Noch ist nicht Sommer, doch die Redaktionen kramen bereits nach verwertbarem Material in ihren Archiven. DIE WELT online meldet:
Der 31. Oktober 1517 gilt als Initialzündung der Reformation. Doch für den Wittenberger Thesenanschlag fehlen die Beweise. Hat Luther also die Thesen an die Domtür geschlagen?
Vieles spricht dafür, dass sie nicht mehr sind als eine schöne Legende. Es kam zwar öfter vor, dass Thesen öffentlich angeschlagen wurden. Wenn ein Professor zu einer Disputation auffordern wollte, schickte er seine Thesen an den Dekan der Universität. Der übergab sie dem Pedell, dieser hängte sie in der Universität auf und nagelte sie an die Kirchentüren Wittenbergs. Luther aber tat dies wahrscheinlich nie. Warum glauben wir trotzdem daran?
Weil wir es wollen. Das wäre die leichteste Antwort. Es passt ins Bild. So wie der Satz „Hier stehe ich und kann nicht anders“, den Luther übrigens auch nie gesagt hat. Ein wortgewaltiger Reformator, getrieben von historischer Notwendigkeit: So sahen ihn schon viele Zeitgenossen. Philipp Melanchthon etwa, der Humanist und Weggefährte Luthers. Als er kurz nach Luthers Tod dessen Werke herausgab, schrieb er im Vorwort von den Ablassthesen, die Luther „öffentlich an der Kirche in der Nähe des Wittenberger Schlosses am Vortage des Festes Allerheiligen angeschlagen“ habe.
DER SPIEGEL berichtete schon im Januar 1966 über den Reformator ohne Hammer:
Im Herbst 1517 hatte Universitätslehrer Luther davon erfahren, daß der Ablaßhandel – Erlaß von Sündenstrafen gegen Geld – auf einer kirchlichen Dienstanweisung beruhte. Luther lehnte solche Sitten ab: Am 31. Oktober 1517 forderte er den Erzbischof Albrecht von Magdeburg-Mainz als verantwortlichen päpstlichen Ablaßkommissar in einem Brief auf, „den Ablaßpredigern eine andere Predigtweise zu befehlen“. Dem Schreiben fügte Luther die kurze Zusatzbemerkung an, der hochwürdigste Bischof möge bitte die beigefügten 95 Thesen zur Kenntnis nehmen. Daß er die Thesen noch am selben Tag an die Tür der Wittenberger Schloßkirche schlagen wollte, schrieb Luther seinem Bischof nicht.
Tatsächlich hat weder Luther noch einer seiner Zeitgenossen diesen demonstrativen Akt, der nach gängiger Meinung das Startsignal zur Reformation war, jemals beschrieben. Auch in den erhalten gebliebenen Nachrufen auf Luther ist nirgends davon die Rede, daß er der Mann gewesen sei, der sich mutig und mit einem Hammer an der Kirchentür zu schaffen gemacht habe.
Über diese Sternstunde der evangelischen Menschheit berichtete vielmehr erst knapp dreißig Jahre danach der Humanist Philipp Melanchthon in seiner Vorrede zum 2. Band der gesammelten Werke des Reformators: „Luther, brennend von Eifer für die rechte Frömmigkeit, gab Ablaßthesen heraus, die im 1. Band dieser Ausgabe gedruckt sind. Diese hat er öffentlich an der Kirche in der Nähe des Wittenberger Schlosses am Vortag des Festes Allerheiligen 1517 angeschlagen.“
Und im November 2008 schrieb der Focus:
Doch ob sich die Szene vom Thesenanschlag im Städtchen Wittenberg tatsächlich so zugetragen hat, wird angezweifelt. 1961 trat ausgerechnet ein katholischer Lutherforscher mit der Erkenntnis an die Öffentlichkeit, in keinem seiner Dokumente habe der Reformator ausdrücklich einen Anschlag der Thesen erwähnt. Erwin Iserloh war der Meinung, dass der Thesenanschlag so nie stattgefunden habe. In der Tat berichtete erst Philipp Melanchthon, ein Weggefährte Luthers, davon – und zwar 1546, in einem Vorwort zum ersten Band der gesammelten Werke Luthers. Der Reformator war zu diesem Zeitpunkt schon tot, konnte also diese Aussage weder bestätigen noch dementieren. Außerdem war Melanchthon 1517 noch nicht in Wittenberg und deshalb kein Augenzeuge des möglichen Thesenanschlags.
Bis 2006 war dieser Stand in der Lutherforschung Gelegenheit zum umfangreichen Austausch bis hin zu Streit unter den Experten … Dann entdeckte der Wissenschaftler Martin Treu von der Stiftung Luthergedenkstätten Sachsen-Anhalt in der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena ein Dokument, das die Diskussion um den vermeintlichen Thesenanschlag neu befeuerte: ein handschriftlicher Vermerk von Luthers Sekretär Georg Rörer. Dieser hatte am Ende des Arbeitsexemplars zur Revision des Neuen Testaments von 1540 notiert: „Am Vorabend des Allerheiligenfestes im Jahre des Herren 1517 sind von Doktor Martin Luther Thesen über den Ablass an die Türen der Wittenberger Kirchen angeschlagen worden.“
Hat Luther nun oder hat er nicht? Die Gelehrten mögen weiter darüber streiten. Geschrieben hat Luther die Thesen, das gilt als sicher. Und wir tun gut daran, sie ab und an zu lesen.
Hier: www.luther.de.
Unser Kirchengeschichte-Prof (Prof. Dr. Armin Kohnle, Leipzig) hält es für durchaus wahrscheinlich, dass der Thesenanschlag historisch stattgefunden hat. Gerade mit der 2007 gefundenen Notiz von Luthers Mitarbeiter Georg Rörer gibt’s dafür einige Argumente.
Ob das nun wirklich relevant ist, ist aber zweitrangig. Daher schließe ich mich dir an:
„Hat Luther nun oder hat er nicht? Die Gelehrten mögen weiter darüber streiten. Geschrieben hat Luther die Thesen, das gilt als sicher. Und wir tun gut daran, sie ab und an zu lesen.“
Wow, wieder so eine journalistische Meisterleistung – danke, dass Du das so schön dokumentiert hast!
[…] Der 31. Oktober 1517 gilt als Initialzündung der Reformation. Doch für den Wittenberger Thesenanschlag fehlen die Beweise. Hat Luther also die Thesen an die Domtür geschlagen?Vieles spricht dafür, dass sie nicht mehr sind als eine schöne Legende. Es kam zwar öfter vor, dass Thesen öffentlich angeschlagen wurden. Wenn ein Professor zu einer Disputation auffordern wollte, schickte er seine Thesen an den Dekan der Universität. Der übergab sie dem Pedell, dieser hängte sie in der Universität auf und nagelte sie an die Kirchentüren Wittenbergs. Luther aber tat dies wahrscheinlich nie. Warum glauben wir trotzdem daran?Weil wir es wollen. Das wäre die leichteste Antwort. Es passt ins Bild. So wie der Satz „Hier stehe ich und kann nicht anders“, den Luther übrigens auch nie gesagt hat. Ein wortgewaltiger Reformator, getrieben von historischer Notwendigkeit: So sahen ihn schon viele Zeitgenossen. Philipp Melanchthon etwa, der Humanist und Weggefährte Luthers. Als er kurz nach Luthers Tod dessen Werke herausgab, schrieb er im Vorwort von… Weiterlesen »