Konfessionskunde

Martyn Lloyd-Jones – ein reformierter Prediger

Philip Eveson beschreibt in seiner hochinteresssanten Studie „Der Heilige Geist in der Lehre und Erfahrung von D. Martyn Lloyd-Jones“ die reformierten Glaubensüberzeugungen von Martyn Lloyd-Jones (Baptised With Heavenly Power: The Holy Spirit in the Teaching and Experience of D. Martyn Lloyd-Jones, 2025, S. 23–24):

Obwohl Lloyd-Jones kein Freund von Etiketten war, gehörte seine theologische Position eindeutig zu jener Richtung des Protestantismus, die als calvinistisch oder „reformiert” bekannt ist. Er bezeichnete sich selbst selten als Calvinisten und vermied solche Begriffe bewusst auf der Kanzel. Selbst bei Konferenzvorträgen zögerte er oft, Menschen als Calvinisten zu bezeichnen, und erklärte einmal: „Ich mag diese Etiketten nicht, aber da sie verwendet werden, muss ich sie auch verwenden.”

Für ihn waren Calvinisten „Paulinisten”. Bedeutete das, dass es ihm peinlich war, solche Begriffe zu verwenden, oder dass er ein widerwilliger Calvinist war? Keineswegs! In seiner Rede vor der Jahresversammlung der Evangelical Library im Jahr 1963 bezog er sich mehrfach auf die reformierte Theologie. Angesichts des damals wachsenden Interesses an den Gaben des Heiligen Geistes war er besorgt, dass zwar einige Pfingstler „in ihrer Unzufriedenheit in Richtung reformierte Theologie blicken“, viele in den älteren Konfessionen jedoch „auf diese pfingstlerische Lehre“ und ihre unbiblischen ökumenischen Verbindungen schauen, anstatt auf die reformierte Lehre. Er war dankbar für diejenigen, die mit der Oberflächlichkeit des Lebens ihrer Kirchen unzufrieden waren und sich „direkt der reformierten Theologie und der Lehre, für die wir stehen, zuwandten”. Nur zehn Jahre vor seinem Tod erklärte Lloyd-Jones in einer Ansprache vor einer Konferenz der International Fellowship of Evangelical Students (IFES) unmissverständlich: „Ich bin Calvinist.”

Retrievalismus und das Evangelium

Kürzlich hat Owen Strachen einen Essay zur Bewegung des „Retrievalismus“ auf der Plattform Substack veröffentlicht. Anlass gab der Konfessionswechel von Matthew Barrett (vgl. hier). Mit seiner freundlichen Genehmigung gebe ich den Text nachfolgend in deutscher Sprache wieder. Nicht jeden einzelnen Punkte sehe ich so wie der Autor. Doch insgesamt halte ich das Essay für einen hilfreichen Diskussionsbeitrag. 

Die Welt neu verzaubern

„Es war wirklich schwer für mich, protestantisch zu bleiben“: Über „Retrievalismus“ und das Evangelium

Erst letzte Woche gab der Theologe Matthew Barrett bekannt, dass er nun anglikanisch ist. Barrett, der als Baptist bekannt geworden ist, hat sich der anglikanischen Lehre und Ekklesiologie angeschlossen. Sein Austritt aus der Southern Baptist Convention ist bemerkenswert, da Barrett in den letzten Jahren ein ausgesprochener Verfechter einer theologischen Strömung war: dem „Retrievalismus“.

Im folgenden Essay möchte ich eine damit zusammenhängende – und bemerkenswerte – Angelegenheit schildern. Es handelt sich um eine bisher unbekannte Geschichte (zumindest unter Baptisten und Evangelikalen) eines jungen Seminaristen, der das Seminar besuchte, an dem Barrett lehrte, in einem Theologiekurs mit der Patristik in Berührung kam und schließlich zum römischen Katholizismus konvertierte. Diese Geschichte veranlasst uns meiner Meinung nach, kritische Fragen zum Retrievalismus-Paradigma zu stellen.

Hier ist eine, die wir stellen müssen: Führt das System des Retrievalismus dazu, dass einige baptistische und evangelikale Studenten die baptistische und evangelikale Bewegung verlassen? Nur wenige haben in letzter Zeit eine solche Frage gestellt, obwohl der Retrievalismus unter Baptisten und Evangelikalen weit verbreitet ist und enthusiastisch gefördert wird. Doch dieser besondere Moment zwingt uns, diese Frage zu stellen, und zwar mit Dringlichkeit.

Ich möchte vorab einige Dinge klarstellen: 1) Ich wünsche Matthew Barrett alles Gute und bete für ihn und für den Studenten, der zum römischen Katholizismus konvertiert ist. 2) Ich habe keinen Streit mit vielen gottesfürchtigen Angestellten und Fakultätsmitgliedern meines früheren Seminars in Kansas City, einer Schule, für die ich Gott dankbar bin. 3) Ich habe auch keinen Streit mit dem Anglikanismus oder der Anglican Church in North America (ACNA), da ich persönlich in vielerlei Hinsicht von der anglikanischen Bewegung profitiert und im Laufe der Jahre viel von Persönlichkeiten wie J.I. Packer, John Stott, J.C. Ryle und vielen anderen gelernt habe. 4) Wie bereits erwähnt, ist es nicht meine Absicht, mit einer bestimmten Person zu streiten, sondern öffentlich über Fragen der öffentlichen Lehre und der öffentlichen Meinungsbildung nachzudenken.

Was ist Retrievalismus?

Ich möchte nun unsere Aufmerksamkeit auf den sogenannten „Retrievalismus” richten. In diesem System „gewinnt” man die Weisheit der christlichen Vergangenheit zurück, indem man sich auf die Hermeneutik und Lehre vergangener Generationen konzentriert. Dies bedeutet in der Regel eine Betonung der frühen Kirche und der mittelalterlichen Kirche, die in evangelikalen Kreisen als zu wenig erforscht und zu wenig gewürdigt angesehen werden.

In Wirklichkeit geht es in dieser Diskussion um mehr, als es den Anschein hat. Die Rolle der historischen Theologie in der Lehr- und Glaubensbildung steht im Mittelpunkt der retrievalistischen Argumentation. Zu diesem Thema gibt es meiner Meinung nach mindestens vier lose miteinander verbundene Positionen. Hier sind sie:

Historische Theologie ist unwichtig: Dies würde zum Lager „No Creed But the Bible“ passen, obwohl diese Gruppe heutzutage nur noch sehr klein ist. Sie betont, dass Glaubensbekenntnisse und Bekenntnisschriften kein bedeutender Teil der christlichen Bildung sind; darüber hinaus ist die Kirchengeschichte selbst weitgehend ignorierbar, abgesehen von den wenigen Persönlichkeiten oder Kirchen, die mit der eigenen Lehre übereinstimmen.

Historische Theologie ist wichtig und wertvoll: Die Anhänger dieser Position schätzen die Ansichten und die Weisheit der Kirche sehr. Im Seminarunterricht und in der kirchlichen Lehre würdigen sie die Erkenntnisse der Glaubensbekenntnisse und Bekenntnisschriften und messen insbesondere den konziliaren Vorgaben der vier ökumenischen Konzilien einen hohen Stellenwert bei. Sie lesen Theologen verschiedener Konfessionen und Epochen und finden eine sinnvolle Einheit mit allen, die das Wort und das Evangelium lieben.

Sie betrachten jedoch die Glaubensbekenntnisse und Bekenntnisse der Kirche nicht als unfehlbar, sie haben gelegentlich Meinungsverschiedenheiten mit bestimmten Formulierungen in der historischen Theologie und betonen die Notwendigkeit der biblischen Genugsamkeit in der theologischen Methode. Die historische Theologie ist somit ein wertvoller Lehrbildner, Gesprächspartner und Zeuge. Im geistlichen Leben und in der Glaubensbildung ist die historische Theologie jedoch ein Diener (ein äußerst wertvoller), aber niemals unser Herr.

Historische Theologie ist sehr wichtig und entscheidend: Die Anhänger bekennen sich zu den großen Glaubensbekenntnissen und Bekenntnisschriften, die sie als Leitplanken für die Glaubenslehre betrachten – zwar als sekundäre, aber vertrauenswürdige Autorität. Wo die Konzile der Geschichte gesprochen haben, ist die Theologie der Kirche weitgehend festgelegt. Meinungsverschiedenheiten mit wichtigen Bekenntnisschriften sind möglich, werden aber sehr zurückhaltend behandelt.

Die oben genannten Bekenntnisschriften sind sehr eng mit der Identität der Gruppe verbunden, und die Identität der Gruppe wird oft anhand ihres Bekenntnisses beschrieben. In jüngerer Zeit hat die vierte Gruppe – die unten skizziert wird – einen erheblichen Einfluss auf die dritte Gruppe ausgeübt und sie dazu gedrängt, die retrievalistische Vision einer dogmatischen Synthese zwischen der frühen und der mittelalterlichen Kirche zu übernehmen. Es ist noch nicht klar, wie sich dieser Trend weiterentwickeln wird.

Die historische Theologie ist entscheidend für die Glaubensbildung: Dies ist die Position des Retrievalismus [also der „Wiederbelebungsbewegung“, Anm. R.K.]. Natürlich vertreten nicht alle Anhänger diese Position in gleicher Weise oder mit gleicher Intensität; einige sind großzügiger als andere. Dennoch argumentiert der starke Flügel dieses protestantischen Lagers, dass die ökumenischen Konzilien und Glaubensbekenntnisse zweifelsfrei maßgebend sind.

Dies ist eine auffallend ähnliche Sichtweise der Glaubensbekenntnisse und Konzilien wie die katholische Position. Für die stärksten Vertreter des protestantischen Retrievalismus sind keine Abweichungen von den Glaubensbekenntnissen zulässig. Wenn ein Konzil oder ein Glaubensbekenntnis sich zu Fragen wie dem Willen Gottes oder dem Abstieg Christi in die Hölle geäußert hat – Fragen, die einer sehr sorgfältigen Auslegung bedürfen –, ist die Position geklärt.

Einige Retrievalisten – wenn auch nicht alle – gehen sogar noch weiter. Sie behaupten, dass Glaubensbekenntnisse als unfehlbar behandelt werden sollten. Dies ist freilich ein Fehler, und zwar ein folgenschwerer: Während viele Dokumente fehlerfrei sind, hängt die Unfehlbarkeit von der Ontologie ab. Die Heilige Schrift ist gemäß 2. Timotheus 3,16 das einzige von Gott inspirierte Buch oder Dokument, und daher sind nur die Autographen der Heiligen Schrift unfehlbar.

So gibt es auch eine glorreiche Synthese zwischen der frühen und der mittelalterlichen Kirche. Diese Synthese umfasst die Glaubensbekenntnisse und theologischen Erkenntnisse von Athanasius, Augustinus, Anselm und Thomas von Aquin. Thomas von Aquin wird von vielen Retrievalisten als der par excellence Verfasser der Lehre angesehen. In seinen Schriften erreicht die Ausbeute der eigentlichen Theologie (und anderer loci der Lehre) über die Jahrhunderte hinweg ihren Höhepunkt.

In den letzten Jahren war es schon seltsam zu sehen, wie der führende Theologe der katholischen Tradition als der größte Theologe der protestantischen Tradition gepriesen wurde. Thomas von Aquin hat sich über eine Reihe von ethischen Bereichen in guter Weise Gedanken gemacht und kann in mancherlei Hinsicht mit Gewinn gelesen werden. Aber mit Aquinas sollte man sehr vorsichtig umgehen, denn wie ich an anderer Stelle geschrieben habe, ist er der wichtigste Normgeber der sakramentalen Theologie des Katholizismus, einem System der Soteriologie, das in unüberbrückbarem Widerspruch zur biblischen Rechtfertigung und biblischen Heiligung steht, wie sie von den Reformatoren wiederentdeckt wurden.

Die Debatte über den Retrievalismus ist eine Debatte über die Methode

Wie ich immer wieder betone, ist die Debatte über den Retrievalismus nicht einfach eine Debatte über die Lehre. Es ist in erster Linie eine Diskussion über die Methode. Die Bedeutung der Methode wird in Barretts Substack-Essay deutlich. Darin nennt Barrett seine Abneigung gegen die Politik der Southern Baptist Church, seine neu entdeckte Liebe zur anglikanischen Liturgie und die herzliche Gemeinschaft in seiner örtlichen anglikanischen Kirche als ausschlaggebende Faktoren für seine Konversion. Am meisten fiel mir jedoch seine Begründung für die Annahme der Kindertaufe auf:

Nachdem ich festgestellt hatte, dass dies nicht den gesamten Kanon erklären konnte, musste ich mich auch fragen: „Hat die gesamte Kirche eineinhalb Jahrtausende lang die Kinder von Gläubigen zu Unrecht getauft? Wurde die Gläubigentaufe von den Aposteln gelehrt, nur um dann unter der Aufsicht der größten Theologen der Kirche zu verschwinden und erst im 16. Jahrhundert wieder aufzutauchen?“ Für jemanden, der es mit der Katholizität ernst nimmt, war diese Pille zu bitter, um sie zu schlucken.

Versteckt in einem einzigen Absatz über die Taufe, ist dies eine äußerst wichtige Aussage. Kurz gesagt ist dies ein zentrales Argument der Katholiken gegen den Protestantismus. Es handelt sich nicht um eine kleine oder beiläufige Anschuldigung. Noch bevor die Tinte auf Luthers berühmten Thesen, Calvins Institutio und Zwinglis eigenen Thesen getrocknet war, hatten katholische Theologen ihre schwerwiegendste Anschuldigung gegen die Reformatoren erhoben: Ihre Lehre sei neuartig.

Wir sollten das Gewicht dieser Herangehensweise an die Lehre nicht unterschätzen. Die katholische Kirche setzte diese Waffe der Anklage gegen die reformatorische Wiederherstellung der Autorität der Schrift und die rechtliche und von Gott verordnete Natur der Rechtfertigung allein durch den Glauben ein. Die Kirche hatte über etwa 1500 Jahre hinweg einen Konsens geschmiedet; wie konnte ein einzelner Mensch mit einer so eisernen Einheit des Denkens brechen?

In Barretts Essay taucht dieses äußerst katholische Argument – seltsamerweise – erneut auf. In Wahrheit hatten die Reformatoren in vielerlei Hinsicht Recht, mit Rom zu brechen. Sie lehnten die mittelalterliche Soteriologie, die mittelalterliche Bibliologie und verschiedene Elemente der mittelalterlichen Ekklesiologie ab (ganz zu schweigen von zahlreichen anderen Bereichen). Der grundlegende Bruch erfolgte jedoch bereits vor diesen Entwicklungen. Die Reformatoren brachen mit Rom wegen der Methode.

Es reichte nicht aus, einen historischen Konsens zu haben und diesen zu überwachen. Die Reformatoren erkannten, dass Rom keine Autorität über den Verstand und das Gewissen hatte. Allein das Wort Christi hatte Autorität über den Verstand und das Gewissen. Das bedeutete nicht, dass der historische Konsens für die Reformatoren keine Rolle spielte; es bedeutete jedoch, dass die historische Theologie bei der Glaubensbildung nicht gleichrangig mit der Heiligen Schrift behadelt wurde. Aus dieser hermeneutischen und methodologischen Überzeugung entstand die Bewegung, die wir Protestantismus nennen.

Das Zeugnis eines Studenten: „Es war wirklich schwer für mich, protestantisch zu bleiben.“

Springen wir nun in die Gegenwart. Wie von einigen befürwortet, hat der Retrievalismus die klaren Grenzen, die von den Reformatoren gezogen wurden, verwischt. Dies geschah jedoch nicht nur in theoretischer Hinsicht, in einigen Debatten im Klassenzimmer. Der Retrievalismus ist in die Tat umgesetzt worden. Das ist unvermeidlich, denn Ideen bleiben schließlich nicht lange theoretisch. Was im Unterricht gelehrt wird, findet irgendwann Eingang in den Alltag.

Während einige Studenten sich mit den Ideen und Quellen des Retrievalismus auseinandersetzen, fühlen sie sich zur Hochkirche hingezogen – und sogar zum römischen Katholizismus selbst. Im Folgenden werde ich ein solches Beispiel aus dem wirklichen Leben nachzeichnen. Es ist die Geschichte eines jungen Mannes namens Jeremiah Zimmerman. Aufgewachsen in der Assemblies of God, trat er im Sommer 2021 in das Priesterseminar ein und veröffentlichte dieses Foto auf seinem Instagram-Account.

Zu diesem Zeitpunkt bekundete Zimmerman noch klare evangelikale Überzeugungen. Sein Instagram-Account lässt daran keinen Zweifel. Weniger als zwei Jahre später wurde Zimmerman jedoch – nach seinem eigenen öffentlichen Bekenntnis – in die katholische Kirche aufgenommen. Hier ist das Foto, das er von diesem Ereignis gepostet hat.

Zimmermans Wandel war keine Kleinigkeit. Er wurde von der katholischen Zeitschrift Southern Nebraska Register über seine neu gefundenen katholischen Überzeugungen interviewt. In dem Artikel über Zimmerman wird sein Wandel wie folgt beschrieben:

Er fand Trost in der biblischen Grundlage und der intellektuellen Tiefe des protestantischen Glaubens. Sein leidenschaftliches Interesse an der Heiligen Schrift und der Theologie veranlasste Freunde und Pastoren, ihn zu ermutigen, selbst Pastor zu werden.

Zimmermans spirituelle Reise nahm jedoch eine unerwartete Wendung, als er sich mit den Schriften der frühen Kirchenväter befasste. Die alten Texte enthielten tiefgründige Erkenntnisse, die sein bestehendes theologisches Weltbild in Frage stellten. Eine Persönlichkeit, die Zimmermans Aufmerksamkeit auf sich zog, war der heilige Athanasius, insbesondere seine Schriften über die Menschwerdung Gottes.

Während seines Studiums am Midwest Baptist Theological Seminary in Kansas City stellte Zimmerman seine protestantische Identität in Frage, als er sich tiefer in theologische Untersuchungen vertiefte.

In einem Podcast-Interview mit Zimmerman über seine Konversion zum Katholizismus fiel mir auf, dass er die Frage der Taufe als „Auslöser” für seine neu gefundenen Überzeugungen nannte. Er verwies auch auf seine Lektüre als Tor zum Katholizismus:

An der Schule, die ich besuchte, dem baptistischen Seminar, lasen wir die patristischen Väter wie den heiligen Gregor von Nazianz, den heiligen Cyrill von Alexandrien, den heiligen Athanasius von Alexandrien und den heiligen Augustinus, und wir lasen Scholastiker wie den heiligen Anselm und den heiligen Thomas von Aquin, und je mehr ich las, desto schwieriger wurde es für mich, protestantisch zu bleiben. Da wusste ich, dass ich nicht mehr protestantisch sein konnte, denn wenn ich protestantisch geblieben wäre, hätte ich mich einer sehr, sehr spezifischen traditionellen Gruppe anschließen müssen, die so klein ist, dass sie sich in ihrer Katholizität selbst widerspricht …

Zimmermans Begegnung mit der Patristik „in meinem Theologiekurs am Baptisten-Seminar“ hatte eine wegweisende Wirkung auf ihn (er zitierte Athanasius‘ Werk über die Inkarnation als einen starken Einfluss). Aber nicht nur ihn. Zimmerman fuhr fort: „Ich bin nicht der Einzige aus dieser Schule, der konvertiert. Es gibt noch andere, die ebenfalls dabei sind, [zum Katholizismus] zu konvertieren“, an seiner ehemaligen Schule, eine Behauptung, die ich weder beweisen noch widerlegen kann.

Wie sollen wir mit diesen Entwicklungen umgehen?

Die vorangegangenen Gedanke führen mich zu acht Überlegungen. Ich werde sie hier in schneller Folge aufzählen.

Erstens sollten wir den Retrievalismus sorgfältig evaluieren. Es handelt sich nicht um ein narrensicheres System. Es ist durchaus möglich, die Methode des Retrievalismus anzunehmen und ihr bis zum anglikanischen Hochkirchentum oder nach Rom zu folgen. Es wird einmal mehr deutlich (wie schon in früheren Zeiten), dass der Retrievalismus verschiedene Menschen auf unterschiedliche Weise beeinflusst und einige dazu veranlasst, die baptistische Welt zu verlassen, während andere sich ganz vom Protestantismus abwenden.

Zweitens sollten wir die Studenten im Wort verankern. Anstatt die Studenten dazu zu erziehen, uns zu folgen und unserer bevorzugten Gruppe zu vertrauen, tun wir gut daran, sie dazu zu erziehen, der Stimme Gottes in der Schrift zu folgen (vgl. Ps 119,97). Das bedeutet, wie ich bereits gesagt habe, den Studenten eine wirklich exegetisch orientierte Methode vorzuleben. Eine genaue Auslegung der Schrift bildet unsere Theologie und führt zu biblisch-theologischen Schlussfolgerungen, systematischen Überzeugungen, einer biblischen Ethik und einer Weltanschauung, die auf dem Wort Gottes basiert.

Drittens sollten wir uns der historischen Theologie mit großer Sorgfalt nähern. Die historische Theologie ist von großem Wert. Ich sage das nicht nur so, sondern habe Bücher wie dieses veröffentlicht, die sich direkt mit historischer Theologie befassen. Ich habe zahlreiche Kurse in Kirchengeschichte und historischer Theologie unterrichtet, darunter die gesamte Kirchengeschichte, die Geschichte der Baptisten und die Geschichte der Neo-Evangelikalen. Dieser Bereich der Ausbildung ist von entscheidender Bedeutung.

Aber die historische Theologie muss der exegetischen Theologie als Königin der Disziplinen den Vortritt lassen. Dabei geht es nicht nur um die Lehre, die wir vertreten, sondern auch um unsere Methode (um noch einmal ganz klar zu sein). Wir bringen die historische Theologie und die Kirchengeschichte unbedingt mit in den Raum der Glaubensbildung.

Doch wir müssen in diesem Punkt ganz klar sein: Der Grund, warum wir eine bestimmte theologische Position vertreten, sollte nicht darin liegen, dass ein Glaubensbekenntnis sie vertritt. Der Grund, warum wir eine bestimmte theologische Position vertreten, sollte letztlich immer darin liegen, dass das Wort Gottes – so gut wir es nachvollziehen können – uns dazu zwingt, es so zu sehen. Gottes Wort allein bindet das Gewissen; Gottes Offenbarung allein lehrt uns die göttliche Wahrheit; Gottes Wort allein hat den Ehrenplatz in der theologischen und geistlichen Bildung.

Keine historische Quelle, keine Schule der historischen Theologie und kein geschätzter Theologe darf die Bibel von ihrer autoritativen Rolle als Regel unserer Lehre verdrängen. Das ist ganz einfach eine rote Linie, die nicht überschritten werden darf.

Viertens sollten wir uns von [einer falsch verstandenen] Ökumene fernhalten und das Evangelium bewahren. Ich muss diese Frage nicht weiter ausführen, aber sie ist nicht verhandelbar. Wenn wir „das gute Vermächtnis“ (2Tim 1,13–14) nicht bewahren, werden alle unsere Bemühungen letztlich vergeblich sein. Können wir einige Theologen aus der katholischen Tradition lesen? In bestimmten Fragen können wir das. Aber sollten wir dabei immer vorsichtig sein? Ja, das sollten wir. Denn wenn wir zwar im Kern nicänisch sind, aber nicht sola fide auf der Grundlage von solus Christus lehren, werden wir weder das Evangelium bewahren noch den Gott ehren, der es uns zur Bewahrung gegeben hat.

Fünftens sollten wir Demut, Nächstenliebe und Ehre pflegen. Abgesehen von unserer Hermeneutik und formalen Lehre dürfen wir nicht den Fehler begehen, die Pflege eines gottgefälligen Charakters zu vernachlässigen. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Lehre nicht von der persönlichen Frömmigkeit (die wiederum nicht vom Evangelium und seinen Auswirkungen zu trennen ist) getrennt werden kann.

Wir mögen richtige Überzeugungen haben (oder auch nicht), aber der christliche Glaube endet nicht mit der Unterzeichnung eines Blattes Papier, auf dem Glaubenssätze niedergeschrieben sind. Der christliche Glaube legt Wert auf die Frucht des Geistes (vgl. Gal 5,22–23), denn die Lehre dient der Freude und die Suche nach der Wahrheit dient der Anbetung.

Sechstens sollten wir die zahlreich vorhandenen Ironien des Retrievalist-Systems erkennen. Lassen Sie mich dazu kurz einige Beispiele im Zusammenhang mit der Betonung des „Retrievalismus” durch Barrett und andere aufzeigen.

A) Der Anglikanismus selbst ist als formale Bewegung erst etwa 500 Jahre alt. Das ist merkwürdig für jemanden, der in den Strom der alten und mittelalterlichen Kirche eintreten möchte. Wenn Ihre gesamte Hermeneutik auf der Kontinuität mit den ersten 1500 Jahren der Kirchengeschichte beruht, scheint es relevant zu sein, darauf hinzuweisen, dass der Anglikanismus als formale Bewegung in dieser Zeit nicht existierte.

B) Anglikanische Kirchen hatten echte Kämpfe mit der Lehre und der Ethik. Ich meine das nicht als Vorwurf, denn baptistische Kirchen haben ihre eigenen Probleme. Es ist jedoch einfach eine Tatsache, dass die anglikanische Ästhetik und Liturgie sowie die historische Verbundenheit die anglikanischen Kirchen nicht davor bewahrt haben, selbst bedeutende Lehrstreitigkeiten zu haben.

In der Begeisterung eines frisch Bekehrten scheint Barrett dies nicht zu sehen. Seine enthusiastische Würdigung der anglikanischen Liturgie als wesentlich für ein sinnvolles Christentum scheint zu übersehen, dass eine so schöne Liturgie zahlreiche Anglikaner nicht davon abgehalten hat, Christus nicht nachzufolgen. Auch hat die anglikanische Kirchenverfassung die Kirche nicht vor verschiedenen Prüfungen und Skandalen bewahrt.

Tatsächlich hat die Gemeinde, der Barrett beitritt, einen wichtigen anglikanischen Leiter, der seit mehreren Jahren in Kontroversen verwickelt ist. Dies ist bemerkenswert, da Barrett „das Amt des Bischofs, das für die Umsetzung der doktrinären Rechenschaftspflicht in der Kirche so wichtig ist“, als Symbol für die Gesundheit der anglikanischen Kirche beschreibt. Doch laut den Anglikanern selbst hat die ACNA genau auf dieser Ebene Probleme zu lösen.

C) Barrett hat sich feministischen Theologinnen angeschlossen, die nicht im Einklang mit der historischen Lehre stehen. Wenn Sie die Theologie der ersten anderthalb Jahrtausende der Kirchengeschichte inspiriert, sollte es Sie sicherlich sehr beunruhigen, dass eine Theologin namens Amy Peeler eine Vision von Gott als „Mutter” propagiert.

Dies hat Barrett jedoch nicht davon abgehalten, Peeler als Mitwirkende für sein kürzlich erschienenes Buch On Classical Trinitarianism über die Lehre von Gott zu gewinnen. Wenn „klassischer Trinitarismus“ Sie dazu veranlasst, sich mit egalitären Theologinnen zu verbünden, die Gott als „Mutter“ umdeuten – im Gegensatz zu Jesus, der seine Jünger in Matthäus 6,9 lehrte, ihre Gebete an „unseren Vater“ zu richten –, dann hat jeder bibelgläubige Christ ernsthafte Gründe, eine solche theologische Strömung mit großer Sorgfalt und Weisheit zu prüfen.

D) Die große Tradition ist bei weitem nicht so monolithisch, wie manche behaupten. Die „retrievalistische” Hermeneutik wird als großer Einiger turbulenter Stämme dargestellt. Durch eine gemeinsame Fokussierung auf Nicäa könnte beispielsweise ein gewisses Maß an Übereinstimmung erreicht werden. Aber wir dürfen dabei nicht übersehen, dass zwischen Katholiken und Anglikanern formal bereits eine Übereinstimmung im Sinne von Nicäa besteht, diese beiden Bewegungen jedoch keineswegs identisch sind.

Darüber hinaus ist der Retrievalismus keine Bewegung, die ohne Interpretation auskommt; jemand muss ihn standardisieren und leiten. Dies erinnert uns an einen wichtigen Punkt: Der Retrievalismus ist keineswegs frei von subjektiven Präferenzen. Er ist nicht als reines Gedankengut vom Himmel gefallen. Die Retrievalisten selbst wählen – genau wie die von ihnen kritisierten biblischen Personalisten – aus.

Siebtens gibt es einen unangenehmen Grund, warum die mittelalterliche Kirche einen so bemerkenswerten theologischen Konsens genoss. Dieser Grund ist, offen gesagt, nicht angenehm. Die katholische Kirche konnte die doktrinäre Einheit, die sie über Jahrhunderte hinweg genoss, zum Teil deshalb erreichen, weil sie im Mittelalter Andersdenkende innerhalb ihrer Theologie rücksichtslos verfolgte. Viele von ihnen – wie die Waldenser und Lollarden – bezahlten ihre Abweichung mit dem Tod.

Wir sollten dies im Hinterkopf behalten, wenn die Traditionalisten davon schwärmen, dass die Große Tradition in der Zeit vor der Reformation eine glorreiche Einheit besaß. Bei genauerer Betrachtung hat die katholische Kirche diese Einheit zu einem großen Teil auf altmodische Weise erreicht: mit dem Schwert. Wir tun gut daran, uns diese kalte, harte Wahrheit vor Augen zu halten, wenn die „Große Tradition” vor einem goldenen Hintergrund präsentiert wird.

Achtens sollten wir die „theologische Triage” wiederbeleben. Wie ich bereits ausführlich dargelegt habe, argumentiert der radikalere Flügel der Retrievalisten, dass alle Fragen, zu denen Glaubensbekenntnisse und Konzile Stellung genommen haben – beispielsweise die Frage nach dem „Willen” Gottes oder die scheinbare Höllefahrt Christi –, endgültig geklärt sind.

Um es milde auszudrücken: Dies ist eine andere Auffassung von theologischer Bildung und Debatte als die, die frühere Generationen evangelikaler Theologen vertreten haben. Wir bezeichnen die von evangelikalen Theologen – allen voran Carl Henry – entwickelte Methode als „theologische Triage“. Christliche Theologen, die dieses Raster verwenden, präsentieren ihre jeweilige Lehrmeinung nicht als die einzig akzeptable.

Stattdessen verfolgen sie ein ganz anderes Schema als das der „reinen Lehre“. In der Theologie gibt es zwar einige Fragen, die in erster Linie für den Glauben wesentlich sind und von allen bekannt werden müssen. Andere Fragen sind jedoch zweitrangig, wichtig, aber nicht erlösungsrelevant, und wieder andere sind drittrangig, zwar von Bedeutung, aber unterschiedlich interpretierbar. Viele evangelikale Christen haben sich sehr dafür eingesetzt, Meinungsverschiedenheiten sowohl in zweitrangigen als auch in drittrangigen Fragen zu respektieren.

In dieser Hinsicht ist es nicht übertrieben zu folgern, dass die „theologische Triage“ die Partnerschaft im Evangelium weit über das Maß hinausgebracht hat, das frühere Generationen erreicht hatten. Nur ein Beispiel: Die Reformatoren hatten viel gemeinsam, scheiterten jedoch an ihrer Uneinigkeit über das Abendmahl. Dies erinnert uns daran, dass es oft Zeit braucht, bis die Kirche Christi die reiche Ernte der Wahrheit in der Schrift einbringen kann.

In den letzten 200 Jahren der reformierten Geschichte haben beispielsweise die Disziplinen der exegetischen Auslegung, der biblischen Theologie, der biblischen Seelsorge, der biblischen Ethik und der biblischen Weltanschauung eine nie dagewesene Blüte erlebt. In tribalistischen Zeiten wie den unseren tun wir vielleicht gut daran, neu über die Wiederbelebung der „theologischen Triage“ nachzudenken und zu hinterfragen, ob der rücksichtslose neo-fundamentalistische Ansatz der „reinen Lehre“ der Kirche hilft oder schadet.

Fazit

Als Theologen, die schreiben und lehren, müssen wir uns gut um unsere Studenten kümmern und ihnen vermitteln, dass der Protestantismus aus einem echten Bruch mit der Lehre, der Ekklesiologie und der Methode Roms hervorgegangen ist. Sola scriptura ist kein Markenzeichen, sondern spiegelt sowohl die Auffassung der Bibel von sich selbst als auch unser eigenes Programm zu ihrer Auslegung wider.

In unserer Zeit sollten wir diese Frage sorgfältig prüfen: Stört die Annahme des Retrievalismus – in seiner kompromisslosesten Form – manchmal die Überzeugungen der Baptisten und Evangelikalen? Die Antwort lautet ganz einfach: Ja. Diese Tatsache sollte uns ernüchternd wirken, uns zu Demut und Buße bewegen und zu einer klaren Bewertung des Retrievalismus unter den Christen anregen. Wir spielen hier nicht mit Monopoly-Geld; das Wohlergehen der Seelen, nichts weniger als ihr ewiges Schicksal, hängt von solchen Bemühungen ab.

Was ist unsere Rechtfertigung oder Gerechtigkeit vor Gott?

Das Verhältnis zwischen Richard Baxter (1615–1691) und John Owen (1616–1683) war durch gegenseitigen Respekt, aber auch sehr kontroverse Auseinandersetzungen geprägt. Beide gehörten zu den bedeutendsten puritanischen Theologen des 17. Jahrhunderts in England, standen jedoch bei gewichtigen Punkten gegeneinander. Ein besonderes Kampffeld war die Rechtfertigungslehre. Baxter wollte zwischen Positionen des Calvinismus, des Arminianismus und des Katholizismus vermitteln. Seine Sichtweise lässt sich als eine moderat synergistische Form der Rechtfertigungslehre beschreiben. Die Lehre von der imputatio iustitiae Christi (dt. Zurechnung der Gerechtigkeit Christi im juristischen Sinne), wie sie von vielen reformorierten Theologen vertreten wurde und wird, lehnte Baxter ab (vgl. hier).

Owen war sehr besorgt über diese Form der Vermittlungstheologie und hat sie als semi-pelagianisch oder neonomistisch kritisiert. In The Doctrine of Justification by Faith through the Imputation of the Righteousness of Christ; Explained, Confirmed, and Vindicated (erschienen 1677) warf er Baxter vor, eine neue Form der Gerechtigkeit durch Werke unter dem Mantel des Evangeliums vermitteln zu wollen. Positiv und kompakt formulierte Owen die reformierte Position in seinem Kurzen Katechismus. Im Kapitel XIV ist über die Rechtfertigung zu lesen (John Owen, The Works of John Owen, Bd. 1 (Edinburgh: T&T Clark, o. J.), S. 487):

Frage 1: Sind wir aufgrund unseres Glaubens gerecht und errettet, wenn wir frei erwählt sind?

Antwort: Nein, sondern allein durch die Zurechnung der Gerechtigkeit Christi, die durch den Glauben erfasst und angewendet wird; allein dafür nimmt uns der Herr als heilig und gerecht an. Jes 43,25; Röm 3,23–26; 4,5.

Frage 2: Was ist dann unsere Rechtfertigung oder Gerechtigkeit vor Gott?

A. Die gnädige, freie Handlung Gottes, die einem gläubigen Sünder die Gerechtigkeit Christi zurechnet und ihm dafür Frieden mit seinem Gewissen in der Vergebung seiner Sünden zuspricht – ihn für gerecht und vor ihm angenommen erklärt. 1Mo 15,6; Apg 13,38.39; Lk 18,14; Röm 3,24.26.28; 4,4–8; Gal 2,16.

Frage 3: Sind wir dann nicht durch unsere eigenen Werke vor Gott gerecht?

Antwort: Nein, denn aus sich selbst heraus können sie weder seine Gerechtigkeit befriedigen, noch sein Gesetz erfüllen, noch seiner Prüfung standhalten. Ps 130,3.4; 143,2; Jes 64,6; Lk 17,10.

Das mysteriöse Schweigen von Papst Pius XII.

Tausende von Menschen baten den Papst im Zweiten Weltkrieg, gegen das Unrecht der Nazis Stellung zu nehmen. Alle wurden mit der gleichen Antwort abgefertigt. Hubert Wolf fasst für die NZZ die neuesten Erkenntnise zum Schweigen des Vaticans in der Judenfrage zusammen. In dem Artikel „Papst Pius XII. wusste Bescheid über die Shoah – und schwieg: Jetzt zeigen die vatikanischen Archive, weshalb“ heißt es: 

Alle Versuche, das Schweigen Pius’ XII. mit seinem mangelnden Wissen über den Holocaust zu entschuldigen, werden durch die vatikanischen Akten eindeutig widerlegt. Der Papst war auf dreifache Weise über die Entwicklung der Judenverfolgung in Europa genau informiert.

Erstens durch Hunderte von Berichten seiner diplomatischen Vertreter aus den einzelnen Ländern, den Nuntien und Delegaten. Zweitens durch rund 10 000 bisher unbekannte Bittschreiben jüdischer Menschen aus ganz Europa von 1939 bis 1945, die Pius XII. um Hilfe baten und ihre Not und Verfolgung minuziös schilderten – und denen Papst und Kirche tatsächlich nicht selten zu helfen versuchten. Und schliesslich durch ein geheimes jesuitisches Informationsnetzwerk, dessen Fäden beim Geheimsekretär des Papstes, dem Jesuiten Pater Robert Leiber, zusammenliefen. Er legte die entsprechenden Schriftstücke im Privatarchiv von Pius XII. ab.

Hier findet sich auch ein Brief von Leibers Ordensbruder Lothar König vom 14. Dezember 1942, in dem es heisst: «Die letzten Angaben über ‹Rawa Ruska› mit seinem SS-Hochofen, wo täglich bis zu 6000 Menschen, vor allem Polen und Juden, umgelegt werden, habe ich über andere Quellen bestätigt gefunden. Auch der Bericht über Oschwitz (Auschwitz) bei Kattowitz stimmt.»

Ende 1942 wusste der Papst also Bescheid über die Existenz der Massenvernichtungslager Belzec und Auschwitz. König konnte Angaben, die er in einem früheren, leider nicht erhaltenen Brief an Leiber gemacht hatte, bestätigen. Im Winter 1942/43 wurde die «Endlösung» der Judenfrage im Vatikan schreckliche Gewissheit. In einer internen Notiz des Staatssekretariats vom 5. Mai 1943 kann man lesen: «Juden. Schreckliche Situation.» Von den ehemals 4,5 Millionen Juden in Polen seien nur noch 100 000 am Leben. Und es wird klar festgehalten: «Spezielle Todeslager in der Nähe von Lublin (Treblinka) und bei Brest-Litowsk.»

Warum also schwieg Papst Pius XII.?

Das Schweigen zum Genozid an katholischen Polen lässt sich dezidiert nicht mit einem «Antisemitismus» von Pius XII. erklären. Es muss andere Gründe haben. Diese erhellen aus innervatikanischen Diskussionen, die sich in internen Aktennotizen niedergeschlagen haben: Der Papst wollte über den Parteien stehen und strikte Neutralität wahren, zumal er nach seinem Selbstverständnis als «Padre comune» für Katholiken auf allen Seiten der Fronten da sein musste.

Er fürchtete, seine Äusserungen könnten von einer Kriegspartei instrumentalisiert werden. … Ein weiterer Grund, der in den Quellen zumindest immer wieder angedeutet wird, lautet: Öffentliche Proteste des Papstes machten die Lage der Juden, die sich in der Hand der Nationalsozialisten befanden, nur noch schlimmer und päpstliche Hilfe im Verborgenen auch im Einzelfall noch viel schwieriger.

Mehr: www.nzz.ch.

Die anglikanische Kirche auf der Suche nach einem Oberhaupt

Justin Welby ist als Oberhaupt der anglikanischen Kirche, die außerhalb Großbritanniens vor allem in Afrika und Amerika viele Gemeinden hat, zurückgetreten. Sie verliert damit nun ein geistiges Oberhaupt, das in den vergangenen zwölf Jahren versucht hat, die religiösen und gesellschaftlichen Fliehkräfte durch Kompromissen zu bremsen.

Die FAZ berichtet (23.11.2024, Nr. 274, S. 10): 

Die Führungskrise trifft die Church of England in einer Zeit, in der sie von der Glaubenskrise erfasst ist, die alle Konfessionen in der westlichen Welt erschüttert. Die Zahl der Einwohner von England und Wales, die sich selber als „Christen“ einschätzen, ist erstmals auf weniger als 50 Prozent gefallen – die größten Zuwächse gibt es in der Gruppe jener, die sich gar keiner Religion zuordnen. Und die Zahl der Teilnehmer an Sonntagsgottesdiensten sinkt immer weiter, obwohl doch die Königsfamilie jede Woche den Kirchgang durch Fotos vorbildhaft dokumentiert. Während 2012, zu Beginn der Ära Welbys, noch mehr als eine Million regelmäßige sonntägliche Kirchgänger gezählt wurden, waren es im vergangenen Jahr weniger als 700.000.

Der ausgeschiedene Erzbischof ist mit den Konflikten in seiner Kirche ebenso öffentlich umgegangen wie mit seinen persönlichen Anfechtungen – bis hin zu Phasen der Depression. Es wird dauern, bis nach seinem Abgang ein Nachfolger gefunden ist, auch weil die Erwartungen an dessen Rolle immer vielfältiger werden. Wo sich die einen eher einen politischen Krisenmanager wünschen, hoffen die anderen auf einen spirituellen Führer, der die geistliche Faszination der Kirche stärkt. Wo viele englische Kirchenfunktionäre die Hoffnung hegen, die Zeit könne reif sein für die erste Erzbischöfin von Canterbury, droht der Klerus in manchen afrikanischen Ländern, dies werde endgültig zur Spaltung führen.

In der Findungskommission, die dem britischen Premierminister einen Namen präsentieren (und einen zweiten in Reserve halten) muss, sind erstmals auch die fünf Weltregionen der anglikanischen Gemeinschaft von je einem Geistlichen repräsentiert. Das wird die Zeit der Suche nach dem 106. Erzbischof von Canterbury kaum verkürzen. 

 

Ist der Papst häretisch?

Zwischen einem lockeren Gespräch und theologischen Verlautbarungen zu unterscheiden, ist eine gute Sache. Trotzdem finde ich es beunruhigend, mit was für einer Selbstverständlichkeit Redakteur Guido Horst den amtierenden Papst Franziskus verteidigt, der kürzlich wieder davon sprach, dass alle Religionen zu Gott führen und jeder Mensch ein Kind Gottes ist. Wie kann ich einem Papst vertrauen, der dies offensichtlich glaubt und dennoch hinter den Dekreten der Kirche stehen muss? Furchtbar! Zumal solche Äußerungen ja keine Versehen sind (vgl. hier und hier).

Trotzdem meint Guido Horst:

Auf Deutsch klingt der entscheidende Satz von Franziskus auf der offiziellen Homepage des Vatikans so: „Alle Religionen sind ein Weg, um zu Gott zu gelangen. Sie sind – ich mache einen Vergleich – wie verschiedene Sprachen, verschiedene Idiome, um dorthin zu gelangen. Aber Gott ist Gott für alle. Und weil Gott der Gott für alle ist, sind wir alle Kinder Gottes.“

Ja, kann man missverstehen. Besonders dann, wenn man Papst Franziskus schon seit geraumer Zeit böse Absichten unterstellt. Die „sprungbereite Feindseligkeit“, über die sich schon Benedikt XVI. beklagte, muss Franziskus besonders aus dem Lager der Konservativen und Traditionalisten erfahren. Aber bitte: einmal durchatmen und sich abregen – es war nur ein Gespräch! Kein theologischer Vortrag und erst recht kein „ex-cathedra“-Spruch. Zumal Franziskus kein Theologe, sondern ein Mann der Seelsorge ist. Er hat mit mehreren Jugendlichen gesprochen – so wie vielleicht vier vernünftige Leute in einem Zugabteil sitzen, feststellen, dass ein Hindu, ein Christ, ein Muslim und ein Buddhist zusammen sind, und anfangen, über das Miteinander der Religionen zu reden. Da wird der Christ auch nicht aufstehen und die anderen ultimativ zu Bekehrung und Taufe auffordern. 

Mehr: www.die-tagespost.de.

Aktion „God meets Gays“

Wir leben in einer verrückten Zeit. Und doch geschehen Dinge, die uns immer wieder die Sprache verschlagen. Das Kölner Stadtdechant der Katholischen Kirche unterstützt unter der Leitung von Monsignore Kleine den „Christopher Street Day“. Selbst 16.500 Unterschriften von Leuten, die gegen diese Zusammenarbeit sind, können nichts ausrichten. Das Stadtdekanat beruft sich auf die aktuelle Linie und die Lehre von Papst Franziskus.

DIE TAGESPOST berichtet: 

Die Aktion „God meets Gays“ des Kölner Stadtdekanats ruft entschiedenen Widerspruch hervor. Bis zu diesem Freitag unterzeichneten mehr als 16 500 Personen eine Petition der Plattform „CitizenGo“ gegen die für kommende Woche angekündigte Beteiligung des Stadtdekanats am „ColognePride“.

Das Kölner Stadtdekanat hatte kürzlich angekündigt, am 17. Juli im Domforum den Film „Der verlorene Sohn“ mit anschließender Podiumsdiskussion zu präsentieren. An der von Dragqueen Cassy Carrington moderierten Diskussion will auch Kölns Stadtdechant Robert Kleine teilnehmen. Kleine verteidigte das Vorhaben am Freitag im Domradio gegen Kritik. Das Stadtdekanat handele im Einklang mit der aktuellen Linie und Lehre von Papst Franziskus. Daher fänden die Veranstaltungen wie geplant statt. 

Am 19. Juli soll der Jugendchor St. Stephan, der zur gleichnamigen Pfarrei im Kölner Stadtteil Lindenthal gehört, auf der Hauptbühne des „Christopher Street Day“ in der Altstadt mit der Travestiekünstlerin Julie Voyage auftreten. Der für den Seelsorgebezirk Mitte zuständige Kölner Weihbischof Rolf Steinhäuser war vorab nicht über die Beteiligung des Stadtdekanats an ColognePride informiert worden, teilte das Erzbistum dieser Zeitung auf Anfrage mit. 

Mehr: www.die-tagespost.de.

Evangelikale Schwärmerei für Aquinas?

Leonardo De Chirico hat für CT die neuerliche evangelikale Begeisterung für Thomas von Aquin differenziert bewertet. Ich schließe mich seinem Urteil an. Auszüge:

Frühere Generationen protestantischer Gelehrter kamen angesichts seiner Größe und Bedeutung für die Theologie nicht um Aquin herum, aber er wurde immer mit selektiven Augen gelesen. Heute gibt es jedoch eine zunehmende Tendenz zu denken, dass man nicht richtig orthodox (im „katholischen“ Sinne) sein kann, wenn man die grundlegenden Lehren des Thomismus nicht annimmt.

Was von diesen evangelikalen Anhängern oft übersehen wird, ist die umstrittene Geschichte des Aquinismus. Seit der Reformation und darüber hinaus hat der römische Katholizismus Aquinas als seinen Hauptverfechter für seine antireformatorische Haltung und die daraus resultierenden antibiblischen Entwicklungen betrachtet, wie z. B. das marianische Dogma der leiblichen Himmelfahrt Mariens von 1950.

Was ist von diesem Streit um Aquin zu halten? Was sind die Stärken und Schwächen, wenn nicht gar die Gefahren, wenn wir Aquin für die Theologie heute wiederentdecken? Es geht nicht darum, Aquin zu studieren oder Aquin unkritisch zu meiden, sondern darum, die theologische Landkarte bereitzustellen, mit der sich Evangelikale ihm nähern können.

Wir sollten Aquin lesen wie Petrus Lombardus, Bonaventura, Duns Scotus und andere mittelalterliche Theologen, die von Aquins Einsichten und Lehren profitierten, aber auch Probleme benannten, wenn sein System von der Heiligen Schrift abwich.

Wir dürfen uns weder vor Aquin fürchten noch ihn zum absoluten Maßstab für die christliche Orthodoxie erheben – weder sein Denksystem ablehnen noch es naiv übernehmen. Die evangelikale Theologie muss eine realistische Lesart von Aquin anstreben, die sich der höchsten Autorität der Schrift unterordnet und im Dienst des Evangeliums steht.

Mehr: https: www.christianitytoday.com.

Papst Franziskus: „Alle Menschen sind fundamental gut“

Papst Franziskus hat ein Interview gegeben und wieder einmal ist nicht so recht klar, was er sagen will. Ich empfehle, ab Minute 12 reinzuhören. Einmal: Alle Menschen sind Sünder. Und dann: Alle Menschen sind fundamental gut. Es gibt ein paar Sünder, aber das Herz selbst ist gut.

Kardinal Müller zu „Fiducia supplicans“

Kardinal Müller, von 2012 bis 2017 Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre, hat die Erklärung „Fiducia supplicans“ (dt. Flehende Zuversicht) kritisch kommentiert. Sein Fazit:

Priester müssen allen Menschen die Liebe und Güte Gottes verkünden und auch Sünder und Schwache, die Schwierigkeiten haben, sich zu bekehren, mit Ratschlägen und Gebeten unterstützen. Das ist etwas ganz anderes, als mit selbsterfundenen aber trügerischen Zeichen und Worten darauf hinzuweisen, dass Gott nicht so anspruchsvoll mit der Sünde umgeht und so zu verbergen, dass Sünde in Gedanken, Worten und Taten uns von Gott entfernt. Nicht nur im öffentlichen, sondern auch im privaten Bereich gibt es keinen Segen für sündige Lebensumstände, die objektiv dem heiligen Willen Gottes widersprechen. Und es ist kein Beweis für eine gesunde Hermeneutik, dass die mutigen Verteidiger der christlichen Lehre als Rigoristen gebrandmarkt werden, die mehr an der legalistischen Erfüllung ihrer moralischen Normen als an der Erlösung bestimmter Menschen interessiert sind. Denn das ist es, was Jesus zu den einfachen Menschen sagt: „Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! Ich will euch erquicken. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; und ihr werdet Ruhe finden für eure Seele. Denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht.“ (Mt 11,28-30). Und der Apostel erklärt es so: „Und seine Gebote sind nicht schwer. Denn alles, was aus Gott gezeugt ist, besiegt die Welt. Und das ist der Sieg, der die Welt besiegt hat: unser Glaube. Wer sonst besiegt die Welt, außer dem, der glaubt, dass Jesus der Sohn Gottes ist?“ (1 Joh 5,4-5). In einer Zeit, in der eine falsche Anthropologie die göttliche Institution der Ehe von Mann und Frau mit Familie und Kindern untergräbt, sollte sich die Kirche an die Worte ihres Herrn und Haupts erinnern: „Geht durch das enge Tor! Denn weit ist das Tor und breit der Weg, der ins Verderben führt, und es sind viele, die auf ihm gehen. Wie eng ist das Tor und wie schmal der Weg, der zum Leben führt, und es sind wenige, die ihn finden.“ (Mt 7,13-14).

Mehr: www.kath.net.

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