Der „SPIEGEL“ und Claas Relotius

Nach den Enthüllungen gefälschter Geschichten beim SPIEGEL bleiben etliche Fragen offen. Einer Frage ist Claudius Seidl, Verantwortlicher Redakteur für das Feuilleton der FAS in Berlin, nachgegangen: War Claas Relotius ein Einzeltäter? Oder lag, was er tat, in der Logik des Systems?

Eine bestechende Analyse, die zeigt, wohin uns das „Storytelling“ geführt hat (siehe a. hier). Kurz: Relotius hat geliefert, was sich gut verkaufen lässt. Es geht einer mächtigen journalistischen Kaste mehr ums Erzählen als um das Schildern und Durchdringen des Wirklichen. Anders formuliert: Es fehlt an der Liebe zur Wahrheit; und an der Lust daran, Unbekanntes zu entdecken.

Es gibt auf der Website des sogenannten Reporterforums den Audiomitschnitt einer Vorlesung, die Ullrich Fichtner für junge, lernbegierige Journalisten hält; es ist ein bisschen langatmig und langweilig, dem zuzuhören; aber wenn man es, „Spiegel“-gerecht, verdichten und zuspitzen müsste: Dann liefe es auf den Lehrsatz hinaus, dass man sich beim Reportageschreiben an der Erzählstruktur und der Montagetechnik von Spielfilmen orientieren solle; Fichtner verweist da allen Ernstes auf „Mission Impossible 5“. Und genau so bringen das auch andere hochdekorierte Reportagepreisträger in Seminaren und Workshops den jungen Kollegen bei: Dass es bei der Reportage um Casting und Dramaturgie gehe; dass, wer in diesen schnellen Zeiten noch gelesen werden wolle, sich an der Erzähltechnik von Spielfilmen orientieren solle. Keiner hat diese Forderungen besser erfüllt als der Superstreber Claas Relotius, dessen Texte jetzt, so stand es gerade noch auf der Website des Reporterforums, von krimineller Energie in Schwung gebracht worden seien.

Und genau diese Baupläne sind falsch, lange bevor ein Reporter mit der sogenannten Wirklichkeit in Berührung gekommen ist. All diese Baupläne sind dazu da, dem Unverstandenen, den unauflöslichen Widersprüchen, den nicht begründbaren und nicht ganz auf den Begriff zu bringenden Gefühlen, den Phänomenen, die sich Argumenten und Erklärungen verschließen, trotzdem, im Akt des Erzählens eine Form zu geben. Was dabei herauskommt, ist immer Fiktion, und im Glücksfall, wenn die Form sich selbst reflektieren kann, ist es Kunst.

Unbedingte Empfehlung: www.faz.net.

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2 Kommentare
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ali
5 Jahre zuvor

Re-lo-ti-ie-ren. Schwaches Verb, bildungssprachlich. 1) über Jahre hinweg Lügenkonstrukte aufbauen, etwas frei hinzuerfinden. 2) Märchen zu waren Begebenheiten und Plätzen hinzudichten. „eine, Geschichte / Story, einen Artikel relotiieren“.

5 Jahre zuvor

Ist nicht Storytelling das, was neuerdings auch von Predigern gefordert wird? Dann trifft der letzte Satz des Zitats auch auf das zu, was auf der Kanzel passiert. Falls es eine Kanzel überhaupt noch gibt…

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