Dezember 2015

Gottes Mutterherz?

Einleitung

In einem Artikel vom 29. Dezember 2015 plädiert Tobias Faix für eine stärkere Betonung der weiblichen Seite Gottes in der christlichen Verkündigung. Er hat dabei auf verschiedene lexikalische Beobachtungen zurückgegriffen, die erörterungswürdig sind.

Ich möchte jedoch in der nachfolgenden, rasch ausgeführten, Untersuchung lediglich danach fragen, ob die zahlreichen in Anschlag gebrachten Bibeltexte die eingeforderte Rede vom „Mutterherz Gottes“ stützen. Ich zitiere dafür die angeführten Beweistexte, die in der feministischen Literatur immer wieder auftauchen, und ergänze sie durch kurze Vermerke.

Betrachtung der Bibeltexte

1. Gott als gebärende Frau

Dtn 32,18: „An den Fels, der dich gezeugt hat, dachtest du nicht mehr, und den Gott, der dich geboren hat, hast du vergessen.“

Der Vers spricht nicht von einer Frau, sondern davon, dass Gott (der Fels) uns gemacht hat. Das hebräische ḥyl kann gebären, aber auch zeugen, hervorbringen o. schaffen bedeuten. Da die Nomen „Gott“ und „Fels“ sowie das Verb „zeugen“ grammatisch maskulin sind, ist davon eher auszugehen.

Jes 42,4: „Lange bin ich still gewesen, habe ich geschwiegen, habe ich mich zurückgehalten, wie die Gebärende werde ich nun schreien, werde so sehr schnauben, dass ich um Luft ringen muss.“

Der Vers spricht nicht über eine Frau, sondern davon, dass Gott wie eine Gebärende schreien wird. Hier wird eine Tätigkeit Gottes beschrieben. Eine Eigenschaft oder Aktivität ist nicht mit Identität zu verwechseln. Zu sagen, dass mein Auto so schnell ist wie eine Rakete, bedeutet nicht, dass mein Auto eine Rakete ist.

Num 11,12: „Habe denn ich dieses ganze Volk empfangen, oder habe ich es gezeugt, dass du zu mir sagst: Trage es an deiner Brust, wie der Wärter den Säugling trägt, in das Land, das du seinen Vorfahren zugeschworen hast?“ 

Es handelt sich um einen Spruch des Mose. Er beschwert sich bei Gott, da dieser von ihm verlangt, sich um das Volk Gottes zu sorgen, so als sei es sein Kind. Es ist möglicherweise eine rhetorische Frage, die implizit mitteilt: „Du Gott hast das Volk gezeugt und aufgezogen“. Aber selbst dann, wenn das Bild feminin ist, ist der Text kein Beleg für die Weiblichkeit Gottes.

Hiob 38,8: „Wer hat das Meer mit Schleusen verschlossen, als es hervorbrach, heraustrat [wie] aus dem Mutterschoß, …“

Die Erde wird als Mutterschoß beschrieben, aus dem das Meer hervorgekommen ist. Gott war derjenige, der das Wasser mit Toren zurückgehalten hat. Die GN übersetzt trefflich: „Wer hat das Meer mit Toren abgesperrt, als es hervorbrach aus dem Schoß der Erde?“.

Hiob 38,29: „Aus wessen Schoß ist das Eis gekommen, und wer hat den Reif des Himmels geboren?“

Der Vers erinnert tatsächlich an das Bild einer Mutter. Allerdings steht hier wie in V. 28 das Verb jld, welches, je nachdem, ob eine Frau oder ein Mann gemeint ist, mit gebären oder zeugen übersetzt wird. Da es hier maskulin ist, passt zeugen besser.

Joh 16,21: „Wenn eine Frau niederkommt, ist sie traurig, weil ihre Stunde gekommen ist. Wenn sie das Kind aber geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Bedrängnis vor Freude, dass ein Mensch zur Welt gekommen ist.“

Hier wird die Verbildlichung einer gebärenden Mutter gebraucht, um die Zeit der Drangsal und Traurigkeit zu beschreiben, die auf die Jünger Jesu zukommt.

2. Gott als stillende Mutter

Num 11,11-12: „Und Mose sprach zum HERRN: Warum gehst du so übel um mit deinem Diener, und warum finde ich keine Gnade in deinen Augen, dass du die Last dieses ganzen Volks auf mich legst? Habe denn ich dieses ganze Volk empfangen, oder habe ich es gezeugt, dass du zu mir sagst: Trage es an deiner Brust, wie der Wärter den Säugling trägt, in das Land, das du seinen Vorfahren zugeschworen hast?“

Der Text wurde unter Num 11,11 bereits kommentiert. Hier beschwert sich Mose bei Gott. Auch dann, wenn die Fragen rhetorisch gestellt sind, ist die feminine Illustration kein Beleg für die Weiblichkeit Gottes. Gott spricht maskulin (’mr).

Ps 131,2: „Fürwahr, ich habe meine Seele besänftigt und beruhigt; wie ein entwöhntes Kind bei seiner Mutter, wie das entwöhnte Kind ist meine Seele ruhig in mir.“

David beschreibt seine seelische Verfassung. Seine Seele ist wie ein entwöhntes Kind stille in ihm [also in David].

Jes 49,15: „Würde eine Frau ihren Säugling vergessen, ohne Erbarmen mit dem Kind ihres Leibs? Selbst wenn diese es vergessen würden, werde doch ich dich nicht vergessen!“

Ein Vergleich. Eine Mutter vergisst ihr Säugling nur ausgesprochen selten. Selbst wenn sie es vergisst, so ist Gott anders als eine Mutter. Er wird sein Volk nie vergessen.

Hos 11,4: „Mit menschlichen Seilen habe ich sie gezogen, mit Stricken der Liebe, und ich war für sie wie jene, die das Kleinkind an ihre Wangen heben, und ich neigte mich ihm zu, ich gab ihm zu essen.“

Das Bild bezieht sich auf Ephraim als Kuh (vgl. Hos 10,11). Gott hat das Arbeitstier schonend behandelt.

1Petr 2,2: „Verlangt jetzt wie neugeborene Kinder nach der vernünftigen, unverfälschten Milch, damit ihr durch sie heranwachst zum Heil, …“

Petrus greift wie in 1Petr 1,23 das Bild vom Neugeborenen auf. Die wiedergeborenen Christen sehnen sich nach geistlicher Nahrung wie Säuglinge sich nach Muttermilch sehnen.

3. Gott, der einkleidet

Gen 3,21: „Und der HERR, Gott, machte dem Menschen und seiner Frau Röcke aus Fell und legte sie ihnen um.“

Dieser Text hat keinerlei Beweiskraft für die These des Artikels, es sei denn, es wird vorausgesetzt, dass ausschließlich Frauen in der Lage sind, Menschen einzukleiden.

Mt 6,25-34: „Darum sage ich euch: Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen werdet, noch um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung? Schaut auf die Vögel des Himmels: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in Scheunen — euer himmlischer Vater ernährt sie. Seid ihr nicht mehr wert als sie? Wer von euch vermag durch Sorgen seiner Lebenszeit auch nur eine Elle hinzuzufügen? Und was sorgt ihr euch um die Kleidung? …“

Wie bei Gen 3,21 hat auch dieser Text keine Beweiskraft. Hinzu kommt, dass in Mt 6 ausdrücklich vom „himmlischen Vater“ gesprochen wird (vgl. 6,26.32).

4. Gott erzieht

Jes 46,3-4: „Hört auf mich, Haus Jakob, und ihr, der ganze Rest des Hauses Israel, die ihr mir schon im Leib eurer Mutter aufgeladen worden seid und die ihr vom Mutterschoß an getragen worden seid: Bis in euer Alter bin ich es und bis ins hohe Alter: Ich bin es, der euch schleppt. Ich habe es getan, und ich werde tragen, und ich werde euch schleppen und euch retten.“

Gott trägt das Volk vom Zeitpunkt der Geburt an und wird es auch in Zukunft tragen und retten. Der Bezug zur These fehlt, es sei denn, es wird davon ausgegangen, dass nur eine Frau schleppen, tragen und retten kann.

Hos 11,1–4: „Als Israel jung war, habe ich es geliebt, und ich rief meinen Sohn aus Ägypten. Sooft man sie rief, haben sie sich abgewandt von ihnen; den Baalen bringen sie Schlachtopfer dar und den Götterbildern Rauchopfer! Dabei war ich es, der Efraim das Gehen beigebracht hat – er hob sie auf seine Arme –, sie aber haben nicht erkannt, dass ich sie geheilt habe. Mit menschlichen Seilen habe ich sie gezogen, mit Stricken der Liebe, und ich war für sie wie jene, die das Kleinkind an ihre Wangen heben, und ich neigte mich ihm zu, ich gab ihm zu essen.“ 

Siehe oben unter Punkt 2 (Hos 11,4).

5. Gott tröstet

Jes 66,13 „Wie einen, den seine Mutter tröstet, so werde ich euch trösten, und getröstet werdet ihr in Jerusalem.“ 

Es handelt sich um einen einfachen Vergleich, nicht um eine behauptete Identität von Gott und Mutter. Vgl. die Anmerkung zu Jes 42,14 unter Punkt 1. Der Sprecher, Jahwe (v. 12), redet in der männlichen Form (’mr).

Offb 21,4: „Und abwischen wird er jede Träne von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, und kein Leid, kein Geschrei und keine Mühsal wird mehr sein; denn was zuerst war, ist vergangen.“

Der Text hat keinerlei Beweiskraft im Blick auf die These, es sei denn, es wird verneint, dass ein Vater Trost spenden kann. Gen 5,29 spricht allerdings z.B. ausdrücklich davon, dass der Mann Noah trösten wird.

6. Gott als Geburtshelferin

Ps 22,10–11: „Du bist es, der mich aus dem Mutterschoß zog, der mich sicher barg an der Brust meiner Mutter. Auf dich bin ich geworfen vom Mutterleib an, von meiner Mutter Schoß an bist du mein Gott.“

Der Text hat keinerlei Beweiskraft, außer, es wird vorausgesetzt, dass ein Mann bei einer Geburt nie ein Helfer sein kann, so wie beispielsweise ein Gynäkologe die Geburt unterstützt.

Jes 66:

Hier gilt das Gleiche wie bei Ps 22,10-11.

7. Gott als Bärenmutter

Hos 13,8: „Ich falle über sie her wie eine Bärin, der man die Jungen genommen hat, und ich zerreiße die Brust über ihrem Herzen. Und dort fresse ich sie wie eine Löwin, die Tiere des Feldes reißen sie in Stücke.“

Hier wird Gott mit wilden Tieren verglichen, um den Ernst des göttlichen Gerichts herauszustreichen.

Ps 123,2: „Sieh, wie die Augen der Diener auf die Hand ihres Herrn, wie die Augen der Magd auf die Hand ihrer Herrin, so blicken unsere Augen auf den HERRN, unseren Gott, bis er uns gnädig ist.“

Ein einfacher Vergleich ohne Beweiskraft im Blick auf die These. Es wird nicht gesagt, dass Gott eine Gebieterin ist.

Lk 15,8-10: „Oder welche Frau, die zehn Drachmen besitzt und eine davon verloren hat, zündet nicht ein Licht an, kehrt das Haus und sucht eifrig, bis sie sie findet? Und wenn sie sie gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen zusammen und sagt: Freut euch mit mir, denn ich habe die Drachme gefunden, die ich verloren hatte. So, sage ich euch, wird man sich freuen im Beisein der Engel Gottes über einen Sünder, der umkehrt.“

Erkenne keinen Zusammenhang mit der These.

8. Gott als Bäckerin

Mt 13,33: „Ein anderes Gleichnis nannte er ihnen: Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Sauerteig, den eine Frau nahm und unter drei Scheffel Mehl mischte, bis alles durchsäuert war.“ 

Ein Gleichnis. Erkenne keinen Zusammenhang mit der These.

Lk 13,20-21: „Und wiederum sprach er: Womit soll ich das Reich Gottes vergleichen? Es ist einem Sauerteig gleich, den eine Frau nahm und mit drei Scheffel Mehl vermengte, bis alles durchsäuert war.“

Ein Gleichnis. Erkenne keinen Zusammenhang mit der These.

9. Gott als Adlermutter

Ex 19,4: „Ihr habt selbst gesehen, was ich Ägypten getan und wie ich euch auf Adlersflügeln getragen und hierher zu mir gebracht habe.“ 

Ich bin kein Vogelkundler. Aber meines Wissens vertreibt oft die Adlermutter die Küken aus den Nestern und lässt sie fallen, damit sie fliegen lernen. Der Adlervater fängt sie dann mit seinen Flügeln auf. Aber selbst bei Arbeitsteilung spricht der Text nicht davon, dass Gott eine Adlermutter ist.

Dtn 32,11: „Wie ein Adler, der seine Brut aufstört zum Flug und über seinen Jungen schwebt, so breitete er seine Flügel aus, nahm es und trug es auf seinen Schwingen. Der HERR allein leitete es, kein fremder Gott war mit ihm.“

Ebenso wie Ex 19,4.

10. Gott als Henne

Ps 17,8: „Behüte mich wie den Augapfel, den Stern des Auges, birg mich im Schatten deiner Flügel“

Ps 57,2: „Sei mir gnädig, Gott, sei mir gnädig, denn bei dir suche ich Zuflucht. Im Schatten deiner Flügel suche ich Zuflucht, bis das Verderben vorüber ist.“ 

Figurative Rede, wie sie oft zu finden ist. Bei Gottes Flügeln findet man Zuflucht und Schutz, vgl. z.B. Ps 36,7; 57,1; 63,7-8.

Mt 23,37: „Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten und steinigst, die zu dir gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder um mich sammeln wollen, wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel sammelt, und ihr habt nicht gewollt.“

Lk 13,34: „Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten und steinigst, die zu dir gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder sammeln wollen wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt.“ 

Auszug aus einer Strafrede Jesu. Das Bild von der Henne ist eindeutig figurativ zu verstehen.

Fazit

Der Artikel „Das Mutterherz Gottes“ wirft zahlreiche theologische Fragen auf. Um einige zu nennen: Ist im Hebräischen tatsächlich die Gebärmutter Ort der Gefühle und des Glaubens? Prägt die Biografie den Glauben eines Menschen prinzipiell stärker als die Theologie, determinieren also Vita und soziales Milieu die Bibelauslegung? Ist das zu Anfang geschilderte Beispiel nicht ein immens starker Hinweis darauf, dass wir unsere Erfahrungen gerade nicht auf Gott projizieren, sondern diese vielmehr von Gott her erleuchten lassen sollten? Ist das Shalom Gottes eine transformatorische Zusage Gottes für den Frieden in dieser Welt? Steht über das Wesen Gottes nur sehr wenig in der Heiligen Schrift? Warum finden wir in der Bibel keine Aufforderung, Gott als Mutter anzusprechen, die geforderte Anrede als Vater dagegen sehr wohl?

Diese kleine Untersuchung war freilich nicht den großen Fragen gewidmet. Es ging lediglich darum, ob die im Beitrag „Das Mutterherz Gottes“ aufgeführten 30 Bibeltexte die These stützen, dass die Heilige Schrift Gott mit zahlreichen weiblichen Bildern beschreibt (und „Mutterherz“ ein angemessener Begriff ist, um das Herz Jahwes zu bezeichnen). Viele der angeführten Begründungstexte haben im Blick auf die Behauptung keine Beweiskraft. Einige Texte rufen entsprechende Bilder oder Assoziationen hervor, ohne das sie ein weiblicheres Gottesbild erzwingen. Lediglich Hiob 38,29 könnte die Ansicht, Gott werde als gebärende Frau gekennzeichnet, stützen. Jedoch ist auch dieser Text nicht so evident, dass er den restlichen Befund kompensieren kann.

Ron Kubsch

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Der Text kann hier auch als PDF-Datei heruntergeladen werden: MutterherzGottes1.1.pdf.

Nachtrag vom 31.12.15, 16.20 Uhr: Tobias hat die Ausführungen zu rǽḥæm für „Mutterschoß“ und lėb für Herz inzwischen korrigiert, so dass ein Hinweis darauf nur stört. Ich habe den entsprechenden Abschnitt deshalb gestrichen.

Soziale Netzwerke und Depressionen

tree-1090854_1920Es gibt noch keine seriösen Studien über die Auswirkungen sozialer Medien auf eine bereits bestehende Depression. Experten halten einen negativen Zusammenhang jedoch für wahrscheinlich. Kati Krause startete einen Selbstversuch und verbannte falsche Nähe und oberflächliche Interaktion, um mehr Zeit für echte Beziehungen zu haben. Es lohnt sich, auf Facebook, WhatsApp & Co. zu verzichten oder zumindest den Konsum zu reduzieren.  Die Stressminderung setzt nicht nur bei Menschen, die zu Depressionen neigen, Kräfte für die wichtigen Dinge des Lebens frei.

Ich musste raus aus diesem Teufelskreis. Niemand konnte mir dabei helfen, weil ich gar nicht wusste, wie ich es erklären sollte. Es gab nur ab und zu Momente, in denen sich der Nebel kurz lichtete und ich erkennen konnte, dass gerade etwas Schlimmes passierte. Ich wartete auf einen dieser Momente, sammelte all meine Energie und traf, zumindest erschien es mir damals so, eine der wichtigsten Entscheidungen in meinem Leben: Ich löschte die Facebook-App. Danach Instagram. Dann Twitter. Ich stellte alle Benachrichtigungen aus, und das waren viele. Bis auf SMS und Anrufe meiner besten Freunde und Familie war mein Telefon nun still. Plötzlich war die Welt viel kleiner, viel besser zu bewältigen, viel vertrauter. Ich konnte mich erholen. Und ein paar Wochen später, ohne dass ich groß darüber nachdachte, war ich zurück in den sozialen Netzwerken.

Hier der vollständige Bericht: www.zeit.de.

Francis Schaeffer: Relativismus und Evangelikalismus

Francis Schaeffer hat 1974 auf dem Kongress für Weltevangelisation in Lausanne über die Orthodoxie der Lehre und der Praxis gesprochen. Hervorgehoben hat er, wie problematisch es werden kann, wenn Christen die bürgerliche Moral mit dem Moralgesetz Gottes verwechseln. Christen folgen dann nämlich schnell – weil es bequemer ist – der wechselnden Sitte und sind so leicht verführbar. Rückblickend ist zu erkennen, wie genau er damals den wunden Punkt getroffen hat und dass seine Befürchtungen leider in Erfüllung gegangen sind.

Hier Auszüge aus seinen Redebeiträgen:

Sein Hauptvortrag wurde später auch in Schriftform herausgegeben. In dem Buch Wahrheit und Liebe: Was wir von Francis Schaeffer lernen können ist der Text im Anhang zu finden. Hier eine wichtige Stelle (S. 237–239):

Wenn wir aber eine inhaltlich klar umrissene Lehre verkündigen, müssen wir diesen Inhalt auch in die Praxis umsetzen, also die Wahrheit ausleben, an die wir zu glauben behaupten. Wir müssen unseren Kindern und der Welt, die uns beobachtet, zeigen, dass wir die Wahrheit ernst nehmen. In einem relativistischen Zeitalter verhallen Lippenbekenntnisse zur Wahrheit ungehört, wenn wir nicht sichtbar und ohne Furcht vor möglichen Konsequenzen diese Wahrheit praktizieren. Als Christen behaupten wir zu glauben, dass Wahrheit existiert. Wir erklären, die Bibel vermittle uns diese Wahrheit in logischer, sprachlicher Form, die wir anderen Menschen weitergeben können. Genau diesen Anspruch erhebt das Evangelium, und dieser Aussage schließen wir uns an. Damit stehen wir aber im Widerspruch zu einer relativistischen Zeit. Können wir dann auch nur einen Augenblick annehmen, wir seien glaubwürdig, wenn wir angeblich an die Wahrheit glauben und doch die Wahrheit in religiösen Dingen nicht praktizieren? Wenn wir hier versagen, können wir nicht erwarten, dass uns die kritischen jungen Menschen des 20. Jahrhunderts, auch die jungen Leute in unseren eigenen Gemeinden, denen von allen Seiten eingehämmert wird, dass es keine Wahrheit gibt, ernst nehmen, wenn wir behaupten: „Hier ist die Wahrheit.“

Was das praktisch bedeuten kann, möge folgendes Beispiel verdeutlichen: Eine sehr begabte junge Frau, die überzeugte Christin war, erhielt einen Lehrauftrag für Soziologie an einer der großen englischen Universitäten. Der Leiter ihrer Abteilung, ein Behaviorist (sozialpsychologische Verhaltensforschung bei Mensch und Tier), stellte sie vor die Alternative, entweder von behavioristischer Grundlage her zu lehren oder ihre Stellung zu verlieren. Unvermittelt stand sie also vor der Frage, ob sie sich in ihrem Handeln zur Wahrheit stellen solle oder nicht. Sie lehnte es ab, den Behaviorismus zu lehren – und verlor ihren Posten. Das meine ich, wenn ich sage: Wir müssen ohne Rücksicht auf mögliche Konsequenzen der Wahrheit entsprechend handeln. Und vor solche Entscheidungen werden wir immer häufiger und in immer mehr Situationen gestellt werden. So werden wir z. B. in einer Umgebung, die sexuelle Zügellosigkeit propagiert, eindeutig zur Frage der sexuellen Lebensform Stellung beziehen müssen. Wir müssen darauf bedacht sein, mit Gottes Hilfe so zu leben wie es die Bibel lehrt, nämlich in der Partnerschaft eines Mannes mit einer Frau; andernfalls zerstören wir die Wahrheit, an die wir angeblich glauben.

Nirgends aber ist die Praxis der Wahrheit wichtiger als auf dem Gebiet der religiösen Zusammenarbeit. Wenn ich nämlich einerseits behaupte, dass die christliche Lehre wirklich ewig gültige Wahrheit ist und dass der liberale Theologe eine falsche Lehre vertritt – so falsch, dass sie nicht mehr mit dem Wort Gottes vereinbar ist –, andererseits jedoch bereit bin, bei irgendeinem Anlass (und sei es bei einer Evangelisation) öffentlich so aufzutreten, als vertrete dieser Mann dieselbe religiöse Position wie ich selbst, dann bleibe ich die Demonstration der Wahrheit schuldig, die meine Generation von mir erwarten kann und verlangen wird, wenn ich glaubwürdig sein will. Wo bleibt in einer relativistischen Zeit unsere Glaubwürdigkeit, wenn wir auf religiösem Sektor mit Männern zusammenarbeiten, die in ihren Büchern und Vorträgen unverblümt zu verstehen geben, dass sie vom Inhalt der Heiligen Schrift wenig (oder nichts) glauben?

Wenn wir in der religiösen Zusammenarbeit ‚Weitherzigkeit‘ praktizieren, wird im Übrigen die folgende Generation mit ziemlicher Sicherheit in Fragen der Lehre ‚großzügig‘ sein und die Autorität der Bibel abschwächen. Diese Entwicklung lässt sich auch in evangelikalen Kreisen beobachten. Wir müssen deshalb den Mut haben, klar Stellung zu beziehen.

Amazonasvolk der Awajún

51IYPxvr5YL._SX310_BO1,204,203,200_Michael F. Brown hat ein aufsehenerregendes Buch über das Amazonasvolk der Awajún geschrieben. Er schildert nicht nur ihren lebenslustigen Alltag, sondern auch ihr Misstrauen und die Gewaltbereitschaft. „Mit vielen anderen indigenen Völkern teilen die Awajún die Auffassung, dass plötzlichen Todesfällen und schweren Erkrankungen immer übernatürliche Ursachen zugrunde liegen müssen. Sie herauszufinden ist Sache der Schamanen, die sich in einen ekstatischen Trancezustand versetzen und die Namen der Personen nennen, die das Unglück verschuldet haben sollen.“

Karl-Heinz Kohl hebt in seiner Besprechung des Buches sogar hervor, dass aus der Sicht des Ethnologen Brown die christliche Mission für das Volk ein Segen war:

Aus der historischen Distanz betrachtet, erscheint die hohe Zahl an Gewalttaten innerhalb der Gemeinschaft allerdings eher als ein Übergangsphänomen. In einer Situation, in der sich die alten Traditionen auflösten und die Handlungsspielräume der stark auf ihre Autonomie bedachten Awajún kleiner wurden, führten emotionale Verunsicherungen dazu, dass sich das auch früher schon sehr hohe Aggressionspotential nach innen richtete. Auf lange Sicht erwies sich Brown zufolge die Missionsarbeit der evangelikalen Kirchen als segensreich. Sie lieferten neue Orientierungs- und Wertesysteme, die den Frieden nach innen wahren und bei der Anpassung an die Anforderungen der Moderne halfen.

Hier die Buchbesprechung: www.faz.net.

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Siehe zum Thema auch: Das glücklichste Volk und seine Entkehrung.

David Precht: „Luther war ein widerlicher Geselle“

Wenn ein Pop-Philosoph über die Entstehung des Christentums und die Reformation schreibt, klingt das so:

Aber ich zeige in meinem Buch ja auch, wie das Christentum entstanden ist. Erstaunlich eigentlich, denn es hatte zuvor schon so viel Klügeres gegeben. Die Philosophie war schon auf einem viel höheren Niveau als das, was dann kam. Das Christentum war ein enormer kultureller Rückschritt.

Das Christentum entwickelte den personellen Gottesbezug, das hat die Menschen extrem angesprochen. Und man durfte alle töten, die nicht an Gott glaubten. Bei den Juden war das anders. Es gab ja andere Götter neben Jahwe, die waren aber schwächer. Im Christentum gibt es nur den einen Gott, und wer nicht an den glaubt, der hat sein Leben verwirkt. Die Radikalität der Frühchristen findet man heute wieder bei denen, die sich für den IS rekrutieren lassen. Glücklicherweise hat sich das Christentum dann weiterentwickelt.

[Luther] war ein widerlicher Geselle, ein Verbrecher an der Menschheit. Den haben wir noch nicht richtig aufgearbeitet. Wir gehen mit Luther um, als sei er ein „Heiliger“ der evangelischen Kirche. Er war aber ein für die damalige Zeit untypisch aggressiver Antisemit, Frauen verachtend bis ins Mark und vom Denken her völlig mittelalterlich. Teufel war sein Lieblingswort. Die Gesellschaft war sehr viel weiter.

Grober Unfug! Da aber davon auszugehen ist, dass David Precht seine Eingebungen mit erhabenen Gesten medial üppig auftischen wird (ich sehe ihn schon vor meinem Auge in zahlreichen Talkrunden sitzend), werden sie ihre Wirkung gleichwohl entfalten.

Hier das gesamte Interview: www.abendzeitung-muenchen.de.

Meistgelesen 2015

China: Protestantismus wächst trotz Einschüchterungen

In China breitet sich das Christentum mit einer für die Behörden beängstigenden Geschwindigkeit aus. Vor allem protestantische Gemeinden wachsen. Nach offiziellen Zahlen gibt es etwa 23 Millionen protestantische Christen in China, tatsächlich könnten es aber bereits an die 80 Millionen sein. Die Regierung will sich noch stärker einmischen. In einer kleinen Gemeinde wurden jetzt wegen „Baumängeln“ die Kreuze von den Kirchendächern gerissen. Ein Vorgeschmack auf weitere Maßnahmen?

Petra Kolonko hat für die FAZ einen einen guten Artikel über den Status der Religionsfreiheit in China geschrieben:

Nach dem, was bisher bekannt wurde, zielen die neuen Bestimmungen darauf, die Religionsgemeinschaften noch mehr als bisher unter der Kontrolle der Partei zu halten und dazu die staatliche Ausbildung und Anleitung der religiösen Lehrer und Würdenträger zu verbessern. Auch die von Parteichef Xi Jinping befohlene „Sinisierung“ der Religionen soll betont werden. Xi Jinping hatte zu Beginn des Jahres in einer Grundsatzrede daran erinnert, dass sich alle Religionsgemeinschaften an die sozialistische Politik halten müssen und der „ausländische Einfluss“ sowie eine „Infiltration“ Chinas auf dem Weg der Religion verhindert werden sollten.

Das zielt nicht nur, aber vor allem auf die christlichen Kirchen, die als besonders anfällig für westliche ausländische „Einmischung“ angesehen werden. Dabei ist das Gebot der Sinisierung nicht neu. Die chinesischen Kommunisten hatten in den sieben Jahrzehnten ihrer Herrschaft bereits alles getan, um die chinesischen Kirchen von denen im Rest der Welt zu trennen. So musste sich die katholische Kirche vom Papst lossagen, und der protestantischen Kirche wurden die „Drei Selbst-Prinzipien“ verordnet, nach denen sie sich selbst verwalten, finanzieren und ihre Lehre verbreiten sollte.

Mehr: www.faz.net.

Der Preis der Reinheit

Francis Schaeffer schreibt:

Biblische Liebe ist nicht nur fader guter Wille oder eine vage Freundlichkeit. Biblische Liebe ist etwas sehr Wirkliches und Realistisches. Gott liebt seine Kinder, die Christus als ihren Retter angenommen haben, so sehr, dass er manchmal Schmerzen durch Züchtigung verursacht. Und wahre biblische Liebe in uns muss auch manchmal zu Schmerz bei Menschen führen, unsere Brüder in Christus mit eingeschlossen. Wenn ein Vater sein Kind züchtigt, tut er es, weil er es liebt. Als Spurgeon zu seiner Zeit seine Stimme erhob, tat er das, weil er sowohl die Lehre über biblische Reinheit als auch die Lehre über biblische Liebe verstand. Wenn wir wahre Liebe zum Herrn, zu den Verlorenen und zu unseren Brüdern in Christus haben, dann werden wir bereit sein, einen großen Preis für persönliche Reinheit und für die Reinheit der Gemeinde zu zahlen. Wenn wir nicht dazu bereit sind, dann fehlt unserer Liebe etwas. Das Ziel muss sein, dass sich unsere Liebe auf praktische Weise so zeigt, dass wir gemeinsam untadelig in Heiligkeit vor Gott, unserem Vater, gegründet sind, – und wie viel mehr ist das wichtig, wenn das Kommen unseres Herrn Jesus Christus so nahe scheint.

Der Aufsatz aus dem Jahr 1951 erschien 2009 erstmals in deutscher Sprache und kann hier heruntergeladen werden: SchaefferReinheit.pdf.

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