J.I. Packer schreibt über das mangelhafte Verständnis der Gnade Gottes innerhalb der Kirche (Gott erkennen, 2019, S. 153–154):
Es ist in allen christlichen Gemeinderichtungen üblich, den christlichen Glauben als eine „Religion“ der Gnade zu bezeichnen. Innerhalb der christlichen Lehre gilt es als ein festes Bekenntnis, dass die Gnade Gottes ein persönliches Handeln Gottes ist und keine mystische Kraft, nicht eine Art „himmlischer Elektrizität“, die man erhält, sobald man den „geistlichen Stecker“ an die Sakramente anschließt. Gottes Gnade bedeutet, dass Gott mit seinem Volk in Liebe handelt.
In verschiedenen Büchern und Predigten wird immer wieder hervorgehoben, dass das neutestamentliche griechische Wort für Gnade (charis), wie das Wort für Liebe (agape), einen christlichen Ursprung hat. Das Wort umschreibt eine unabhängige, selbstbestimmte Güte, und war in der griechisch-römischen Kultur und Theologie bis dahin völlig unbekannt. Es sollte zum Grundwissen eines jeden Christen gehören, dass die Gnade Gottes Reichtum auf Kosten des Opfers Jesu ist. Und doch scheint es so, als gäbe es nicht viele in unseren Gemeinden und Kirchen, die wirklich an Gottes Gnade glauben.
Aber es gab immer wieder einige, die den Gedanken an Gottes Gnade so überwältigend fanden, dass sie nicht anders konnten, als stets von dieser Gnade zu sprechen und Gott dafür zu loben. So sind einige der schönsten Loblieder entstanden – und es bedarf wirklich einer tiefen Begeisterung, um ein Loblied zu schreiben, das über Generationen hinweg in den Gemeinden gesungen wird. Sie haben für die Gnadenlehre Gottes gekämpft, ertrugen Spott und zahlten oft einen hohen Preis für ihre Einstellung. Da ist zum Beispiel Paulus, der diese Lehre gegen die Judaisten verteidigte, Augustinus, der sie vor Pelagius rechtfertigte oder die Reformatoren, die Gottes Gnade vor den Scholastikern verteidigten, und viele nach ihnen folgten ihrem Beispiel. Sie alle hielten sich an das Bekenntnis „Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin“ (1 Kor 15,10), und ihr Lebensmotto lautete: „Ich erkläre Gottes Gnade nicht für ungültig“ (Gal 2,21; eÜ).
Doch leider trifft dies auf die meisten Namenschristen nicht zu. Gottes Gnade ist bei ihnen bloß ein Lippenbekenntnis. Es ist sicherlich keine Übertreibung, wenn wir sagen, dass sie gar keine Vorstellung von der Gnade Gottes haben. Der Gedanke daran bedeutet ihnen nichts und hat daher auch keinerlei Einfluss auf ihr Leben. Man kann mit ihnen über die Raumtemperatur des Gottesdienstraumes reden oder über die Bilanzen des letzten Jahres, doch kommt man auf die Wahrheiten zu sprechen, die der Begriff Gnade beinhaltet, stößt man auf Zurückhaltung und Verständnislosigkeit. Zwar würden sie niemals behaupten, dass unsere Worte sinnlos wären, und die meisten von ihnen würden auch nicht infrage stellen, dass sie irgendeine Bedeutung haben. Doch sie merken, dass das, was wir sagen, außerhalb ihres Erfahrungsschatzes liegt, und je länger sie ohne diese Erfahrung leben, umso sicherer sind sie, dass sie diese auch nicht nötig haben.
Wenn einer von sogenannten Namenschristen redet, ist er genau so unterwegs wie solche, die die meisten Frommen des Fundamentalismus bezichtigen.
Was Versöhnlicheres zum Jahresabschluss wäre irgendwie auch schön 🙂
@Alex aus Cloppenburg: Das musst Du dann mit Jesus klären. Bekanntlich geht ja der Begriff „Namenschristen“ auf ein Konzept zurück, das schon von ihm gelehrt wurde; vgl. z.B. Mt 7,21-23.
Liebe Grüße, Ron
@Ron:
Ob Packer solche „Namenschristen“ gemeint hat, die von sich behaupteten, Dämonen ausgetrieben oder Wunder getan zu haben?…oder hat der Herr solche wie Packer und viele andere (mich selber natürlich eingeschlossen) vor der Lieblosigkeit gewarnt? (Matthäus 25)
Dass sich Leute immer so sicher sein müssen, dass das „Weichet von mir“ nur den anderen vorbehalten sein wird.