Abraham Kuyper: Der reformierte Denker
Denkerischer Ausgangspunkt fĂŒr Kuyper ist das Bekenntnis zur absoluten SouverĂ€nitĂ€t Gottes. Dieser Glaube an die allumfassende Königsherrschaft von Jesus Christus (engl. Lordship Principle) bedeutete ihm, dass der Calvinismus als eine Lebensanschauung (engl. Life-System) anzusehen ist, die jeden Bereich der Wirklichkeit berĂŒhrt. Die Herrschaft von Jesus Christus ĂŒber die gesamte Wirklichkeit konkretisiert sich in drei Ordnungen, die jeweils unmittelbar Gott unterstellt sind, nĂ€mlich Staat, Gesellschaft und Kirche (Abraham Kuyper, Lectures on Calvinism, Grand Rapids, MI: Erdmans, Reprint 2002, S. 79).
Einerseits verteidigte Kuyper groĂe (Wieder-)Entdeckungen der Reformatoren wie die tiefe SĂŒndhaftigkeit aller Menschen, die Glaubensgerechtigkeit oder die ErwĂ€hlung, andererseits gab er dem Calvinismus ein aufgeschlossenes und der Welt zugewandtes Gesicht. Gelingen konnte ihm das durch die gleichzeitige Betonung von Antithese und allgemeiner Gnade.
Mit der Antithese hebt Kuyper den Gegensatz von Kirche und Welt heraus. Die Kinder Gottes leben versöhnt nach dem Glauben zur Ehre Gottes. Die Kinder der Welt richten sich nach ihrem eigenen verdorbenen Herzen und rebellieren gegen Gott. Diese vorausgesetzte Antithese fĂŒhrt allerdings nicht in den Kulturpessimismus, dem Kuyper die âallgemeine Gnadeâ gegenĂŒberstellt.
WĂ€hrend die spezielle Gnade die erwĂ€hlten Menschen erleuchtet und mit Gott versöhnt, schenkt uns die allgemeine Gnade, was wir zum Leben benötigen und begrenzt die sĂŒndhaften und destruktiven MĂ€chte dieser gefallenen Welt. Von der allgemeinen Gnade profitieren also alle Menschen. Gott versprach im Noahbund, die Erde trotz der Bosheit der Menschen zu erhalten (vgl. Gen 8,21). âSolange die Erde wĂ€hrt, sollen nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nachtâ Gen 8,22). Gott âlĂ€sst seine Sonne aufgehen ĂŒber Böse und Gute und lĂ€sst regnen ĂŒber Gerechte und Ungerechteâ (Mt 5,45). Die allgemeine Gnade gibt den Ebenbildern Gottes das Mandat fĂŒr die Erforschung und Gestaltung dieser Welt. FĂŒr die Christen heiĂt das, dass sie zusammen mit den Heiden kulturschaffend tĂ€tig sind. Sie arbeiten, sie engagieren sich fĂŒr Gerechtigkeit und Wohlfahrt, sie sind kĂŒnstlerisch tĂ€tig oder treiben Sport. All das verbindet sie nicht nur mit den Christen, sondern auch mit ihren unglĂ€ubigen Freunden und Nachbarn, deren Leistungen sie wertschĂ€tzen. Eine besondere Stellung rĂ€umte Kuyper ĂŒbrigens der Wissenschaft ein, indem er sie in der Schöpfung ansiedelte. âOhne SĂŒndeâ, schrieb Kuyper, âgĂ€be es weder einen Staat noch die christliche Kirche, aber die Wissenschaftâ (Wisdom & Wonder, Grand Rapids, Michigan, 2011, S. 35).
Im niederlĂ€ndischen Protestantismus erntete der Neo-Calvinismus mitunter scharfe Kritik. Kuyper wurde und wird vorgeworfen, er habe das reformierte Christentum von der ĂŒberlieferten reformierten Theologie entfremdet. TatsĂ€chlich verĂ€nderte sich unter ihm das âreformierte SelbstverstĂ€ndnisâ.
Kuyper verlor beispielsweise vertraute Mitstreiter, als er eine Korrektur des NiederlĂ€ndischen Glaubensbekenntnisses (lat. Confessio Belgica) einforderte. Er störte sich am Artikel 36, wo zur Bestimmung des Staates gesagt wird, dass dieser nicht nur fĂŒr die bĂŒrgerliche Verfassung zu sorgen hat, sondern auch darum bemĂŒht sein soll, âdass der Gottesdienst erhalten werde, aller Götzendienst und falscher Gottesdienst entfernt werde, das Reich des Antichrists zerstört, Christi Reich aber ausgebreitet werde. Endlich ist es ihres Amtes zu bewirken, dass das heilige Wort des Evangeliums ĂŒberall gepredigt werde und dass jeder Gott auf reine Weise nach Vorschrift seines Wortes frei verehren und anbeten könneâ. Kuyper sah hier eine unzulĂ€ssige VerknĂŒpfung von Staat und Kirche und deshalb eine Verletzung der âSouverĂ€nitĂ€t im eigenen Kreisâ. Er war ĂŒberzeugt, dass Familie, Staat und Kirche jeweils eigene DomĂ€nen sind, die sich gegenseitig nicht âhineinregierenâ sollten. R. S. de BruĂŻne (1869â1941) hat diese kuypersche âSphĂ€rensouverĂ€nitĂ€tâ einmal markant formuliert: âEs ist unsere Ăberzeugung, dass es nicht zur Berufung des Staates gehört, das soziale Leben von oben zu kontrollieren und es in vorgefertigte Bahnen zu pressen ⊠Wir unterscheiden mehrere Kreise: den Staat, die Gesellschaft, die Kirche und die Familie, um nur einige zu nennen. Diese haben alle ihre eigene Natur, ihre eigene AutoritĂ€t und Verantwortung. (zitiert nach: Joop M. Roebroek, The Imprisoned State, 1993, S. 55). FĂŒr Kuyper war es unertrĂ€glich, wenn der Staat kirchliche Aufgaben ĂŒbernahm oder die Institution Kirche versuchte, Politik zu machen. Seine BemĂŒhungen, die Korrektur des Artikels durchzusetzen, traf auf harten Widerstand (vgl. dazu: Peter Heslam, Creating a Christian Worldview: Abraham Kuyperâs Lectures on Calvanism, 1998, S. 162â164). Schlussendlich wurde die Passage 1905 von den Reformierten Kirchen aber aus dem Bekenntnis gestrichen (Dirk van Keulen, âDer niederlĂ€ndische Neucalvinismus Abraham Kuypersâ, S. 356).
Noch ein Beispiel: Vor Kuyper bestritten die Reformierten zwar nicht, dass Christen den Auftrag haben, Gesellschaft zu gestalten. Betont wurde aber vor allem die Erlösung von SĂŒndern. Die Predigten befasste sich meist mit den groĂen biblischen Themen wie BuĂe, Glaube, Wiedergeburt, Rechtfertigung, Heiligung usw. Durch Kuyper verschob sich der Schwerpunkt hin zur Weltverantwortung. Die Frage, was der Heilige Geist in den Herzen der SĂŒnder durch das Wort wirkt, wurde zwar nicht ausgeblendet, aber oft von dem ĂŒberlagert, was Christen tun sollten, um Gesellschaft und Kultur zu prĂ€gen (vgl. Cornelius Pronk, âNeo-Calvinismâ, S. 49).
Gern wird Kuyper deshalb heute fĂŒr die sogenannte âtransformative Kulturauffassungâ oder âGesellschaftstransformationâ in Anspruch genommen. Demnach sind Christen dazu beauftragt, sich in gesellschaftliche Prozesse einzumischen und diese auf Mikro-, Meso- und Makroebene zu verĂ€ndern. Ist diese Vereinnahmung von Kuyper berechtigt? Ja und nein. TatsĂ€chlich wollte Kuyper den Protestantismus entprivatisieren und entwickelte eine âöffentliche Theologieâ, die viele neue AnstöĂe fĂŒr die parteiische Einmischung und Weltverantwortung lieferte.
Damit ĂŒberwand er die von Immanuel Kant (1724â1804) angestoĂene und noch heute gefragte Aufspaltung der Vernunft in einen öffentlichen und einen privaten Gebrauch. Es bedĂŒrfe der Freiheit, âvon seiner eigenen Vernunft in allen StĂŒcken öffentlich Gebrauch zu machenâ, sagte Kant (Kant, âBeantwortung der Frage: Was ist AufklĂ€rung?â, 1974, S. 11). Er kontrastiert den öffentlichen Gebrauch der Vernunft mit dem privaten. Unter öffentlichem Gebrauch versteht er âdenjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt machtâ (Ibid., S. 9). Der Privatgebrauch der Vernunft könne dagegen eingeschrĂ€nkt sein (Ibid., S. 11). Kuyper holte den Glauben, der sich auf Offenbarung berief, wieder
in den öffentlichen Diskurs zurĂŒck. Sein Ansatz hob dabei entschieden vom liberalen Kulturprotestantismus ab, der Evangelium und Kultur durchmischte. Zugleich unterschied er â wie oben bereits angesprochen â, scharf zwischen allgemeiner und rettender Gnade. Um es anders auszudrĂŒcken: Kuyper verwechselte die Erhaltungsethik nicht mit dem Aufbau von Gottes Reich. Darum wissend, dass das geistliche Reich nicht von dieser Welt ist (vgl. Joh 18,36), schrieb er (A. Kuyper, âCommon Craceâ zitiert aus: David VanDrunen, Natural Law and The Two Kingdoms, 2010, S. 295):
Wir mĂŒssen zwischen zwei Dimensionen dieser Manifestation der Gnade unterscheiden. 1.a. eine rettende Gnade, die am Ende SĂŒnde abschafft und ihre Folgen vollstĂ€ndig rĂŒckgĂ€ngig macht; und 2. eine zeitliche zurĂŒckhaltende Gnade, die die Wirkung der SĂŒnde abmildert und aufhĂ€lt. Die erste ⊠ist ihrer Natur nach eine besondere und auf die AuserwĂ€hlten Gottes begrenzt. Die zweite ⊠erstreckt sich auf das gesamte menschliche Leben.
Die Frucht der besonderen Gnade, die Menschen mit Gott durch Jesus Christus versöhnt, war eindeutig das Herzensanliegen von Kuyper (vgl. S.U. Zuidema, Common Grace und Christian Action in Abraham Kuyper, S. 6). Die Kirche als Institution sollte deshalb treu das Evangelium verkĂŒndigen. KulturprĂ€senz wird erreicht, da die Kirche als Organismus in der Welt wohnt.
Kuypers Wirkung ist ambivalent. Er stĂ€rkte das nachmoderne Christentum auf dem Weg zu einem kulturprĂ€senten Christsein und inspirierte herausragene christliche Vordenker, unter ihnen Herman Bavinck (1854â1921), Hermann Dooyeweerd (1894â1977), Hans Rookmaaker (1922â1977) oder Francis Schaeffer (1912â1984). Doch auch Bewegungen wie der âChristian Reconstructionismâ von Rousas J. Rushdoony (1916â2001) und Greg L. Bahnsen (1948â1995) oder der â
shalom-Neo-Calvinismusâ, wie er von Alvin Plantinga (*â1932) und Nicholas Wolterstorff (*â1932) vertreten wird, sind von Kuyper inspiriert. Interessanterweise ist der âChristian Reconstructionismâ anti-sozialistisch ausgerichtet und hebt die âAntitheseâ zwischen christlichem und weltlichem Denken heraus (vgl. dazu: Thomas Schirrmacher, Anfang und Ende von Christian Reconstruction (1959â1995), 2001). Der â
shalom-Neo-Calvinismusâ ist demgegenĂŒber sozialistischen Idealen aufgeschlossen und neigt dazu, die Immanenz Gottes und die KontinuitĂ€t zwischen der jetzigen und der zukĂŒnftigen Welt zu idealisieren (vgl. dazu: Williams Dennison, âDutch Neo-Calvinism and the Roots for Transformationâ, JETS 42 (1999), Nr. 2, S. 271â291). Gelegentlich wird von den âTransformistenâ deshalb eingestanden, dass sie sich mehr mit dem Beispiel als mit den inhaltlichen Anliegen des niederlĂ€ndischen Theologen identifizieren (z.B. Phillip Morgen, âAbraham Kuyper: Christ Transforming Culture, Helwys Society Forum, URL:
http://www.helwyssocietyforum.com).
Alles in allem leitete Kuyper vor ungefĂ€hr einhundert Jahren eine notwendige und begrĂŒĂenswerte Renaissance des reformierten Denkens ein. Wir dĂŒrfen dankbar sein, dass er die christliche Weltdeutung aus der Defensivhaltung herausfĂŒhrte und zahlreiche Christen ermutigte, den ideologischen Götzendienst des Modernismus zu dekonstruieren und christliches Denken einzuĂŒben. Wer Jesus Christus nachfolgt, sieht die ganze Welt mit anderen Augen. Wir können und sollten viel von ihm lernen.