Zitate

Der Verwandlung des Mainstreams

Wie konnte sich das Konzept der „Identitätssynthese“ (unter dem Einfluss der Postmoderne, des Postkolonialismus und der Critical Race Theory), das zunächst nur von einer kleinen nordamerikanischen Elite geglaubt und vertreten wurde, gesellschaftlich so schnell internationalisieren und etablieren? Schon im Jahr 2020 beriefen sich die NEW YORK TIMES und die WASHINGTO POST regelmäßig auf Schlüsselkonzepte, die mit der Identitätssynthese in Zusammenhang standen, etwa „weißes Privileg“ oder „struktureller Rassismus“.

Yascha Mounk nimmt die Medienwelt und große Techkonzerne in die Verantwortung. Der Aufstieg der sozialen Medien modifizierte grundlegend die Rolle, die Gruppenidentität im Leben junger Menschen spielt. Er schreibt (Im Zeitalter der Identität, 2024, S. 117–118 u. 137): 

Innerhalb weniger Jahrzehnte bewirkte die Identitätssynthese eine Transformation der intellektuellen Landschaft an amerikanischen Universitäten. Doch nicht einmal ihre leidenschaftlichsten Verfechter hätten sich vorstellen können, dass diese Ideen bald auch große Teile der amerikanischen Gesellschaft verändern würden. Als Kimberlé Crenshaw in einem Artikel den zwanzigsten Geburtstag der Critical Race Theory würdigte, klang sie ziemlich pessimistisch, was ihren zukünftigen Einfluss außerhalb der Universität betraf. Sie erlaubte sich einen Moment der Freude über die vor Kurzem erfolgte Wahl Barack Obamas als erstem schwarzen Präsidenten der Vereinigten Staaten. Anschließend warnte sie jedoch sogleich, dass sich die Öffentlichkeit aufgrund seines Aufstiegs wahrscheinlich weniger aufgeschlossen gegenüber den Kerngedanken der Critical Race Theory zeigen würde. „Breite Teile der Bevölkerung schienen zu glauben, dass nun, da Barack Obama im Weißen Haus war, das Kapitel ‚Rasse‘ endlich abgeschlossen war.“ Das lag Crenshaw zufolge auch daran, dass Obama selbst nahe daran war, die Rolle von „Rasse“ innerhalb der amerikanischen Gesellschaft zu leugnen. So räumte er in einer berühmten Wahlkampfrede zwar „rassische Ungerechtigkeiten“ ein, plädierte aber letztlich dafür, „dass wir uns darüber erheben und ‚universelle‘ Probleme angehen“. Damit, behauptete Crenshaw, stehe Obama „im Widerspruch zu den Kernelementen der CRT“. Als Folge davon, klagte Crenshaw, „verliert die Kritik des Rassismus an Bedeutung“.

Wie sich zeigte, waren Crenshaws Sorgen unbegründet. Ab 2010 trat eine schwindelerregende Wende beim Thema Identität ein. Innerhalb eines Jahrzehnts mutierten Ideen, die viele zunächst für reine Orchideenwissenschaft gehalten hatten, zu einer populären Ideologie mit erheblichem Einfluss auf den Mainstream. Zu Beginn der 2010er Jahre waren Begriffe wie „weißes Privileg“ und „struktureller Rassismus“ außerhalb exklusiver intellektueller Zirkel nahezu unbekannt. NGOs wie etwa die American Civil Liberties Union (ACLU) verteidigten stolz universelle Prinzipien wie die Redefreiheit. Die Kandidaten der Demokratischen Partei mieden im Wahlkampf die Forderung nach neuen Fürsorgeprogrammen, die ausdrücklich bestimmten ethnischen oder sexuellen Communitys vorbehalten wären. Innerhalb des nächsten Jahrzehntes durchliefen die Vereinigten Staaten eine erstaunliche Wandlung. Im Jahr 2020 beriefen sich die New York Times und die Washington Post regelmäßig auf Schlüsselkonzepte, die mit der Identitätssynthese in Zusammenhang standen, darunter sowohl „weißes Privileg“ wie auch „struktureller Rassismus“. Die ACLU hatte Kernteile ihres historischen Auftrags aufgegeben und weigerte sich inzwischen, Angeklagte zu unterstützen, deren Meinungsäußerungen sie als anstößig befand. Personen, die der Identitätssynthese zu Popularität verholfen hatten, wie etwa Robin DiAngelo und Ibram X. Kendi, waren als Bestsellerautoren häufig zu den besten Sendezeiten im Fernsehen zu Gast. Bei den Präsidentschaftswahlen 2016 und 2020 machten sich die Kandidaten der Demokratischen Partei die Sprache der Identitätssynthese zu eigen und versprachen eine ganze Reihe von Maßnahmen, die den Erhalt staatlicher Unterstützung von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe abhängig machten. Viele dieser Veränderungen haben ihren Ursprung in den Vereinigten Staaten. Doch sie übten schon bald weitreichenden Einfluss auf andere Länder aus. So mögen Konzepte wie „Mikroaggressionen“, „kulturelle Aneignung“ und „weißes Privileg“ an amerikanischen Universitäten ausgebrütet worden sein. Doch gegen Ende der 2010er Jahre machte sich ihr Einfluss in aller Welt – und auch in Deutschland – bemerkbar.

Die sozialen Medien entwickelten sich sowohl für neue Medienangebote als auch für traditionelle Publikationen zu wichtigen Verbreitungskanälen; Inhalte, die bestimmte Identitätsgruppen ansprechen, gewannen damit an Bedeutung. Folglich verbreiteten sich die wesentlichen Themen und Konzepte der Identitätssynthese schnell auf renommierten Nachrichtenportalen wie Vox und der New York Times.

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Papst Franziskus: „Alle Menschen sind fundamental gut“

Papst Franziskus hat ein Interview gegeben und wieder einmal ist nicht so recht klar, was er sagen will. Ich empfehle, ab Minute 12 reinzuhören. Einmal: Alle Menschen sind Sünder. Und dann: Alle Menschen sind fundamental gut. Es gibt ein paar Sünder, aber das Herz selbst ist gut.

Der Darwinismus kann alles erklären

Aus dem Schlusswort eines anerkannten Lehrbuchs zur Evolutionstheorie (Jan Zrzavý, Hynek Burda, David Storch u. a., Evolution: Ein Lese-Lehrbuch, Berlin u. Heidelberg: Springer, 2013, S. 455):

Wir wissen es nicht, wir haben keine Ahnung. Wir wissen nur, dass der Darwinismus in der Lage ist, alles zu erklären, und letztendlich irgendeine Erklärung bieten wird, wenn wir das Phänomen wirklich unter die Lupe nehmen würden. Dazu müssten wir aber wissen, wonach wir eigentlich genau fragen. Der Darwinismus bietet insoweit einen allgemeinen Erklärungsrahmen, als dass er als einziger mehr ermöglicht, als nur vor einer Vitrine mit Gehäusen zu stehen und zu staunen.

Na dann.

VD: RJ

Calvins Vorlesungsgebete

Eberhard Busch über die Gebete Calvins bei öffentlichen Vorlesungen (Gotteserkenntnis und Menschlichkeit: Einsichten in die Theologie Johannes Calvins, 2006, S. 53):

Öffentliches Gebet fand bei Calvin aber nicht nur im Gottesdienst statt, sondern auch in seinen Vorlesungen, die in der Auslegung biblischer Bücher bestanden. Diese eröffnete er in der Regel mit demselben Gebet: „Der Herr gebe, dass die Beschäftigung mit den Geheimnissen seiner göttlichen Weisheit unsere Frömmigkeit wahrhaft fördere, zu seiner Ehre und zu unserer Erbauung, Amen.“ Und er beendete sie jeweils mit einem kurzen freien Gebet. Dieses Faktum zeigt die Nähe von Predigten und Vorlesungen nach Calvins Verständnis. Beide stehen in Entsprechung zum prophetischen „Lehramt“ Jesu und gelten als „Unterweisung“.

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Das christliche Konzept von Wahrheit

Der 2017 verstorbene Harry Blamires hat vor 60 Jahren einmal über das christliche Denken gesagt (The Christian Mind, 1963, Kindle Position 1392ff):

Wenn wir Christen von den „großen Wahrheiten“ des christlichen Glaubens sprechen, meinen wir vor allem jene Lehren, die das Zusammentreffen des Zeitlichen und des Ewigen beschreiben, Lehren, die von einer Wirklichkeit jenseits unserer endlichen Ordnung zeugen, die auf diese Ordnung eingewirkt hat und immer noch eingewirkt; die Lehren von der göttlichen Schöpfung, der Menschwerdung, der Erlösung, dem Wirken des Heiligen Geistes. Mit dieser Illustration, wie wir Christen in der Praxis das Wort Wahrheit verwenden, wenn wir christlich denken und sprechen, soll die ganze Breite der Kluft aufgezeigt werden, die den christlichen vom weltlichen Geist trennt. Für den Christen ist die Wahrheit übernatürlich begründet: Sie wird nicht in der natürlichen Welt hergestellt. Die Heftigkeit des Zusammenstoßes zwischen dem säkularen und dem christlichen Denken wird in dieser Hinsicht oft unterschätzt. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass das Versäumnis, klar zwischen dem christlichen Wahrheitsbegriff und dem Wahrheitsbegriff zu unterscheiden, der im säkularen Denken verbreitet ist, zu den bedauerlichsten Versäumnissen unserer Zeit gehört. Dieses Versäumnis hat mehr als alles andere dazu beigetragen, die intellektuelle Überzeugungskraft der Kirche zu schwächen. Es hat im Denken der Christen selbst zu schwammiger Sentimentalität und Ausflüchten geführt und damit Klarheit und Autorität zerstört. Umgekehrt hat sie in der säkularen Welt die Überzeugung genährt, dass die Kirche dieser Generation nichts zu sagen hat, was tiefer oder verblüffender wäre als die herkömmlichen Plattitüden der Wohlfahrtsethik. In aller Kürze kann man den Konflikt zwischen christlichem und säkularem Geist so zusammenfassen: Der Säkularismus behauptet, dass das rechthaberische Ich der einzige Richter der Wahrheit ist. Das Christentum erhebt die gegebene göttliche Offenbarung zum letzten Prüfstein der Wahrheit. Die Kennzeichen der christlich verstandenen Wahrheit sind also: Sie ist übernatürlich begründet und nicht in der Natur entstanden; sie ist objektiv und nicht subjektiv; sie ist eine Offenbarung und keine Konstruktion; sie wird durch Nachforschung entdeckt und nicht durch ein Mehrheitsvotum gewählt; sie ist verbindlich und nicht eine Frage der persönlichen Entscheidung.

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Die Polemik gegen Calvin

Heinz Langhoff schreibt über die Polemik gegen Calvin („Der verkannte Calvin“, in: Joachim Rogge (Hg.), Johannes Calvin, 1963, S. 51):

Das vorige Jahrhundert mit seinem allzu leichtfertigen, zivilisationsfreudigen Optimismus sah auf Grund all der vielen überkommenen Verzeichnungen in Calvin ebenfalls den finsteren, diktatorischen Wüterich gegen Menschenrecht und Freiheit. Bezeichnend dafür ist das Werk des liberalen J. B. Galiffe aus Genf, von dem Ernst Pfisterer schreibt: „Wo man an Hand der … Akten und Urkunden ihn kontrollieren kann, immer ergibt sich dasselbe Bild: entweder er zitiert sie falsch, oder er unterschlägt sie völlig, wenn sie ihm nicht passen, oder er legt völlig sinnwidrig aus; oder er phautasiert Tatsachen hinzu! Nur in einem Stück bleibt er sich treu: alles, aber restlos alles, was er erzählt, verzerrt und verdunkelt das Bild Calvins.“

Auf Galiffes Darstellungen fußt, obwohl sie inzwischen widerlegt waren, die Arbeit des Katholiken Kampschulte, der „Calvin nicht verstanden und nicht geliebt“ hat (Stickelberger). Sie wird grundlegend für das Urteil mancher Wissenschaftler, auch auf evangelischer Seite. Wir müssen heute mit Bedauern feststellen, daß sich durch diese geschickte und eingängige Arbeit mehr als eine Generation von katholischen wie evangelischen Pfarrern und Religionslehrern aufs Ganze gesehen vom Studium der Quellen abhalten und am wirklichen Calvin vorbeiführen ließ. So kommt es, daß die vorhin erwähnte „accusativus“-Legende sogar in ein wissenschaftlich anerkanntes Werk wie die Realencyklopädie durch den Artikel R. Stähelins eingeschleppt wurde. Darüber hinaus widerfährt es Calvin bis auf den heutigen Tag, daß die Entstellungen seiner schärfsten Gegner sogar von denen für bare Münze genommen und weiterverbreitet werden, denen nicht zuletzt durch sein Wirken das Evangelium wiedergewonnen und erhalten geblieben ist. Im Begleittext eines vom Reformierten Rat für Presse- und Publikationsangelegenheiten in Holland herausgegebenen Bildstreifens steht u.a. die ungeheuerliche Behauptung, Calvin habe ein Mädchen enthaupten lassen, das seine Eltern geschlagen habe.

Die große Umkehrung

Tim Keller schreibt über die Erlösung (Hoffnung in Zeiten der Angst, 2022, S. 128): 

Wenn Jesus uns dazu auffordert, unser Kreuz auf uns zu nehmen und ihm nachzufolgen (Matthäus 16,24), bedeutet das: Um durch die große Umkehrung gerettet und verändert zu werden, müssen wir durch unsere eigene „Umkehrung“ gehen. So wie Jesus unsere Erlösung nicht durch das Ausüben seiner Macht bewirkte, sondern durch die freiwillige Aufgabe von Macht, so erlangen wir diese Erlösung nicht dadurch, dass wir all unsere Kraft zusammennehmen, um moralisch perfekt zu werden, sondern indem wir unsere totale Schwäche, Hilflosigkeit und Bedürftigkeit eingestehen. Und so wie bei Jesus Schwachheit und Schande der einzige Weg zu wahrer Kraft und Herrlichkeit war, so ist bei uns die Reue über unsere Schuld und Sünde der einzige Weg zu größter Zuversicht und Ehre – zu dem Wissen, dass wir in Christus von dem Herrn des Universums angenommen und geliebt sind.

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Unsere Ersatzgötter

Folgendes Zitat habe ich bei der Psychotherapeutin Helga Lemke gefunden (Seelsorgerliche Gesprächsfindung, 1992, S.19): 

Mit dem Verlust des Glaubens an einen lebendigen Gott ist zugleich auch die Möglichkeit verlorengegangen, ein Urvertrauen entwickeln zu können. Das ist aber nach Erik Erikson eine der Voraussetzungen für die gesunde Entfaltung der Persönlichkeit. Ohne das Wissen um und die Erfahrung von Geborgenheit ist der Mensch existentiellen Ängsten preisgegeben, die zu erheblicher Beeinträchtigung seines psychischen Befindens führen können. „Wir leben in einer säkularisierten Welt, in der die Folgen der allgemeinen Gottlosigkeit einen Teil der Menschen regelrecht krank machen.“ Der Mensch ist insofern genötigt, die entstandene Leere und Einsamkeit zu füllen und sich Ersatzgötter zu schaffen, die die Funktion einer höheren Macht erfüllen sollen. Das mag u.a. auch erklären, warum bestimmte Werte oder auch Ideologien einen immer stärkeren Absolutheitsanspruch erheben und mit starken Machtprivilegien ausgerüstet sind – werden doch an sie fast göttlich zu nennende Ansprüche gestellt bis hin zu paradiesischen Erwartungen: Sicherheit, Geborgenheit und Frieden zu gewährleisten.

Martin Hengel: Jesus als Vollender

Martin Hengel schreibt („Jesus und die Tora“, Theologische Beiträge, Jahrgang 9, 1978, S. 152–172):

Seine endzeitliche Funktion macht nach dem Urteil Jesu den Täufer zu dem Größten unter den vom Weibe Geborenen, „aber der Kleinste in der Gottesherrschaft ist größer als er“ (Mt. 11,11–Lk. 7,28). Ganz gleich wie dieses rätselhafte Wort Jesu zu deuten ist, ob auf Jesus selbst oder auf die, die an der Gotte herrschaft teilhaben, es zeigt ebenfalls das qualitativ Neue, Andersartige, das mit der Zeit der Erfüllung, dem Anbruch der Gottesherrschaft verbunden ist. Da kommt auch in dem Makarismus Jesu zum Ausdruck „Selig sind die Augen, die sehen, was ihr seht (und die Ohren, die hören, was ihr hört), denn ich sage euch, viele Propheten und Könige wollten sehen, was ihr seht, und sahen es nicht, und wollten hören, was ihr hört, und hörten es nicht“ (Lk. 10,23 f.). Das Sehen und Hören bezieht sich auf Jesu Taten und Worte, die selbst schon Teil der Erfüllung sind. Denn mit seinem Auftreten ist die Gottesherrschaft schon im Anbruch: „Wenn ich mit dem Finger Gottes die Dämonen austreibe, dann ist die Gottesherrschaft zu euch gekommen“ (Lk. 11,20). Sie „kommt nicht mit der Beobachtung (äußeren Vorzeichen)“, denn sie „ist mitten unter euch“ – in der Person Jesu, ihr begreift es nur nicht (Lk. 17, 20 f.). Die Kontrastgleichnisse zeigen gerade im Kontrast auch die Kontinuität zwischen dem äußerlich unscheinbaren Wirken Jesu und der Vollendung der Gottesherrschaft „in Kraft” (Mk. 9,1). Das bedeutet aber, daß es ein grundlegender Irrtum war, in Jesus eine nichtmessianische Gestalt zu vermuten, in ihm den bloßen „Rabbi und Propheten“ sehen zu wollen. Auch die von Conzelmann eingeführte Kategorie des „letzten Rufers“ (RGG3 3,633) reicht nicht aus, sie sollte eher auf den Täufer bezogen werden. Jesus tritt nicht mit dem Anspruch auf, letzter Rufer, sondern – messianischer – Vollender zu sein. 

J.G. Machen: Gesetzesgerechtigkeit in der anti-reformatorischen Exegese

Grasham Machen über die Gesetzesgerechtigkeit in der anti-reformatorischen Exegese (Christentum und Liberalismus, 213, S. 167–168):

Dem modernen Liberalismus nach bedeutet Glaube dasselbe wie „Jesus im eigenen Leben zum Herrn machen“. Durch diesen Akt des „Jesus zum Herrn machen“ soll das Wohlergehen der Menschen erwirkt werden. Doch das bedeutet schlichtweg, dass Erlösung durch unseren eigenen Gehorsam gegenüber Jesu Befehlen erreicht werden soll. Solch eine Lehre ist nur eine vergeistigte Form von Gesetzlichkeit. Nicht das Opfer Jesu, sondern unser eigener Gehorsam wird zum Grund der Hoffnung.

Auf diesem Weg werden alle Ergebnisse der Reformation zunichtegemacht, und man kehrt zurück zur Religion des Mittelalters. Zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts erweckte Gott einen Mann, der begann, den Brief an die Galater mit eigenen Augen zu lesen. Das Ergebnis war die Wiederentdeckung der Lehre von der Rechtfertigung allein durch Glauben. Auf dieser Entdeckung ruht unsere ganze evangelische Freiheit. Ausgelegt von Luther und Calvin wurde der Galaterbrief zur Magna Charta der christlichen Freiheit. Doch der moderne Liberalismus ist zu der alten Interpretation des Galaterbriefes zurückgekehrt, die von den Reformatoren so bekämpft wurde. Deswegen ist Professor Burtons raffinierter Kommentar [A Critical and Exegetical Commentary on the Epistle to the Galatians. International critical commentary on the Holy Scriptures of the Old and New Testaments, 1920) über diesen Brief, trotz aller modernen und wertvollen Gelehrsamkeit, in einem Punkt ein mittelalterliches Werk. Es ist zurückgekehrt zu einer anti-reformatorischen Exegese, nach der Paulus in seinen Briefen lediglich die nur bruchstückhaften Moralvorstellungen der Pharisäer anprangern soll. In Wirklichkeit ist das Ziel der Attacke des Paulus der Gedanke, dass ein Mensch sich seine Akzeptanz durch Gott auf irgendeine Weise verdienen könne. Paulus Hauptinteresse besteht nicht darin, gegen einen rein äußerlichen Kult für eine spirituelle Religion zu werben, sondern gegen menschliche Verdienste die freie Gnade Gottes zu betonen.

Die Gnade Gottes wird vom modernen Liberalismus abgelehnt. Das Resultat besteht in Sklaverei, der Versklavung unter das Gesetz, eine elende Gefangenschaft, in welcher der Mensch die unmögliche Aufgabe angeht, mithilfe seiner eigenen Gerechtigkeit vor Gott bestehen zu können. Auf den ersten Blick mag es seltsam erscheinen, dass ausgerechnet der Liberalismus, ein Begriff, der ja „Freiheit“ bedeutet, in Wahrheit zu elender Sklaverei führt. So merkwürdig ist dieses Phänomen aber gar nicht. Die Emanzipation vom heilsamen Willen Gottes bringt automatisch die Abhängigkeit von einem schlimmeren Zuchtmeister mit sich. Das ist der Grund, warum von der liberalen Kirche gesagt werden kann, dass sie „mit ihren Kindern in der Knechtschaft lebt“, wie es zu Paulus Zeiten von Jerusalem gesagt wurde (vgl. Galater 4,25). Gebe Gott, dass sie wieder umkehrt zur Freiheit des Evangeliums Christi.

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