Hier hat offensichtlich ein klassischer Paradigmenwechsel stattgefunden. Es wäre ehrlich, wenn Plasger, Bohl und andere zugeben würden, dass die ernsthaften Theologen der Vergangenheit wie Calvin und Bullinger in der Zürcher Übereinkunft (1541) noch ganz anders formulieren konnten: „Er [Christus] ist zu betrachten als ein Sühnopfer, durch welches Gott versöhnt ist mit der Welt.“ Und niemand anders als Karl Barth wusste noch zu sagen:
„Jesus hat den Zorn Gottes ein Leben lang getragen. Mensch-sein heißt vor Gott so dran sein, diesen Zorn verdient zu haben. In dieser Einheit von Gott und Mensch kann es nicht anders sein als dass der Mensch dieser Verdammte und Geschlagene ist… Dazu ist Gottes Sohn Mensch geworden, dass in ihm der Mensch unter Gottes Zorn sichtbar wird… Mensch sein heißt vor Gott so dran sein, wie Jesus dran ist: Träger des Zornes Gottes zu sein. Das gehört uns, das Ende am Galgen! Aber das ist nicht das Letzte: nicht der Aufruhr des Menschen und nicht der Zorn Gottes. Sondern das tiefste Geheimnis ist dies, dass Gott selber in dem Menschen Jesu dem nicht ausweicht, an die Stelle des sündige Menschen zu treten und das zu sein…, was dieser ist, ein Empörer, und das Leid eines solchen zu leiden. Die totale Schuld und die totale Sühne selber zu sein! Das ist es, was Gott in Jesus Christus getan hat.“ (Dogmatik im Grundriß)
Auch die evangelischen Gesangbücher sollten dann besser entschlackt werden, wo es wie in EG 342 („Es ist das Heil uns kommen her“) immer noch heißt: „Doch mußt das Gesetz erfüllet sein, / sonst wärn wir all verdorben. / Drum schickt Gott seinen Sohn herein, / der selber Mensch ist worden; / das ganze Gesetz hat er erfüllt, / damit seins Vaters Zorn gestillt, / der über uns ging allen.“
Heute scheint ein neues Dogma zu herrschen: Bleib mir bloß fern mit dem Zorn Gottes, der gestillt werden müsste! Eine Dogmatik wie die von Eduard Böhl könnte solch ein Denken korrigieren. Der Wiener Professor formulierte Ende des 19. Jahrhunderts noch eindeutig: „So hat denn Jesus zunächst die ganze Zeit seines Lebens auf Erden den gesamten vom Gesetz geforderten Gehorsam Gott dargebracht und zugleich dabei den Zorn Gottes wider die Sünde und alle aus derselben hervorgehenden Strafen getragen.“ Oder: „Hier [auf Golgatha] erreichte der Gehorsam Christi den Gipfelpunkt. Auch hier gab er dem Vater sein Recht, auch hier ertrug er willig den Zorn Gottes wider das Fleisch und die Sünde.“ Christus „erfuhr bis zum äußersten den Zorn Gottes, und der Verdammten schreckliches Los ward seines“. „Und in Gottes Augen… ist auch kein Fluch, kein Verdammungsurteil und kein Zorn mehr vorhanden denen gegenüber, welche er gerecht gesprochen um Christi willen.“
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Nach langer Fahrt auf der richtigen Strecke wird dann doch die falsche Ausfahrt genommen, eine Ausfahrt, die schon F. Sozzini, später J. McLeod Campbell, H. Bushnell, A. Ritschl, C.H. Dodd, V. Taylor, W. Wink und nun S. Chalke, A. Mann, C. Pinnock und B. McLaren genommen haben. Danach hat das Kreuz zuerst und in erster Linie eine Auswirkung auf uns Menschen. Die objektive Basis geht verloren. Bei mehrglauben.de klingt das dann so:
„Es ist also nicht Gott, der dem Menschen feindlich gegenüber steht, sondern der Mensch, der sich gegen Gott und seine guten Gebote, die Leben erst ermöglichen, wendet. Immer dort, wo der Mensch dem Menschen zum Wolf wird, zeigt sich, dass Menschen nichts so sehr brauchen wie Versöhnung. Immer da, wo der Mensch dem Menschen ins Gesicht schlägt, trifft er auch den Schöpfer. Aus dieser feindlichen Haltung heraus muss der Mensch versöhnt werden. In Christus begegnet er dem Menschen und dem Gott, der selbst den Schlag entgegennimmt – und die Verurteilung des Schlägers.“