Dietrich Bonhoeffer (Ethik, Werkausgabe, Bd. 6, S. 203–204):
Mit der Eheschließung ist die Anerkennung des Rechtes des werdenden Lebens verbunden, als eines Rechtes, das nicht in der Verfügung der Eheleute steht. Ohne die grundsätzliche Anerkennung dieses Rechtes hört eine Ehe auf Ehe zu sein und wird zum Verhältnis. In der Anerkennung aber ist der freien Schöpfermacht Gottes, der aus dieser Ehe neues Leben hervorgehen lassen kann nach seinem Willen, Raum gegeben. Die Tötung der Frucht im Mutterleib ist Verletzung des dem werdenden Leben von Gott verliehenen Lebensrechtes. Die Erörterung der Frage, ob es sich hier schon um einen Menschen handele oder nicht, verwirrt nur die einfache Tatsache, daß Gott hier jedenfalls einen Menschen schaffen wollte und daß diesem werdenden Menschen vorsätzlich das Leben genommen worden ist. Das aber ist nichts anderes als Mord. Daß die Motive, die zu einer derartigen Tat führen, sehr verschiedene sind, ja daß dort, wo es sich um eine Tat der Verzweiflung in höchster menschlicher oder wirtschaftlicher Verlassenheit und Not handelt, die Schuld oft mehr auf die Gemeinschaft als auf den Einzelnen fällt, daß schließlich gerade an diesem Punkt Geld sehr viel Leichtfertigkeit zu vertuschen vermag, während bei den Armen auch die schwer abgerungene Tat leichter ans Licht kommt, dies alles berührt unzweifelhaft das persönliche, seelsorger[liche] Verhalten gegenüber dem Betroffenen ganz entscheidend, es vermag aber an dem Tatbestand des Mordes nichts) zu ändern. Gerade die Mutter, der dieser Entschluß zum Verzweifeln schwer wird, weil er gegen ihre eigenste Natur geht, wird die Schwere der Schuld am wenigsten leugnen wollen.
Es ist offenbar schon wesentlich angenehmer, sein „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ zu singen, als seine klare und eindeutige Rede zu verinnerlichen.
Die Einleitung liest sich sehr „katholisch“ 😉
Ich würde jedoch nicht von einem Recht „werdenden Lebens“ sprechen. Was soll das sein? Rechte können nur real existierende Wesen mit einer natürlichen / intrinsischen Potentialität für Rationalität bzw. Moral haben. Ich meine nur umgekehrt, in Bezug auf eine Pflicht der Eheleute, ergibt das einen Sinn: Mann und Frau akzeptieren durch die Eheschließung die Pflicht, die Existenz neues menschlichen Lebens zu fördern und nicht aktiv zu behindern oder gar zu vernichten.
Liebe Grüße
Jo
PS: Es hätte dem letzten Satz gutgetan, wenn man ein paar Punkte mehr gesetzt hätte 😉
Zu früh auf den Knopf gedrückt und dann auch noch den Text verloren…
Falls Bonhoeffer hier die „Frucht im Mutterleib“ als „werdendes Leben“ bezeichnet (und das scheint mir hier tatsächlich der Fall zu sein), dann ist das nicht korrekt. Eine befruchtete Eizelle ist kein „werdendes“, sondern „bestehendes“ menschliches Leben im Angangszustand seiner natürlichen Entwicklung. Das bestreitet übrigens nicht mal ein Peter Singer bzw. er kritisiert sogar explizit Abtreibungsbeführworter, die metaphysisch relevante „Linien“ im bestehenden Entwicklungsprozess des Menschen ziehen möchten.
Wir sollten Bonhoeffer zugestehen, dass er im Blick auf die Embryonalentwicklung noch nicht so gut informiert war wie wir es heute sind. Er spricht zudem nicht vom werdenden Menschen in dem Sinn, wie es heute in der Ontogenese teilweise üblich ist. Aber ja, wir können das klarer sagen.
Liebe Grüße, Ron
Lieber Ron,
ich bin kein Fachmann in Wissenschaftsgeschichte, hatte aber angenommen, dass dieser Sachverhalt damals bereits bekannt war. Falls nicht, sei ihm das natürlich nachgesehen. Dann würde ich bei Veröffentlichung eines solchen Zitates aber darauf hinweisen bzw. überholte Informationen als solche kenntlich machen. Sonst kann das ggf. den gegenteiligen vom eigentlich intendierten Effekt haben…
Liebe Grüße
Jo
Aristoteles (sukzessive Beseelung) oder das biogenetische Grundgesetz (Haeckel) waren noch sehr präsent. Der große Umbruch kam erst nach dem Krieg. Einen historischen Überblick gibt Florian Bruns.
Liebe Grüße, Ron
Ich wäre da nicht so kleinlich bei der Formulierung „werdendes Leben“, ich denke, man weiß, was Bonhoefer aussagen will. Denn sonst könnte man ja auch per Wortklauberei ableiten, dass Abtreibung nur innerhalb einer Ehe / nach einer Eheschließung als negativ zu bewerten sei. Ich gehe mal davon aus, dass für Bonhoefer eine geschlossene Ehe Voraussetzung für Geschlechtsverkehr war (bzw. aus der Bibel abgeleitet der voreheliche GV eine nachfolgend formell geschlossene Ehe verlangte).
Meiner Meinung nach spricht Bonhoeffer von der Eheschließung und deren Konsequenzen. Die Eheleute können nun “schöpferisch“ tätig sein. Verkürzt, sie können Leben schaffen. Ergo ist jedes Verhalten dem noch nicht sichtbaren – also auch dem noch nicht gezeugten – Leben unterzuordnen. Für Bonhoeffer war vollkommen klar, dass nur Lebende auch Leben schaffen können bzw. dieses – auch potenzielle Leben – schützen müssen.
SK
Fairerweise sollte man beachten: Bonhoeffers „Ethik“ besteht aus einer Reihe von Skizzen, aus dem Nachlass herausgegeben, von Bonhoeffer nicht selbst freigegeben und medizinisch nicht immer dem heutigen Wissen entsprechend (z. B. auch im Abschnitt: „Der Selbstmord“) Das sollte man bei der Diskussion über die „Ethik“ immer mit einbeziehen.
[…] hat beispielsweise das linke Establishment, egal ob in Politik oder Kirche, in den letzten Jahren Bonhoeffers Einsatz für das Lebensrecht mehr oder weniger komplett ausgeblendet. Man stelle sich mal vor, ein Heinrich Bedford-Strohm oder […]