Gnade

R.C. Sproul: „Eigentlich bin ich okay“

R.C. Sproul schreibt (Die Heiligkeit Gottes, 2018, S. 144–145):

In den zwanzig Jahren, in denen ich als Dozent am Theologischen Seminar eine Vielzahl von Studenten unterrichtet habe, sind fast alle mit der Frage zu mir gekommen, warum Gott nicht alle Menschen rettet. Nur ein einziges Mal kam einer, der sagte: „Eines verstehe ich nicht: Warum hat Gott ausgerechnet mich errettet?“

Wir sind nicht wirklich verwundert darüber, dass Gott uns errettet hat. Irgendwo tief in unserem Inneren, im verborgensten Winkel unseres Herzens hegen wir den leisen Gedanken, dass Gott uns seine Gnade schulden würde. ‚Was wäre der Himmel ohne uns?‘, fragen wir insgeheim. Wir wissen, dass wir Sünder sind, aber so schlecht, wie Menschen sein können, seien wir nun doch nicht. Wenn es um unsere Persönlichkeit gehe, gebe es genügend Charakterzüge, aufgrund derer Gott uns schon irgendwie in seine Erlösung einbeziehen werde, wenn er gerecht sei. Die Gerechtigkeit bringt uns aus der Fassung, nicht die Gnade. Erst meine Studenten haben mich gelehrt, wie sehr der Mensch dazu tendiert, Gnade als etwas Selbstverständliches hinzunehmen.

Die Gnade Gottes

J.I. Packer schreibt über das mangelhafte Verständnis der Gnade Gottes innerhalb der Kirche (Gott erkennen, 2019, S. 153–154):

Es ist in allen christlichen Gemeinderichtungen üblich, den christlichen Glauben als eine „Religion“ der Gnade zu bezeichnen. Innerhalb der christlichen Lehre gilt es als ein festes Bekenntnis, dass die Gnade Gottes ein persönliches Handeln Gottes ist und keine mystische Kraft, nicht eine Art „himmlischer Elektrizität“, die man erhält, sobald man den „geistlichen Stecker“ an die Sakramente anschließt. Gottes Gnade bedeutet, dass Gott mit seinem Volk in Liebe handelt.

In verschiedenen Büchern und Predigten wird immer wieder hervorgehoben, dass das neutestamentliche griechische Wort für Gnade (charis), wie das Wort für Liebe (agape), einen christlichen Ursprung hat. Das Wort umschreibt eine unabhängige, selbstbestimmte Güte, und war in der griechisch-römischen Kultur und Theologie bis dahin völlig unbekannt. Es sollte zum Grundwissen eines jeden Christen gehören, dass die Gnade Gottes Reichtum auf Kosten des Opfers Jesu ist. Und doch scheint es so, als gäbe es nicht viele in unseren Gemeinden und Kirchen, die wirklich an Gottes Gnade glauben.

Aber es gab immer wieder einige, die den Gedanken an Gottes Gnade so überwältigend fanden, dass sie nicht anders konnten, als stets von dieser Gnade zu sprechen und Gott dafür zu loben. So sind einige der schönsten Loblieder entstanden – und es bedarf wirklich einer tiefen Begeisterung, um ein Loblied zu schreiben, das über Generationen hinweg in den Gemeinden gesungen wird. Sie haben für die Gnadenlehre Gottes gekämpft, ertrugen Spott und zahlten oft einen hohen Preis für ihre Einstellung. Da ist zum Beispiel Paulus, der diese Lehre gegen die Judaisten verteidigte, Augustinus, der sie vor Pelagius rechtfertigte oder die Reformatoren, die Gottes Gnade vor den Scholastikern verteidigten, und viele nach ihnen folgten ihrem Beispiel. Sie alle hielten sich an das Bekenntnis „Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin“ (1 Kor 15,10), und ihr Lebensmotto lautete: „Ich erkläre Gottes Gnade nicht für ungültig“ (Gal 2,21; eÜ).

Doch leider trifft dies auf die meisten Namenschristen nicht zu. Gottes Gnade ist bei ihnen bloß ein Lippenbekenntnis. Es ist sicherlich keine Übertreibung, wenn wir sagen, dass sie gar keine Vorstellung von der Gnade Gottes haben. Der Gedanke daran bedeutet ihnen nichts und hat daher auch keinerlei Einfluss auf ihr Leben. Man kann mit ihnen über die Raumtemperatur des Gottesdienstraumes reden oder über die Bilanzen des letzten Jahres, doch kommt man auf die Wahrheiten zu sprechen, die der Begriff Gnade beinhaltet, stößt man auf Zurückhaltung und Verständnislosigkeit. Zwar würden sie niemals behaupten, dass unsere Worte sinnlos wären, und die meisten von ihnen würden auch nicht infrage stellen, dass sie irgendeine Bedeutung haben. Doch sie merken, dass das, was wir sagen, außerhalb ihres Erfahrungsschatzes liegt, und je länger sie ohne diese Erfahrung leben, umso sicherer sind sie, dass sie diese auch nicht nötig haben.

Misstraut der Gnade Gottes nicht

Auf Lebensquellen.de habe ich wieder einmal ein sehr schönes Zitat gefunden. Diesmal eine Paränese von Augustinus:

Ich habe eine große Sünde gesündigt und bin mir vieler Vergehen bewußt; aber ich verzweifle nicht, weil, wo die Vergehungen übergeflossen, auch die Gnade überfließt. Wer an der Vergebung der Sünde verzweifelt, leugnet, daß Gott barmherzig ist; ein großes Unrecht tut er Gott, weil er seiner Gnade mißtraut. So viel an ihm ist, leugnet er die Liebe, Wahrheit und Macht Gottes; meine ganze Hoffnung aber ruhet in der Liebe der Annahme, in der Wahrheit der Verheißung und in der Macht der Erlösung.

Wie vielerlei Gnade gibt es?

In der 35. Frage des Katechismus von Abraham Hellenbroek heißt es: „Wie vielerlei Gnade gibt es?“ Die Antwort lautet:

Sie ist entweder allgemein über allen. Damit ihr Söhne eures Vaters seid, der in den Himmeln ist; denn er läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und läßt regnen über 55 Gerechte und Ungerechte (Mt 5,45). Oder sie ist besonders und seligmachend, allein über den Auserwählten. Und werden umsonst gerechtfertigt durch seine Gnade, durch die Erlösung, die in Christo Jesu ist (Röm 3,24). Zu jener Zeit hob Jesus an und sprach: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, daß du dies vor Weisen und Verständigen verborgen hast, und hast es Unmündigen geoffenbart (Mt 11,25). Noah aber fand Gnade in den Augen des HERRN (1. Mose 6,8). Und der Engel sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria, denn du hast Gnade bei Gott gefunden (Lk 1,30). Und die wieder vorkommende, einwirkende und verfolgende Gnade.

Quelle: Hermann Faukelius u. Abraham Hellenbroek, Katechismen, Rödingen u. Hamburg: Gruch u. RVB, 2004, S. 54–55.

Gottes Verlassenheit und seine Gnade

Pascal BlaiseBlaise Pascal schrieb im Februar 1657 einen bewegenden Brief an Mademoiselle de Roannez, die wohl eine Zeit lang in den Philosophen verliebt war, sich aber dann für den Weg ins Kloster entschied (vielleicht, weil er ihre Liebe nicht erwiderte).

Nachfolgend zwei wunderschöne Zitate aus dem Schreiben. Das erste Zitat stammt aus einem Lobpreis auf die Gnade Gottes (Blaise Pascal, Briefe I, 2015, S. 100–101):

Doch es gibt diesen Unterschied zwischen den Königen der Erde und dem König der Könige, dass die Fürsten nicht die Treue ihrer Untertanen bewirken, sondern sie als treue Untertanen vorfinden: Gott hingegen findet immer nur untreue Menschen vor, und wenn sie treu sind, so hat er sie dazu gemacht. Während die Könige also eine besonders große Dankesschuld jenen gegenüber haben, die ihnen treu bleiben, verhält es sich im Gegenteil so, dass jene, die im Dienst Gottes ausharren, ihm selber zu unendlich großem Dank verpflichtet sind. Preisen wir ihn also unablässig für diese Gnade, wenn er sie uns erwiesen hat …

Das zweite Zitat dient der Ermutigung, hatte doch Mademoiselle de Roannez auf ihrem geistlichen Weg mit allerlei Widerständen zu kämpfen (ebd., S. 100).

Aufrichtig gesagt, Gott ist sehr verlassen. Wie mir scheint, leben wir jetzt in einer Zeit, da ihm der Dienst, den man ihm leistet, höchst wohlgefällig ist.

Nun wird der kritische Leser anmerken: „Ach, so denn alles an Gott liegt, warum schafft er sich dann nicht einfach mehr Gefährten? Schließlich kann doch keiner Gott dienen, so Gott selbst es nicht schafft!“

Pascal beschreibt an andere Stelle die geheimnisvolle Doppelstruktur der Gnade so (Blaise Pascal, Kleine Schriften zur Religion und Philosophie, S. 247):

Diese beiden Tatsachen, dass Gott manchmal als erster den Menschen verlässt und dass der Mensch als erster Gott verlässt, haben gemeinsam Bestand. Denn es ist wahr, dass Gott seine Gnadenmittel unablässig jenen gibt, die unablässig um sie bitten; aber es trifft auch zu, dass der Mensch es niemals unterlassen würde, um sie zu bitten, wenn Gott es nicht unterließe, dem Menschen die Gnade zu geben, ihn darum zu bitten.

Abraham Kuyper (Schluß)

 

Abraham Kuyper: Der reformierte Denker 

Denkerischer Ausgangspunkt für Kuyper ist das Bekenntnis zur absoluten Souveränität Gottes. Dieser Glaube an die allumfassende Königsherrschaft von Jesus Christus (engl. Lordship Principle) bedeutete ihm, dass der Calvinismus als eine Lebensanschauung (engl. Life-System) anzusehen ist, die jeden Bereich der Wirklichkeit berührt. Die Herrschaft von Jesus Christus über die gesamte Wirklichkeit konkretisiert sich in drei Ordnungen, die jeweils unmittelbar Gott unterstellt sind, nämlich Staat, Gesellschaft und Kirche (Abraham Kuyper, Lectures on Calvinism, Grand Rapids, MI: Erdmans, Reprint 2002, S. 79). 
 
Einerseits verteidigte Kuyper große (Wieder-)Entdeckungen der Reformatoren wie die tiefe Sündhaftigkeit aller Menschen, die Glaubensgerechtigkeit oder die Erwählung, andererseits gab er dem Calvinismus ein aufgeschlossenes und der Welt zugewandtes Gesicht. Gelingen konnte ihm das durch die gleichzeitige Betonung von Antithese und allgemeiner Gnade.
 
Mit der Antithese hebt Kuyper den Gegensatz von Kirche und Welt heraus. Die Kinder Gottes leben versöhnt nach dem Glauben zur Ehre Gottes. Die Kinder der Welt richten sich nach ihrem eigenen verdorbenen Herzen und rebellieren gegen Gott. Diese vorausgesetzte Antithese führt allerdings nicht in den Kulturpessimismus, dem Kuyper die „allgemeine Gnade“ gegenüberstellt. 
 
Während die spezielle Gnade die erwählten Menschen erleuchtet und mit Gott versöhnt, schenkt uns die allgemeine Gnade, was wir zum Leben benötigen und begrenzt die sündhaften und destruktiven Mächte dieser gefallenen Welt. Von der allgemeinen Gnade profitieren also alle Menschen. Gott versprach im Noahbund, die Erde trotz der Bosheit der Menschen zu erhalten (vgl. Gen 8,21). „Solange die Erde währt, sollen nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht“ Gen 8,22). Gott „lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“ (Mt 5,45). Die allgemeine Gnade gibt den Ebenbildern Gottes das Mandat für die Erforschung und Gestaltung dieser Welt. Für die Christen heißt das, dass sie zusammen mit den Heiden kulturschaffend tätig sind. Sie arbeiten, sie engagieren sich für Gerechtigkeit und Wohlfahrt, sie sind künstlerisch tätig oder treiben Sport. All das verbindet sie nicht nur mit den Christen, sondern auch mit ihren ungläubigen Freunden und Nachbarn, deren Leistungen sie wertschätzen. Eine besondere Stellung räumte Kuyper übrigens der Wissenschaft ein, indem er sie in der Schöpfung ansiedelte. „Ohne Sünde“, schrieb Kuyper, „gäbe es weder einen Staat noch die christliche Kirche, aber die Wissenschaft“ (Wisdom & Wonder, Grand Rapids, Michigan, 2011, S. 35). 
 
Im niederländischen Protestantismus erntete der Neo-Calvinismus mitunter scharfe Kritik. Kuyper wurde und wird vorgeworfen, er habe das reformierte Christentum von der überlieferten reformierten Theologie entfremdet. Tatsächlich veränderte sich unter ihm das „reformierte Selbstverständnis“. 
 
Kuyper verlor beispielsweise vertraute Mitstreiter, als er eine Korrektur des Niederländischen Glaubensbekenntnisses (lat. Confessio Belgica) einforderte. Er störte sich am Artikel 36, wo zur Bestimmung des Staates gesagt wird, dass dieser nicht nur für die bürgerliche Verfassung zu sorgen hat, sondern auch darum bemüht sein soll, „dass der Gottesdienst erhalten werde, aller Götzendienst und falscher Gottesdienst entfernt werde, das Reich des Antichrists zerstört, Christi Reich aber ausgebreitet werde. Endlich ist es ihres Amtes zu bewirken, dass das heilige Wort des Evangeliums überall gepredigt werde und dass jeder Gott auf reine Weise nach Vorschrift seines Wortes frei verehren und anbeten könne“. Kuyper sah hier eine unzulässige Verknüpfung von Staat und Kirche und deshalb eine Verletzung der „Souveränität im eigenen Kreis“. Er war überzeugt, dass Familie, Staat und Kirche jeweils eigene Domänen sind, die sich gegenseitig nicht „hineinregieren“ sollten. R. S. de Bruïne (1869–1941) hat diese kuypersche „Sphärensouveränität“ einmal markant formuliert: „Es ist unsere Überzeugung, dass es nicht zur Berufung des Staates gehört, das soziale Leben von oben zu kontrollieren und es in vorgefertigte Bahnen zu pressen … Wir unterscheiden mehrere Kreise: den Staat, die Gesellschaft, die Kirche und die Familie, um nur einige zu nennen. Diese haben alle ihre eigene Natur, ihre eigene Autorität und Verantwortung. (zitiert nach: Joop M. Roebroek, The Imprisoned State, 1993, S. 55). Für Kuyper war es unerträglich, wenn der Staat kirchliche Aufgaben übernahm oder die Institution Kirche versuchte, Politik zu machen. Seine Bemühungen, die Korrektur des Artikels durchzusetzen, traf auf harten Widerstand (vgl. dazu: Peter Heslam, Creating a Christian Worldview: Abraham Kuyper‘s Lectures on Calvanism, 1998, S. 162–164). Schlussendlich wurde die Passage 1905 von den Reformierten Kirchen aber aus dem Bekenntnis gestrichen (Dirk van Keulen, „Der niederländische Neucalvinismus Abraham Kuypers“, S. 356). 
 
Noch ein Beispiel: Vor Kuyper bestritten die Reformierten zwar nicht, dass Christen den Auftrag haben, Gesellschaft zu gestalten. Betont wurde aber vor allem die Erlösung von Sündern. Die Predigten befasste sich meist mit den großen biblischen Themen wie Buße, Glaube, Wiedergeburt, Rechtfertigung, Heiligung usw. Durch Kuyper verschob sich der Schwerpunkt hin zur Weltverantwortung. Die Frage, was der Heilige Geist in den Herzen der Sünder durch das Wort wirkt, wurde zwar nicht ausgeblendet, aber oft von dem überlagert, was Christen tun sollten, um Gesellschaft und Kultur zu prägen (vgl. Cornelius Pronk, „Neo-Calvinism“, S. 49). 
 
Gern wird Kuyper deshalb heute für die sogenannte „transformative Kulturauffassung“ oder „Gesellschaftstransformation“ in Anspruch genommen. Demnach sind Christen dazu beauftragt, sich in gesellschaftliche Prozesse einzumischen und diese auf Mikro-, Meso- und Makroebene zu verändern. Ist diese Vereinnahmung von Kuyper berechtigt? Ja und nein. Tatsächlich wollte Kuyper den Protestantismus entprivatisieren und entwickelte eine „öffentliche Theologie“, die viele neue Anstöße für die parteiische Einmischung und Weltverantwortung lieferte. 
 
Damit überwand er die von Immanuel Kant (1724–1804) angestoßene und noch heute gefragte Aufspaltung der Vernunft in einen öffentlichen und einen privaten Gebrauch. Es bedürfe der Freiheit, „von seiner eigenen Vernunft in allen Stücken öffentlich Gebrauch zu machen“, sagte Kant (Kant, „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, 1974, S. 11). Er kontrastiert den öffentlichen Gebrauch der Vernunft mit dem privaten. Unter öffentlichem Gebrauch versteht er „denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht“ (Ibid., S. 9). Der Privatgebrauch der Vernunft könne dagegen eingeschränkt sein (Ibid., S. 11). Kuyper holte den Glauben, der sich auf Offenbarung berief, wieder
in den öffentlichen Diskurs zurück. Sein Ansatz hob dabei entschieden vom liberalen Kulturprotestantismus ab, der Evangelium und Kultur durchmischte. Zugleich unterschied er – wie oben bereits angesprochen –, scharf zwischen allgemeiner und rettender Gnade. Um es anders auszudrücken: Kuyper verwechselte die Erhaltungsethik nicht mit dem Aufbau von Gottes Reich. Darum wissend, dass das geistliche Reich nicht von dieser Welt ist (vgl. Joh 18,36), schrieb er (A. Kuyper, „Common Crace“ zitiert aus: David VanDrunen, Natural Law and The Two Kingdoms, 2010, S. 295):
 
Wir müssen zwischen zwei Dimensionen dieser Manifestation der Gnade unterscheiden. 1.a. eine rettende Gnade, die am Ende Sünde abschafft und ihre Folgen vollständig rückgängig macht; und 2. eine zeitliche zurückhaltende Gnade, die die Wirkung der Sünde abmildert und aufhält. Die erste … ist ihrer Natur nach eine besondere und auf die Auserwählten Gottes begrenzt. Die zweite … erstreckt sich auf das gesamte menschliche Leben.
 
Die Frucht der besonderen Gnade, die Menschen mit Gott durch Jesus Christus versöhnt, war eindeutig das Herzensanliegen von Kuyper (vgl. S.U. Zuidema, Common Grace und Christian Action in Abraham Kuyper, S. 6). Die Kirche als Institution sollte deshalb treu das Evangelium verkündigen. Kulturpräsenz wird erreicht, da die Kirche als Organismus in der Welt wohnt.
 
Kuypers Wirkung ist ambivalent. Er stärkte das nachmoderne Christentum auf dem Weg zu einem kulturpräsenten Christsein und inspirierte herausragene christliche Vordenker, unter ihnen Herman Bavinck (1854–1921), Hermann Dooyeweerd (1894–1977), Hans Rookmaaker (1922–1977) oder Francis Schaeffer (1912–1984). Doch auch Bewegungen wie der „Christian Reconstructionism“ von Rousas J. Rushdoony (1916–2001) und Greg L. Bahnsen (1948–1995) oder der „shalom-Neo-Calvinismus“, wie er von Alvin Plantinga (* 1932) und Nicholas Wolterstorff (* 1932) vertreten wird, sind von Kuyper inspiriert. Interessanterweise ist der „Christian Reconstructionism“ anti-sozialistisch ausgerichtet und hebt die „Antithese“ zwischen christlichem und weltlichem Denken heraus (vgl. dazu: Thomas Schirrmacher, Anfang und Ende von Christian Reconstruction (1959–1995), 2001). Der „shalom-Neo-Calvinismus“ ist demgegenüber sozialistischen Idealen aufgeschlossen und neigt dazu, die Immanenz Gottes und die Kontinuität zwischen der jetzigen und der zukünftigen Welt zu idealisieren (vgl. dazu: Williams Dennison, „Dutch Neo-Calvinism and the Roots for Transformation“, JETS 42 (1999), Nr. 2, S. 271–291). Gelegentlich wird von den „Transformisten“ deshalb eingestanden, dass sie sich mehr mit dem Beispiel als mit den inhaltlichen Anliegen des niederländischen Theologen identifizieren (z.B. Phillip Morgen, „Abraham Kuyper: Christ Transforming Culture, Helwys Society Forum, URL: http://www.helwyssocietyforum.com).
 
Alles in allem leitete Kuyper vor ungefähr einhundert Jahren eine notwendige und begrüßenswerte Renaissance des reformierten Denkens ein. Wir dürfen dankbar sein, dass er die christliche Weltdeutung aus der Defensivhaltung herausführte und zahlreiche Christen ermutigte, den ideologischen Götzendienst des Modernismus zu dekonstruieren und christliches Denken einzuüben. Wer Jesus Christus nachfolgt, sieht die ganze Welt mit anderen Augen. Wir können und sollten viel von ihm lernen.
 

Tim Keller: Die Schönheit Gottes

Tim Keller hat kürzlich in Berlin auf einer Konferenz gesprochen und am 23. Oktober über das Thema »Die Schönheit Gottes: Veränderung durch Gnade« (Psalm 27) im »Berlinprojekt« gepredigt.

Hier ein Mitschnitt der Predigt (leider ohne Übersetzung):

[podcast]http://www.berlinprojekt.com/downloads/2011-10-23_ps27_veraenderung_t-keller.mp3 [/podcast]

Zur Gestalt des Christlichen

Ein kluger Theologe lese christliche Ratgeberliteratur der Gegenwart und messe sie an diesem Lutherzitat (geschrieben 1525 an Erasmus):

Die von dir beschriebene Gestalt des Christlichen enthält unter anderem Folgendes: Wir sollen uns mit allen Kräften anstrengen, das Heilmittel der Buße erstreben und auf jede Art und Weise das Erbarmen des Herrn anstreben, ohne das weder der menschliche Wille noch eine Bemühung wirksam sind. Ebenso soll niemand zweifeln an der Vergebung Gottes, der von Natur aus grundgütig ist. Diese deine Worte sind ohne Christus, ohne Geist, kälter als selbst das Eis; sogar deine Beredsamkeit, sonst deine Zierde, leidet Schaden – diese [Worte] hat dir Armem vielleicht gerade noch die Angst vor Bischöfen und Tyrannen ausgepresst, um nicht völlig gottlos zu erscheinen. Das aber behaupten deine Worte doch als Wahrheit: Es gebe in uns Kräfte; es gebe eine Anstrengung aus allen Kräften; es gebe ein Erbarmen Gottes; es gebe Wege, das Erbarmen anzustreben; es gebe einen Gott, der von Natur aus gerecht, von Natur aus grundgütig ist usw. Wenn also einer nicht weiß, was jene Kräfte sind, was sie vermögen, was sie erleiden, welche Anstrengung ihnen eigen ist, was ihre Wirksamkeit, was ihre Unwirksamkeit ist – was wird der tun? Was wirst du ihn zu tun lehren?

Luther: Gnade ist notwendig unverdient

Martin Luther sagte zur Disputionsfrage über die Kräfte und den Willen des Menschen ohne Gnade (1516):

Joh 15: »Ohne mich könnt ihr nichts tun.« Desgleichen: »Niemand kann zu mir kommen, wenn es ihm nicht von meinem Vater gegeben wird.« Der Apostel [sagt] 1Kor 4: »Was hast du denn, das du nicht empfangen hast?« Und durch viele andere [Stellen] des Neuen und Alten Testaments wird schlüssig so gelehrt, am meisten durch den Propheten Hesekiel, wo Gott geradezu sagt, er lasse sich durch keine guten Verdienste der Menschen veranlassen, sie gut zu machen, als gehorchten sie seinen Geboten; sondern vielmehr vergelte er ihnen Gutes für Böses und tue dies um seiner selbst willen, nicht um ihretwillen. Er sagt nämlich: »Das sagt der Herr dein Gott: ›Das werde ich dem Haus Israel um meines heiligen Namens willen tun, den ihr entheiligt habt unter den Heiden‹.« Und nach vielen Worten des Propheten folgt: »Nicht euretwegen tue ich das, spricht Gott der Herr, damit ihr es nur wisst.« Aus diesen [Aussagen] allen [folgert] St. Augustinus, der Verteidiger der Gnade, zusammen mit dem heiligsten Apostel, dem Prediger der Gnade, dass es nicht an des Menschen Wollen und Laufen liege, sondern am Erbarmen GOTTES, der Strafe nur auferlegt, wenn sie verdient ist, Erbarmen hingegen nur, wenn es unverdient ist. Folglich werden Verdienste, die der Gnade vorangehen, hinfällig und nichts sein. Notwendigerweise bleibt also der Mensch ohne Gnade ein Sohn des Zornes, weil es allein die Söhne GOTTES sind, die vom Geist GOTTES getrieben werden.

Augustinus: Lehrer der Gnade (Teil 8 – Schluss)

Augustinus legt den Schwerpunkt seines Schreibens anschließend auf die Kindertaufe, um zu demonstrieren, dass Gott die Person nicht ansieht. Ich gebe hier nur noch einen Auszug zur Gnadenwahl und den Briefschluss wieder (372–373 u. 378–379):

Dass aber die Gnadenwahl ohne vorausgehende verdienstliche Werke geschieht, zeigt der Apostel an einer anderen Stelle ganz deutlich mit den Worten: »So sind also in dieser Zeit die Übriggebliebenen nach Gnadenwahl gerettet worden. Wenn aber durch Gnade, dann nicht durch Werke; sonst ist die Gnade nicht mehr Gnade« (Röm 11,5f). Im Hinblick auf diese Gnade führt er folgerichtig auch ein prophetisches Zeugnis an, indem er sagt: »Wie geschrieben steht: Den Jakob habe ich geliebt, den Esau aber gehasst«, und sagt weiter: »Was werden wir also sagen? Ist etwa Ungerechtigkeit bei Gott? Das sei fern!« (Röm 9,13.16). Warum soll dies ferne sein? Etwa wegen der zukünftigen Werke beider, die Gott vorauswusste? Nein, auch dies sei ferne! »Denn zu Moses spricht er: ›Ich werde mich erbarmen, wessen ich mich erbarmt haben werde, und Barmherzigkeit verleihen, wem ich barmherzig gewesen sein werde.‹ Deshalb ist es nicht Sache dessen, der will oder läuft, sondern des sich erbarmenden Gottes« (Röm 9,15f). Und damit an den Gefäßen, die zu dem der verdammten Masse gebührenden Verderben bereitet sind, die aus dem­selben Stoffe zur Ehre bereiteten Gefäße erkennen möchten, was die göttliche Barmherzigkeit ihnen verliehen habe, darum sagt er: »Denn es spricht die Schrift zu Pharao: Darum habe ich dich aufgestellt, um an dir meine Macht zu erweisen, damit mein Name auf der ganzen Erde verherrlicht werde« (Röm 9,17) 93 Endlich zieht er den Schluss mit Rücksicht auf beide: »Also wessen er will, erbarmt er sich, und wen er will, verhärtet er« (Röm 9,18). So tut derjenige, bei dem keine Ungerechtigkeit sich findet. Er erbarmt sich aus unverdienter Gnade, verhärtet aber nach gerechtem Urteil.

Aber es könnte noch ein stolzer Ungläubiger in seinem Hochmut oder ein verdammungswürdiger Bestrafter zu seiner Entschuldigung sprechen: »Warum klagt er also? Denn wer widersteht seinem Willen?« So mag er sprechen, aber er höre auch, was für den Menschen sich geziemt: »O Mensch, wer bist du, dass du Gott zur Rede stellest« (Röm 9,20) usw., wovon ich schon genügend und öfters, so gut ich es konnte, gehandelt habe. Er soll also dies hören und es nicht gering anschlagen. Wenn er es nun gering anschlägt, so erkenne er auch in dieser Geringschätzung seine Verhärtung; wenn er es aber nicht gering anschlägt, so glaube er, dass ihm auch dazu die Gnade gegeben worden sei, dass er dies nicht gering anschlug. Verhärtet aber ist er durch eigene Schuld, gerettet durch die Gnade.

Verzeihe mir, wenn diese Abhandlung zu umfangreich ist und dir bei deinen Geschäften zur Last fällt! Denn auch ich habe gewaltsam meine Geschäfte unterbrochen, um dir dies zu schreiben und, angeregt durch deine Briefe, die dein Wohlwollen gegen uns verraten, mit dir diese Dinge zu besprechen. Wenn ihr etwa wisset, dass diese Leute noch andere Dinge gegen den katholischen Glauben aussinnen, so teilet es uns mit; benachrichtigt uns auch, was ihr eurerseits mit treuer, echter Hirtenliebe gegen sie zur Geltung bringet, damit sie nicht in der Herde des Herrn das Schwache zugrunde richten. Durch das unruhige Treiben der Irrlehrer wird ja unser Eifer sozusagen aus trägem Schlafe auferweckt, so dass wir mit größerer Sorgfalt die Heilige Schrift durchforschen, um ihnen entgegentreten zu können, wenn sie dem Schafstalle Christi Schaden zufügen wollen. So lässt uns Gott durch die vielfältige Gnade des Erlösers zur Hilfe gereichen, was der Feind zu unserem Verderben ins Werk setzt; denn »denen, die Gott lieben, gereichen alle Dinge zum Besten« (Röm 8,28).

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