April 2012

Die dunkle Seite der Kindheit

Der Kinder- und Jugendarzt Rainer Böhm hat heute einen ausgezeichneten und kämpferischen Artikel in der FAZ publiziert. Tenor: Die Familienpolitik wird mit ihrer Krippenoffensive den Kindern nicht gerecht. Gewissenhafte und umfängliche Studien belegen, dass Kleinkinder in den Krippen enormem Stress ausgesetzt sind (der sich am Cortisol-Spiegel ablesen lässt). Die Folgen für die Kinder sind kaum zu unterschätzen:

Am beunruhigendsten war indes der Befund, dass Krippenbetreuung sich unabhängig von sämtlichen anderen Messfaktoren negativ auf die sozioemotionale Kompetenz der Kinder auswirkt. Je mehr Zeit kumulativ Kinder in einer Einrichtung verbrachten, desto stärker zeigten sie später dissoziales Verhalten wie Streiten, Kämpfen, Sachbeschädigungen, Prahlen, Lügen, Schikanieren, Gemeinheiten begehen, Grausamkeit, Ungehorsam oder häufiges Schreien. Unter den ganztags betreuten Kindern zeigte ein Viertel im Alter von vier Jahren ein Problemverhalten, das dem klinischen Risikobereich zugeordnet werden muss. Später konnten bei den inzwischen 15 Jahre alten Jugendlichen signifikante Auffälligkeiten festgestellt werden, unter anderem Tabak und Alkoholkonsum, Rauschgiftgebrauch, Diebstahl und Vandalismus. Noch ein weiteres, ebenfalls unerwartetes Ergebnis kristallisierte sich heraus: Die Verhaltensauffälligkeiten waren weitgehend unabhängig von der Qualität der Betreuung. Kinder, die sehr gute Einrichtungen besuchten, verhielten sich fast ebenso auffällig wie Kinder, die in Einrichtungen minderer Qualität betreut wurden. Grundsätzlich zeigte sich aber, dass das Erziehungsverhalten der Eltern einen deutlich stärkeren Einfluss auf die Entwicklung ausübt als die Betreuungseinrichtungen.

Fazit des FAZ-Artikels (vom 04.04.2012, Nr 81, S. 7):

Chronische Stressbelastung ist im Kindesalter die biologische Signatur der Misshandlung. Kleinkinder dauerhaftem Stress auszusetzen, ist unethisch, verstößt gegen Menschenrecht, macht akut und chronisch krank. Ein freiheitlicher Staat, der frühkindliche Betreuung in großem Umfang fördert, ist verpflichtet nachzuweisen, dass Kleinkinder keine chronische Stressbelastung erleiden. Das staatliche Wächteramt gebietet, eine Gefährdung des Kindeswohls gerade in öffentlichen Institutionen auszuschließen. Der Gesetzgeber sollte daher von seinen derzeitigen Planungen Abstand nehmen, ein Recht auf außerfamiliäre Betreuung ab dem ersten Geburtstag einzuführen.

Es lohnt sich heute, die Druckausgabe zu kaufen.

Kinderkult: Wider die Tyrannei der Intimität

Wenn Kinder groß werden, kämpfen Eltern meist mit Trennungsschmerzen. Die Buchautorinnen Eva Gerberding und Evelyn Holst raten aber zur Gelassenheit und warnen vor einem zu großen Kinderkult:

Auch der Psychologe Oskar Holzberg forderte in einem Interview für „Brigitte woman“, dass Eltern mit dieser „Tyrannei der Intimität“ aufhören müssen. „Diesen viel zu großen Kinderkult, die oft panische Überbewertung jeder Eigenbewegung, die daraus resultiert, dass fatalerweise nur eine enge Beziehung zu unseren Kindern als gut gelebtes, verwirklichtes Leben gilt.“ Genau so verhalten wir uns nämlich. Wir schämen uns, wenn die Beziehung zu unseren Kindern nicht so eng ist, wie wir es gern hätten. Wir beneiden Freunde und Verwandte, bei denen es anscheinend anders ist.

Stopp! Schluss mit dem Selbstmitleid! Wir müssen endlich aufhören, unsere Kinder als allein selig machende Glücksgaranten zu sehen.

Quelle: www.welt.de.

Satan kam doch nicht bis Washington

Jan-Werner Müller lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte in Princeton. In einem Beitrag für die SZ befasst er sich mit der Vermischung von Kanzel und Politik in der USA:

Die Sozialwissenschaftler Robert Putnam und David Campbell haben kürzlich plausibel erklärt, die Verquickung von Religion und Politik in den vergangenen dreißig Jahren stelle eine Anomalie in der Geschichte der USA dar – die vielen Amerikanern ganz und gar nicht gefällt. Eine überwältigende Mehrheit wünscht, dass Predigten nicht für politische Messages missbraucht werden.

Die Republikaner sind in der Tat zur Partei der Evangelikalen geworden (deren Zahl seit den frühen neunziger Jahren stetig sinkt) – was allerdings auch bewirkt, dass sich vor allem immer mehr junge Bürger von allen Glaubensgemeinschaften abwenden. Die Generation der Zwanzig- bis Dreißigjährigen, so Putnam und Campbell, sei toleranter und setze inzwischen Religion als solche mit Bigotterie – vor allem Homophobie – und Fanatismus gleich. Die beiden Sozialwissenschaftler meinen somit nicht nur, dass eine Vermischung von Politik und Kirche der Religion schade, sondern dass politische Präferenzen religiöse Einstellungen entscheidend beeinflussten: nicht Atheisten wählen Demokraten, sondern Linksliberale haben irgendwann alles Religiöse satt.

Mehr: www.sueddeutsche.de.

Wissen, um zu glauben?

Wenn die Zeitschrift chrismon im Briefkasten liegt, wird ab und an ein Anstoß frei Haus mitgeliefert. Gestern war wieder etwas dabei. Burkhard Weitz fragt, ob man etwas wissen muss, um zu glauben („Was muss man wissen, um zu glauben?“, chrismon, April 2012, S. 22–23). Wissen muss man als Nachfolger Jesu eigentlich nichts, gibt es zu lesen:

Die ersten Christen kamen ohne ­religiöses Wissen aus, ohne komplizierte Lehren, ohne lange Bekenntnisse. Sie folgten dem Beispiel Jesu. Glauben hieß für sie, in Jesu Liebe beständig zu bleiben. Sie waren überzeugt, dass Jesus der Chris­tus, also der Messias sei und als gnädiger Weltenrichter wiederkehren werde. In den Sprachen der Bibel ist „glauben“ gleichbedeutend mit „treu sein“ und „vertrauen“. Glauben ist eine Haltung – wie Liebe und Hoffnung (1. Korinther 13). Biblischer Glaube richtet sich nicht auf Lehrsätze oder Dogmen, die man sich merken oder für wahr halten kann.

Sehen wir mal davon ab, dass schon die Erklärung von Glaube als purem Vertrauen ziemlich gehaltvoll ist (und erst: „Jesus ist der Messias“) und betrachten das Problem mit Hilfe der aus der lutherischen Orthodoxie stammenden Unterscheidung von den drei Ebenen des Glaubens (vgl. Abb.).

Die erste Ebene ist notitia, die Kenntnis eines Glaubensinhaltes. Natürlich hatten die ersten Christen Gemeinschaft miteinander, sie beteten und feierten das Herrenmahl. Aber ihre liebevoll gelebten Beziehungen waren schon damals getragen von einer konkreten Lehre, der sie gehorsam folgten. Sie hielten fest an „der Lehre der Apostel“. Der griechische Begriff didache, den Lukas in Apg 4,42 verwendet, steht schon in der Apostelgeschichte und eindeutig in den Pastoralbriefen (vgl. z. B. 2Tim 4,2 u. Tit 1,9) für eine Lehrüberlieferung mit bewertbaren Inhalten. Genau solche Inhalte nennen wir auch Propositionen. Propositionen sind Objekte mentaler Aktivitäten wie Wollen, Glauben oder Hoffen. Sätze oder Aussagen mit propositionalem Gehalt sind prüfbar, können war oder falsch sein. Die Apostel unterschieden zwischen wahren und falschen Glaubensinhalten, zwischen ungesunden Lehren und der heilsamen Lehre (vgl. Röm 16,17). Eine falsche Lehre steht im Widerspruch zu dem, was Gott denkt und offenbart hat. Die Apostel verkündigten die Lehre des Christus, (2Joh 10), die klar und scharf gegenüber fremden Lehren abgegrenzt werden kann (vgl. Hebr 13,9). Sie waren beispielsweise davon überzeugt, dass der Gott, dem sie sich anvertraut haben, nicht lügt (vgl. Tit 1,2 u. Hebr 6,18) oder Jesus Christus im Fleisch gekommen ist (2Joh 9). Menschen, die diese Propositionen ablehnten, waren in ihren Augen falsche Propheten.

Die drei Ebenen des Glaubens aus Sicht der lutherischen Orthodoxie.

Die zweite Ebene des Glaubens ist assensus, die Bejahung oder Annahme bestimmter Inhalte. Jemand, der einem Sachverhalt zustimmt, bekundet sein Interesse und Einverständnis mit dem, was er sachlich wahrgenommen hat. Stellen wir uns vor, wir interessierten uns für die Frage, ob Jesus Christus tatsächlich gelebt habe. Wir würden kritische und apologetische Bücher studieren, die sich mit der Frage des historischen Jesus befassen. Irgendwann formulierten wir dann ein Ergebnis unserer Untersuchungen. Das, was wir als Resultat unserer Bemühungen präsentierten, und sei es das zurückhaltende Bekenntnis „Wir können nichts genaues dazu sagen!“, fände unsere Zustimmung. Wir hielten das, was wir ausgearbeitet hätten, für annehmbar und vertrauenswürdig.

Die dritte Ebene, fiducia, ist das Gottvertrauen, der persönlich gelebte Glaube. Wenn das Vetrauen fehlt, ist das sehr schade. Doch keine der drei Ebenen des Glaubens darf fehlen! „Man kann Gott nicht anerkennen (= assensus), ohne ihn zu kennen (= notitia). Man kann Gott nicht vertrauen (= fiducia), ohne ihn anzuerkennen (= assensus). Oder man könnte auch sagen: Das (Gott)Gehören (= fiducia) setzt ein Gehorchen (= assensus), das Gehorchen ein Anhören (= notitia) voraus“ (Horst-Georg Pölmann, Abriß der Dogmatik, 1985, S. 84). Der Gläubige soll nicht glauben, weil er Ungewusstes und Unverstandenes auf die Autorität der Kirche hin glaubt, sondern weil er sich darüber klar ist, woran er glaubt.

Leidenschaft ohne Rückbezug auf eine über- und durchdenkbare propositionale Lehrbasis kann die Lüge sein. Die Apostel, die das Evangelium verkündet haben, wussten das. Sie sind nicht ausgeklügelten Fabeln gefolgt (vgl. 2Petr. 1,16), sondern der Wahrheit (vgl. Joh 14,6; 2Tim 4,4). Dass die Wahrheit nach biblischem Zeugnis eine Person ist, suspendiert nicht die Glaubwürdigkeit dessen, was die Person sagt (siehe dazu auch hier).

Interview mit Greg Beale

Mark Dever hat kürzlich mit Greg Beale über Biblische Theologie gesprochen. Das Interview startet ziemlich amerikanisch (und bleibt es stellenweise), entwickelt sich allerdings mitunter auch substanziell. Es ist interessant, was Beale über seine theologische Entwicklung, die Eschatologie (!) und andere Autoren sagt.

[podcast]http://media.9marks.org/audio/interview20120401-Beale.mp3[/podcast]

Johann Heinrich Jung-Stilling

stilling.jpegDer ERF hat zum 195. Todestag von Johann Heinrich Jung-Stilling kurz über das Leben des aufgeklärten Pietisten berichtet. Hier ein Mitschnitt:

[podcast]http://www.erf.de/data/files/content.sources.r.gedenktag/259134.mp3[/podcast]

Wer sich dafür interessiert, wie Jung-Stilling das Leben von Jesus Christus gesehen hat, findet in dem Aufsatz des Pfarrers i.R. Martin Völkel einen ersten Zugang (aus gemäßigt kritischer Sicht).

Dort habe ich auch ein schönes Zitat von Johann Heinrich Jung-Stilling gefunden (Der graue Mann, S. 211-212):

Am allerschädlichsten sind nun solche Schriften, die unter dem Schein der Religion sie selbst untergraben: die mit den scheinbarsten Vernunftsgründen beweisen, daß die heilige Schrift nicht göttliche Offenbarung sey, daß es überhaupt keine göttliche Offenbarung außer der Natur geben könne, daß Christus bloß ein gemeiner, aber weiser Mann gewesen sey, daß er am Kreuz nicht gestorben, sondern nur ohnmächtig geworden und am dritten Tag des Morgens früh von seinen Jüngern weggebracht worden sey.

Übrigens zählte Nietzsche den Siegerländer Jung-Stilling zu den lesenswerten deutschen Schriftstellern (Menschliches, Allzumenschliches, § 109):

Wenn man von Goethe’s Schriften absieht und namentlich von Goethe’s Unterhaltungen mit Eckermann, dem besten deutschen Buche, das es giebt: was bleibt dann eigentlich von der deutschen Prosa=Litteratur übrig, das es verdiente, wieder und wieder gelesen zu werden? Lichtenberg’s Aphorismen, das erste Buch von Jung=Stillings Lebensgeschichte, Adalbert Stifter’s Nachsommer und Gottfried Keller’s Leute von Seldwyla, – und damit wird es einstweilen am Ende sein.

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