten an assistierten Suiziden ausgesprochen.

Professorin Gehring schreibt:

Die Sache klingt bürokratisch, aber es geht um Leben und Tod. Am 21. Januar 2011 hat die Bundesärztekammer ihre Grundsätze zur ärztlichen Sterbebegleitung verändert. Die zuvor geltende Fassung stammte aus dem Jahr 2004 und war zum Zeitpunkt ihrer Verabschiedung umstritten, weil sie bei schwerstgeschädigten Neugeborenen und Wachkomapatienten auch ohne Vorliegen einer Patientenverfügung den Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen – auch: Ernährung und Flüssigkeit – vorsah. Die Diskussion darüber, ob ein solches Verhungernlassen von Komapatienten erlaubt sein soll, währte nur kurz. Wohl auch, weil für Sterbende unter der juristischen Formel »Änderung des Behandlungszieles« etwas Ähnliches bereits einige Jahre vorher eingeführt worden war. Tatsache ist: Arztentscheidung beziehungsweise Betreuerentscheidung können seit 2004 den Tod von schwerstbehinderten Neugeborenen und Komapatienten herbeiführen, und zwar ohne deren erklärten Willen und obwohl Wachkomapatienten lange leben und manchmal sogar wieder aufwachen, also keine Sterbenden sind.

Die neuen Grundsätze sind demgegenüber eine Revolution. Erstens eröffnen sie für neue Patientengruppen – Demenzkranke – den Pfad einer Gabe des Todes ohne erklärten Sterbewillen, also allein durch Arzt und Betreuer, zweitens verzichten sie auf jegliche Abgrenzung gegen aktive Sterbehilfe, und drittens stellen sie Ärzten die Beteiligung an Selbsttötungen frei. Die Situation Hilfloser in der Klinik verändert sich dramatisch: Auch für Verwirrte werden Betreuer nun zu Herren über Leben und Tod. Wohl noch dramatischer verwandelt sich aber das Profil des Arztberufs. Die Beteiligung an Selbsttötungen hat mit Krankenbehandlung nichts zu tun. Warum also der im Januar beschlossene Schritt?

Hier der Beitrag: www.faz.net.

Das Böse: Es macht ihnen Spaß

_images_I_41WAwWn33aL._SL160_.jpgDie Lust an der Grausamkeit ist größer als alle moralischen Hemmungen. Drei neue Studien gehen dem Ursprung des Bösen nach. Über Die Lust am Bösen: Warum Gewalt nicht heilbar ist von Eugen Sorg schreibt DIE WELT:

Für Eugen Sorg, den weitgereisten Reporter mit psychiatrisch belehrtem Blick, ist die Antwort klar. Das Böse ist eine Leidenschaft, die nur sich selbst kennt. Es ist keine Folge pathogener Zustände, keine Ausgeburt von Verzweiflung und keine Rache für erlittenes Unrecht. Das Böse ist auf der Welt, seit Menschen sich dazu entschließen, Böses zu tun.

Die Übeltäter wissen genau, dass ihre Untaten unrecht sind. Aber der Spaß an der Grausamkeit ist größer als alle Hemmnisse. Bosheit ist durch keine Zivilisation zu tilgen. Menschen sind gewalttätig, nicht weil sie müssen, sondern wenn sie dürfen. Nicht soziale, seelische, politische oder kulturelle Umstände produzieren Gewalt. Sie eröffnen nur Gelegenheiten, welche die Subjekte allzu gern nutzen.

Sorgs Belege für die brutalen Potenzen des Gattungswesens sind erdrückend. Umso stärker ist sein Zorn auf die Verleugnung des Bösen, auf die Torheit falscher Hoffnung, die den medialen und akademischen Diskurs bestimmt. Sorgs Buch steht in der besten Tradition einer Kritik der Illusionen und Klischees. Der populäre Therapiekult glaubt beharrlich an die Heilbarkeit des Bösen.

Hier mehr: www.welt.de.

Augustinus: Gottesstaat und Menschenstaat

Aurelius Augustinus unterscheidet in seiner – allerdings noch nicht voll entwickelten – »Staatstheorie« zwischen einem vergänglichen Staat, in dem der Mensch mit Macht regiert und einem unvergänglichen Staat, zu dem diejenigen gehören, die sich von der himmlischen Liebe leiten lassen (De civitate Dei XIV,28):

Demnach wurden die zwei Staaten durch zweierlei Liebe begründet, der irdische durch Selbstliebe, die sich bis zur Gottesverachtung steigert, der himmlische durch Gottesliebe, die sich bis zur Selbstverachtung erhebt. Jener rühmt sich seiner selbst, dieser »rühmt sich des Herrn«. Denn jener sucht Ruhm von Menschen, dieser findet seinen höchsten Ruhm in Gott, dem Zeugen des Gewissens. Jener erhebt in Selbstruhm sein Haupt, dieser spricht zu seinem Gott: »Du bist mein Ruhm und hebst mein Haupt empor.« In jenem werden Fürsten und untertworfene Völker durch Herrschsucht beherrscht, in diesem leisten Vorgesetzte und Untergebene einander in Fürsorge und Gehorsam liebevollen Dienst. Jener liebt in seinen Machthabern die eigene Stärke, dieser spricht zu seinem Gott: »Ich will dich lieben, Herr, meine Stärke.«

Einspruch im Namen der Menschenwürde

Am Donnerstag soll im Bundestag über PID abgestimmt werden. Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde meint, die PID sei ein Selektionsinstrument. Der Staat kann niemanden zu der Entscheidung ermächtigen, ob ein anderer weiterleben darf oder verworfen wird.

Die Würde, die ein fertiges Wesen auszeichnet, lässt sich nicht von seinem Lebensprozess abspalten, muss diesen vielmehr mit umfassen. Nimmt man nämlich eine bestimmte Phase dieses Lebensprozesses von der Anerkennung und Achtung, die dem Menschen von seiner Würde her geschuldet ist, aus oder sucht sie prozesshaft abzustufen, weil er doch erst ein Acht- oder Sechzehnzeller sei und zur ohnehin ungewissen Nidation noch nicht gekommen sei, reißt man ein Loch in die Entwicklung des einzelnen individuellen Menschen selbst. Soll die Achtung der Würde jedem Menschen als solchem gelten, muss sie ihm von Anfang an, dem ersten Beginn seines Lebens zuerkannt werden.

Dieser erste Beginn des eigenen Lebens des sich ausbildenden und entwickelnden Menschen liegt nun aber in der Verschmelzung von Samenzelle und Ei, dem Abschluss der Befruchtung. Durch sie bildet sich ein gegenüber Samen- und Eizellen, die auch Formen menschlichen Lebens sind, neues und eigenständiges menschliches Lebewesen. Das ist heute gesicherte naturwissenschaftliche Erkenntnis. Auch die Stellungsnahme der Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften geht davon aus, dass mit der Bildung des neuen Zellkerns das vollständige individuelle menschliche Genom entstanden ist.

Es sind, wie Herta Däubler-Gmelin in einem nun bald zehn Jahre zurückliegenden großen Interview (Däubler-Gmelin: Würde des Embryos ist unbezweifelbar) feststellte, alle Grundvoraussetzungen und Fähigkeiten dafür vorhanden, dass ein individueller Mensch entsteht beziehungsweise sich als solcher entwickelt. Das genetische Programm der Entwicklung ist fertig vorhanden, bedarf keiner Vervollständigung mehr oder eines qualitativen Sprunges, entfaltet sich vielmehr von innen her nach Maßgabe eigener Organisation. Hier, und nicht erst irgendwann später, setzt die Würde des Menschen ein und ebenso die Verpflichtung der Rechts- und Verfassungsordnung, sich schützend vor dieses Leben und seine Entwicklung zu stellen.

Hier der Artikel: www.faz.net.

Die Tyrannei der liberalen Moral

Eunice und Owen Johns aus Derby sind Christen. Sie haben bereits 15 Pflegekinder erfolgreich aufgezogen. 2007 bemühten sie sich um weitere Pflegekinder. Ihr Ersuchen wurde zurückgewiesen, da die zuständigen Sozialpädagogen der Auffassung sind, Johns‘ seien für die Erziehung von Kindern wegen ihrer ablehnenden Haltung gegenüber einem homosexuellen Lebensstil ungeeignet. Das Ehepaar klagte bis zum obersten Gerichtshof und hat im Februar 2011 verloren (vgl. hier).

Hier kommt nun der Historiker David Starkey ins Spiel. In einer britischen TV-Diskussionsrunde hat er sich folgendermaßen dazu geäußert:

Ich bin homosexuell und ich bin Atheist. Aber ich habe erheblich Zweifel an diesem Fall. Es scheint mir so, als ob wir die Tyrannei einer neuen Moral hervorbringen, die in jeder Einzelheit so repressiv ist wie die alte.

Ich habe großen Respekt vor Starkey und hoffe, dass viele Politiker sein Plädoyer für eine offene Gesellschaft ernst nehmen.

Hier Hintergrundinformationen und der Mitschnitt:


VD: EP

Schön ist auch gut

Melanie Mühl hat einen exzellenten Beitrag für die FAZ über die Ethik der Selbstoptimierung geschrieben. Der Arzt von heute bietet »Dienstleistungen der Rundumoptimierung« an. In der Konkurrenzgesellschaft stehen wir insgeheim auch im Wettbewerb mit der Natur. Fast unmerklich verändert sich dabei die Moral.

Man kann den Eindruck bekommen, Menschen mit Down-Syndrom seien aus unserem Straßenbild schon verschwunden. Das wäre paradox, da durch den medizinischen Fortschritt ihre Lebenserwartung und ihr Entwicklungspotential gestiegen sind. Es gibt eine gesicherte Zahl: Mehr als neunzig Prozent der Ungeborenen, die positiv auf Trisomie 21 getestet werden, werden abgetrieben. Es wäre anmaßend, mit dieser Zahl ein moralisches Urteil zu verbinden. Das Problem liegt tiefer. Die Frage ist, wie es um eine Gesellschaft steht, in der sich beinahe alle betroffenen Eltern gezwungen fühlen, sich gegen ihr behindertes Kind zu entscheiden? Wie groß muss ihre Angst vor einem auf Wachstum ausgerichteten System sein, in dem jede Beschränkung als Verlust verbucht wird, der nicht zu kompensieren ist – und wie gering die Unterstützung? Der Druck, für den das Gesundheitssystem maßgeblich verantwortlich ist, lastet auf vielen Eltern so stark, dass sie scheinbar gar keine Wahl haben.

Die Zahl der neunzig Prozent, die wir unter dem Stichwort Autonomie verbuchen, ist ein Skandal, aber sie wird nicht als Skandal benannt. Im Gegenteil. Der Frankfurter Soziologe Tilman Allert vermutet, dass der Grund, weshalb wir immer noch so tun, als stünden wir auf der moralisch richtigen Seite, daher rührt, dass wir die Moderne automatisch mit durchgesetzter Moralität identifizieren. Das Moderne werde als das moralisch Gute begriffen. Das bedeutet nichts anderes, als von einem ästhetischen Niveau der Lebensführung auf die moralische Kategorie zu schließen. 1971 publizierte der »Stern« den spektakulären Titel »Wir haben abgetrieben«. Unheimlich, sich vorzustellen, er würde in einer Neuauflage einmal lauten: »Wir haben nicht abgetrieben.«

Hier der Artikel »Ihn würde der Leberfleck stören«: www.faz.net.

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