Was Eric Gujer, der Chefredaktor der NZZ hier schreibt, verdient Beachtung:
Die Entwicklung ist unfreiwillig komisch. Je mehr sich der Westen bemüht, alle identitätspolitischen Verästelungen anzuerkennen, sämtliche Privilegien und sein Weiss-Sein abzustreifen und obendrein auch den globalen Süden zu seinem Recht kommen zu lassen, umso mehr macht er sich in globaler Perspektive zum Sonderfall.
Nicht nur Putin hält Europa aus leicht durchschaubaren Motiven für dekadent. Auch Afrikanern und Asiaten ist der entgrenzte Individualismus suspekt. Identität und Sexualität sind die neuen Trennlinien, die Gesellschaften weltweit scheiden. Je religiöser eine Nation ist, umso weniger kann sie mit einer selbstbestimmten, von hergebrachten Zwängen befreiten Sexualität anfangen. Das gilt besonders für Muslime, aber nicht nur für sie.
Die Gesellschaftspolitik der Ampelkoalition drängt Tradition und Konvention weiter zurück. Die Ehe diffundiert zur «Verantwortungsgemeinschaft», die Geschlechter verschwinden im Nebel der Selbstzuschreibungen. Deutschland ist damit keine Ausnahme. Der Westen insgesamt macht sich noch stärker zur Abweichung von der Regel. Umso mehr muss er seinen Sonderfall verteidigen können. Dafür braucht er aber Zusammenhalt und stabile Mehrheiten. Vielleicht ist das die kürzeste Definition für den Westen: Er ist ein einziges grosses Paradox.
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