Im einstigen Land der Dichter und Denker wird immer weniger gelesen. 27 Minuten pro Tag verbringen Personen ab zehn Jahren durchschnittlich mit dem Lesen gedruckter oder digitaler Medien, wie das Statistische Bundesamt am Dienstag zu den Ergebnissen der Zeitverwendungserhebung 2022 anlässlich der Frankfurter Buchmesse mitteilte (vgl. hier).
Auf zwei Artikel, die diese Entwicklung indirekt belegen, möchte ich kurz hinweisen.
David Brucklacher beschreibt in „Teuer erkaufte Ruhe“, dass Kleinkinder immer häufiger ein Smartphone in die Hand gedrückt bekommen. „Wo früher noch Kinderbücher, Kuscheltiere und Kartenspiele zum Einsatz kamen, greifen viele Eltern heute zu einem Trick, den die moderne Technologie ihnen seit ein paar Jahren ermöglicht: zur Smartphone-Hypnose.“ Doch digitalen Medien fördern das Lernen oder Lesen selbst dort nicht, wo Lernsoftware zum Einsatz kommt:
Das Gehirn junger Kinder befindet sich noch in der Entwicklung und kann den Unterschied zwischen der Realität und den konsumierten Medien nicht erfassen. „Es lässt sich aus Versuchen mit Erwachsenen und Jugendlichen sowie auch aus Tierversuchen ableiten, dass das Belohnungszentrum beim Medienkonsum stark angesprochen wird“, erklärt Margarete Bolten. Die akustischen und optischen Reize überfordern das Kind. In seiner Lebensrealität kommen sie in dieser Intensität normalerweise nicht vor.
Hier gibt es auch besonders großes Suchtpotential. Aus der Verhaltensforschung weiß man, dass das menschliche Gehirn besonders starke positive Reize abspeichert und wieder erfahren möchte. „Jüngeres Alter geht mit erhöhten Suchttendenzen gegenüber dem Smartphone-Gebrauch einher“, erläutert Christian Montag. Das liege daran, dass Kinder sich selbst noch nicht regulieren könnten. „Sie können nicht auf dieselben hemmenden und unterdrückenden Mechanismen zugreifen wie Erwachsene“, sagt der Professor. Kinder seien der Versuchung also deutlich stärker ausgesetzt, immer weiter zu schauen, und dadurch anfälliger für Verhaltenssuchten, sagt auch Psychologin Bolten.
Uwe Ebinghaus führt in „Ist der Campus verloren?“ (FAZ, 26.03.25, Nr. 72, S. 11) aus, wie auf dem Geländer der Universitäten die Buchläden verschwinden. Seit der Corona-Pandemie kam es „zu Umsatzeinbrüchen von bis zu 70 Prozent, viele etablierte Geschäfte wie die Uni-Buchhandlung Schaten in Bochum schlossen ihre Türen“. „Die Zeit der Standardwerke und Bücherleselisten sei vorbei“, sagt Philipp Neie, der Geschäftsführer einer Universitätsbuchhandlung in Bonn. Aus seiner Sicht „haben Buchhandlungen auf dem Campus künftig nur noch eine Überlebenschance, wenn sie sich als ‚Eventlocation‘ mit Café, Lesungen und Musik etablieren könnten“. Peter Stobbe, Leiter des Uni-Buchladens in Bochum, habe „früher zu Beginn des Wintersemesters an Philologiestudenten 500 Reclam-Klassiker verkauft, heute seien es „nur noch 30“.
Hans Peter Richter, der einen auf Jura und Wirtschaftswissenschaften spezialisierten Fachbuchverlag in der Nähe von Kiel führt, bestätigt die stark zurückgegangene Nachfrage. Hätten Buchhandlungen früher in den Wirtschaftswissenschaften drei bis vier Regale mit Fachbüchern vorgehalten, sei es heute noch ein halbes. Vor allem Einführungen verkauften sich nicht mehr, die Onlineangebote der Unis seien einfach zu gut geworden. Komplette Vorlesungen würden seit Corona online gestellt und seien zum Teil bundesweit verfügbar. Lediglich seine stark spezialisierten Buchreihen hielten sich stabil.
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Das Fachbuch für Studenten ist offenbar so gut wie tot – man kann das akzeptieren und sich dennoch fragen, was das eigentlich ist, ein Campus ohne Buchhandlung und ohne Studenten, die auch mal ein ganzes Buch lesen. Handelt es sich um die neue Normalität oder nicht doch eher um die beklagenswerte Schwundstufe dessen, was einmal als akademisches Leben galt?
Anhand meiner eigenen Kinder kann ich sagen, dass ein Buch bei ihnen kaum (noch) vorkommt. Youtube ist auf allen Ebenen eine große Konkurrenz, besonders bei den Bildungsangeboten. Youtube ist ja nicht nur voll von Müll. Es ist auch voll von Bildungsmöglichkeiten. Die Folge davon sind gravierende Mängel in Bereichen, in denen es darum geht sich schriftlich sprachlich auszudrücken. Meine Kinder haben alle einen höheren bzw. besseren Bildungsabschluss als ich es habe, aber alle tun sich schwer, selber Texte zu verfassen oder bestehende Texte zu analysieren. Es fehlt ihnen nicht an Intelligenz. Es fehlt an Erfahrung und Übung. Wie behelfen sie sich? Entweder fragen sie die Eltern, schicken ihr Schriftstück verkorks raus oder behelfen sich mit ChatGPT. Die KI ist tatsächlich in der Lage hervorragende Schriftstücke zu formulieren, wenn man ihr ausreichend detaillierte Vorgaben stellt. Man sagt ja immer, dass sich die Kinder bei den Eltern abschauen, wie man sich im Leben so verhält. Beim Lesen von Büchern scheint diese Weisheit… Weiterlesen »
@FrankS: Danke! Hoffen wir auf eine Wiederbelebung der Lesekultur. Liebe Grüße, Ron
Der Buchdruck hat ja eine ganz wesentliche Rolle bei der Ausbreitung einer bestimmten Konfession gespielt. Vor allem dadurch, dass der Zielgruppe sehr lange nur eine sehr begrenzte Auswahl an Büchern zur Verfügung stand – die meisten besaßen in ihrem ganzen Leben nie mehr als 66 ganz bestimmte – und sie später mittels Schulpflicht zum Lesen dieser angehalten wurden.
Jetzt ist die Gutenberg-Technologie obsolet und die Nachfolge-Technologie ermöglicht auch Unprivilegierten ohne Zugang zu wissenschaftlichen Bibliotheken eine wesentlich breitere Rezeption. Die Vielfalt der Angebote steigt und die „guten“ Nachrichten müssen sich im Wettbewerb behaupten. Einfach nur finanzkräftiger Produzent evangelikaler Bücher und Pamphlete zu sein, reicht nicht mehr aus. Das 19. und 20. Jahrhundert sind ein für alle mal vorbei.