Vor 9 Jahren ging ich in einem Vortrag auf das umgestaltete Christsein von Brian McLaren ein. McLaren reiste damals durch evangelikale Ausbildungsstätten, um für seine Vision eines progressiven Christseins zu werben. Sein therapeutisches Anliegen beschrieb ich damals mit den Worten:
So wie vor 500 Jahren die Reformatoren den Glauben vom mittelalterlichen Weltbild befreiten, müssen wir gemäß McLaren den Glauben vom Protestantismus der Moderne entkoppeln. Die Reformatoren entwickelten ein post-katholisches Weltbild. Der Auftrag der weltweiten Kirche heute besteht darin, ein post-protestantisches Weltbild zu entwickeln. Wir müssen die Kompatibilität von Glaube und Postmodernismus erzeugen. Meistern wir diese Herausforderung, kann sich der post-protestantische Glaube in den gegenwärtig emergierenden Gesellschaften fruchtbar ausbreiten.
Da diese Vision inzwischen 10 Jahre alt ist, sei es erlaubt, ein kleines Fazit zu ziehen. Also ganz kurz: Obwohl die Emergente Bewegung, zu deren Gründern McLaren gehört, öffentlich als Bewegung kaum noch wahrnehmbar ist, haben sich ihre Ideen in etlichen Gemeindebünden und Ausbildungsstätten ausgebreitet. Das zeigt sich nicht nur im Umgang mit der Bibel, sondern auch in ethischen Fragen und Antworten. Belebt haben diese Ideen allerdings weder die Gemeinden noch die Mission. Im Gegenteil: Der Missionsbegriff wurde so stark geweitet, dass fast alles Mission ist und kaum noch zur Buße aufgerufen wird. Evangelisation wird klein, Transformation groß geschrieben. Weniger die Transformation der Welt, mehr die Transformation der Gemeinden.
Nun aber zu meinem eigentlichen Anliegen: Brian McLaren verwies in seinen Vorträgen immer wieder auf den „Fall Galilei“, dessen Einsichten von der Kirche militant bekämpft worden seien. Anstatt anzunehmen, dass die Zeichen auf Veränderung stehen, habe die Kirche mit ihrer Engstirnigkeit die Fakten geleugnet und blind an der Tradition festgehalten. Heute würden die Christen einen ähnlichen Fehler machen wie die Kirche damals. Grundlos widersetzen sie sich dem postmodernen Denken und blockierten damit den Erfolg der Kirche.
Ich war mit dieser Deutung von Galilei überhaupt nicht einverstanden und sagte damals:
Der in diesem Zusammenhang erwähnte „Fall Galilei“ hat sich etwas anders zugertragen, als von Brian McLaren dargestellt. Galilei wurde nicht nach Rom bestellt, weil es einen Konflikt zwischen „reiner“ Wissenschaft und „reinem“ Glauben gab, sondern weil die Kirche von ihm verlangte, seine Theorie eines heliozentrischen Weltbildes als Hypothese darzulegen. Galilei, der keine naturwissenschaftlichen Beweise für seine Behauptungen vorlegen konnte, brach diese Vereinbarung mit der Veröffentlichung seines Dialogo. Kurioser Weise hatte die Inquisition naturwissenschaftlich Recht, während Galilei mit seiner Kritik der peripatetischen Bibelauslegung richtig lag. Nie wurde Galilei mit dem Tod bedroht, da keine Häresie vorlag. Folter wurde zwar im Rahmen des Prozesses von 1633 formal als „territio verbalis“ angedroht. Galilei war damals allerdings bereits 70 Jahre alt und wusste, dass die Inquisition Menschen ab 60 nicht mehr folterte. Da Galilei als treuer Katholik von seinen guten Kontakten zur Kurie profitierte, war er nie in einem Gefängnis … Lydia Jaeger fasst den Sachverhalt wie folgt zusammen: „Der Heilige Stuhl kämpfte bei seinem Streit mit Galilei nicht so sehr für den biblischen Glauben als für eine Theologie, die ihre kritische Distanz zur Wissenschaft einer gewissen Epoche verloren hatte. Unter diesem Gesichtspunkt warnt uns der Galilei-Prozess nicht vor einem ‚zu viel Bibel‘, sondern vor einem ‚zu viel Wissenschaft‘, die dem durch die Kirche verbreiteten Weltbild einverleibt wurde.“ (Wissenschaft ohne Gott?, Bonn: VKW, 2007, S. 24).
Der Physiker Christopher Jefferson hat kürzlich die Einschätzung, Galilei sei vor allem wegen wissenschaftlicher Gründe angefeindet worden, untermauert. In seinem Artikel „Opposition to Galileo was scientific, not just religious“ schreibt er:
In 1614, when the telescope was new technology, a young man in Germany published a book filled with illustrations of the exciting new things being discovered telescopically: moons circling Jupiter, moon-like phases of Venus, spots on the Sun, the rough and cratered lunar surface. The young man was Johann Georg Locher, and his book was Mathematical Disquisitions Concerning Astronomical Controversies and Novelties. And while Locher heaped praise upon Galileo, he challenged ideas that Galileo championed – on scientific grounds.
Hier: aeon.co.
Leider stimmt diese Einschätzung!
Ich befürchte, wir haben den alten Wein der liberalen Theologie modifiziert und etwas entschärft in pseudo-evangelikalen Schläuchen 🙁