Der Siegeszug des modernen Selbst
Daniel stellt in seiner ausführlichen Rezension sein Lieblingsbuch aus dem Jahr 2021 vor. Es geht um The Rise and Triumph of the Modern Self von Carl R. Trueman. Daniel schreibt:
Um verstehen zu können, warum die Aussage “Ich bin ein Mann gefangen im Körper einer Frau” heutzutage zutiefst die Identität einer Person ausmacht, oder etwas allgemeiner formuliert, warum Sexualität in unseren Tagen für den Großteil der Menschen Identität ist, bedient sich Trueman der Frameworks der Philosophen Charles Taylor und Alasdair MacIntyre sowie des Soziologen Philip Rieff. Besonders hilfreich bei Taylor ist der von ihm geprägte Begriff der sozialen Idee (social imaginary), der beschreibt, wie sich Individuen die Welt, in der sie leben, und ihre Beziehung zu ihr vorstellen. Hier gilt es zwei Arten der Weltanschauung zu unterscheiden: während Mimesis die Welt als einen Ort ansieht, in dem Sinn von außen vorgegeben ist oder zumindest gefunden werden kann, beschreibt Poiesis eine Welt als Ort, der letzlich allein von Atomen bestimmt wird und den es in einer anderen Konstellation des Zufalls nie gegeben hätte. Eine erste Beobachtung von Trueman ist diejenige, dass die Welt in unserer Zeit von einer vormals mimetischen zu einer mehr und mehr poetisch aufgefassten geworden ist.
Rieffs Arbeit hilft uns zu verstehen, dass der Mensch lernt, wer er ist, wenn er lernt, wie er zu seiner Gesellschaft passen kann. Die Auffassung hat hierbei im Zeitablauf einen signifikanten Wandel erlebt: hat früher der political man sich selbst als Teil eines antiken/mittelalterlichen Stadtstaates gesehen, dem gegenüber man loyal sein musste, spürte der religious man in der Folge eine starke Beziehung zu seinem Glauben. Die Unterscheidung zwischen dem economic man und dem heutigen psychologic man lässt sich gut anhand eines Beispiels beschreiben: der economic man war dann zufrieden mit seiner Arbeit, wenn er sich und seine Familie ernähren und Schuhe für seine Kinder kaufen konnte – unabhängig davon, wie schmutzig und hart sein Job war. Dem heutigen psychologic man jedoch ist es wichtig, Erfüllung, Verantwortung und Spaß in seiner Arbeit zu finden, auch wenn das negative Folgen für seine Außenwelt bedeuten würde – individuelles psychologisches Wohlbefinden triumphiert.
Trueman zeigt auf, dass eine frühere Gesellschaft bildende Institutionen (Schulen, Universitäten) dahingehend nutzte, Einzelne zu formen und sie ihren Werten und Normen gerecht zu erziehen. Infolge des Shifts zum psychologic man jedoch sind externe Muster zur Repression geworden und Schüler gehen heute in die Schule um zu performen, nicht um geformt zu werden. Das Individuum ist zum König mutiert. Wenn Identität jedoch eine Sache allein der social imaginary des Einzelnen geworden und das Denken des Menschen als souverän angesehen wird, so wird Identität so unendlich wie die menschliche Vorstellungskraft. Jeder kann jeder werden und sein.
Mehr hier: philemonblog.de.
Übrigens: Der Verlag Verbum Medien arbeitet derzeit in Kooperation mit dem Netzwerk Evangelium21 an einer deutscher Ausgabe des Buches.
Die Debatte um eine geschlechtergerechte Sprache hat das Potential, die Gesellschaft noch weiter zu spalten. Einerseits wird das Gendern von öffentlichen Behörden, Universitäten und bei manchen Medien „verordnet“, andererseits empfinden immer mehr Menschen diese verordneten Eingriffe in die Sprache als Bevormundung. Die Progressiven machen freilich einfach weiter und gehen davon aus, dass sich die Mehrheit an die neue Sprache gewöhnen wird. Nur dann, wenn die Sprache verändert werde, könnten patriarchische Strukturen durchbrochen und Frauen endlich sichtbar gemacht werden, meinen sie.