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Von Alvin Plantinga lernen

Der Philosoph Kelly James Clark beschreibt in einem Artikel, wie er als Student die Vorlesungen von Alvin Plantinga erlebt hat. Platinga hat in der Tat eine Renaissance der Religionsphilosophie in den USA ausgelöst und viele junge Leute dazu animiert, das Fach Philosophie zu studieren. Zu den Studenten zählen etliche bekennende Christen.

Kelly:

I remember that first day of class like it was yesterday. I had enrolled in Notre Dame’s PhD program in philosophy to learn from Alvin Plantinga. The first time I saw him, he strode into the classroom, pulled out a chair, set his feet on the seat and his bottom on the back, rolled up his sleeves, and started lecturing in his deep, resonant voice. As the semester went on, we started taking bets on when he might pitch backward off his precarious position. But he never did. Most of us first-year students, however, weren’t so lucky. Plantinga had such a huge reputation as a philosopher that advanced graduate students and even a few professors were taking his class. Plantinga was already world-famous for his work in the philosophy of religion, metaphysics, epistemology and logic. His high-level conversations with those professors both exhilarated and intimidated us beginners. Perched as we were on the precipice of understanding, we often found ourselves teetering over the edge.Sensing our desperation, Plantinga would shush the professors and then pick up our pieces and put us back together. With patience and good humor, he’d start again, this time at the beginning, and slowly bring us along to greater understanding.

Clarks Buch, Return to Reason: A Critique of Enlightenment Evidentialism and a Defense of Reason and belief in God ist stark von Plantinga geprägt und erhielt irgendwann den Ruf, eine Einführung zu Plantinga für Dummies zu sein.

Plantinga hat übrigens kürzlich den renommierten Templeton-Preis erhalten. Ein Artikel von Plantinga in deutscher Sprache ist hier zu finden: mbstexte184_a_01.pdf.

Gianfranco Schultz: Alvin Plantinga

In einem Vortrag, den Prof. Dr. Gianfranco Schultz 2010 an der STH in Basel gehalten hat, stellte der Philosoph die Grundzüge Reformierte Erkenntnistheorie von Alvin Plantinga vor. Der Vortrag wurde beim ERF veröffentlicht:

 

Alvin Plantingas Hauptwerk in deutscher Sprache

517Ctls mUL SX335 BO1 204 203 200Alvin Plantinga schreibt in seinem Geleitwort zur deutschen Ausgabe von Warrent Christian Belief:

Es versteht sich: Deutsch ist die Sprache der großen Philosophie. Daher habe ich mich zunächst über die Möglichkeit einer deutschen Übersetzung meines Buchs Warranted Christian Belief gefreut, und jetzt bin ich froh darüber, dass das Vorhaben Wirklichkeit geworden ist. (Wer weiß, vielleicht wird das Buch ja in der deutschen Fassung gewinnen.) Hoffentlich wird es den deutschen Lesern von Nutzen sein. Außerdem wäre es schön, wenn die Übersetzung dazu beitragen könnte, dass es bei der Annäherung zwischen der angloamerikanischen und der kontinentaleuropäischen Religionsphilosophie zu Fortschritten kommt. Offensichtlich können wir eine Menge voneinander lernen; und da ist es wichtig, dass wir unsere intellektuellen Ressourcen bündeln und zusammenarbeiten.

Was möchte Plantinga mit dem Buch Gewährleisteter christlicher Glaube eigentlich? Hier ein längeres Zitat aus dem Vorwort:

Dieses Buch lässt sich in zumindest zwei grundverschiedenen Weisen auffassen. Einerseits handelt es sich um ein apologetisches und religionsphilosophisches Unterfangen, nämlich um einen Versuch nachzuweisen, dass eine Reihe von Einwänden gegen den christlichen Glauben fehlschlägt. Dieser Argumentation zufolge sind De-jure-Einwände entweder offensichtlich unplausibel oder sie setzen voraus, dass der christliche Glaube nicht wahr ist. (Zur ersten Kategorie gehören etwa die Einwände, die auf der Behauptung basieren, der christliche Glaube sei nicht gerechtfertigt oder lasse sich nicht rechtfertigen. Zur zweiten Kategorie gehören die Einwände, die auf der These beruhen, dem christlichen Glauben fehle die äußere Rationalität bzw. die Gewähr.) Folglich gibt es keine vertretbaren De-jure-Einwände, die nicht an De-facto-Einwände gebunden wären. Eigentlich hängt also alles von der Wahrheit des christlichen Glaubens ab. Doch damit ist die häufig geäußerte Meinung widerlegt, der christliche Glaube sei intellektuell inakzeptabel – egal, ob er wahr ist oder nicht.

Andererseits jedoch geht es im vorliegenden Buch um christliche Philosophie: um den Versuch, philosophische Fragen – Fragen, wie sie von Philosophen gestellt und beantwortet werden – aus einer christlichen Perspektive zu betrachten und zu beantworten. Für das im 8. und 9. Kapitel vorgestellte erweiterte A/C-Modell nehme ich zweierlei in Anspruch: Erstens zeigt es, dass und inwiefern der christliche Glaube durchaus gewährleistet sein kann, und widerlegt damit eine Reihe von De-jure-Einwänden gegen das Christentum. Außerdem möchte ich je-doch behaupten, dass dieses Modell ein brauchbares Denkgerüst liefert, mit dessen Hilfe Christen an die Erkenntnistheorie des christlichen Glaubens her-angehen können, insbesondere an die Frage, ob und inwiefern das Christentum gewährleistet ist. Demnach gibt es hier zwei Projekte – zwei Argumentationsstränge -, die gleichzeitig entfaltet werden. Das erste dieser beiden Projekte richtet sich an alle – an die Gläubigen ebenso wie an die Ungläubigen. Es soll zu einer fortwährenden öffentlichen Diskussion über die Erkenntnistheorie ihres Glaubens beitragen, ohne sich dabei auf spezifisch christliche Prämissen oder Voraussetzungen zu berufen. Dabei werde ich geltend machen, dass es, von diesem öffentlichen Standpunkt aus gesehen, nicht den geringsten Grund für die Annahme gibt, dem Christentum mangele es an Rechtfertigung, Rationalität oder Gewährleistung – jedenfalls keinen Grund, der nicht die Falschheit des christlichen Glaubens voraussetzt. Das zweite Projekt dagegen – also das Vorhaben, aus christlicher Sicht eine erkenntnistheoretische Darstellung des christlichen Glaubens zu geben – wird für Christen von besonderer Bedeutung sein. Bei diesem Projekt geht man von der Wahrheit des christlichen Glaubens aus und untersucht von diesem Standpunkt aus die Erkenntnistheorie des Christentums, indem man fragt, ob und inwiefern dieser Glaube gewährleistet ist. Vielleicht kann man es sich so vorstellen: Dieses Projekt verhält sich spiegelbildlich zum Vorhaben des philosophischen Naturalisten, der von der Wahrheit des Naturalismus ausgeht und sodann versucht, eine Erkenntnistheorie aufzustellen, die gut zu diesem naturalistischen Standpunkt passt.

Das Buch wurde von Joachim Schulte übersetzt, einem sehr erfahrenen Übersetzer, der beispielsweise Werke von Richard Rorty oder Donald Davidson in die deutsche Sprache übertragen hat. Allerdings muss ich dennoch warnen: Gewährleisteter christlicher Glaube ist keine leichte Lektüre!

VD: RK

Plantinga: Ratschläge für christliche Philosophen

Der Aufsatz „Ratschläge für christliche Philosophen“, in deutscher Sprache zuerst erschienen in Glauben und Denken heute (2/2014, S. 6–19), ist nun auch separat als MBS Text 184 erschienen. Vielen Dank nochmals an all jene, die an der Übersetzung mitgearbeitet haben!

Plantinga schreibt:

Mbstexte184 TitelVor 30 oder 35 Jahren war die öffentliche Stimmung der etablierten Mainstream-Philosophie in der englischsprachigen Welt zutiefst unchristlich. Wenige etablierte Philosophen waren Christen, noch weniger waren bereit, in der Öffentlichkeit zuzugeben, dass sie es seien, und sogar noch weniger dachten von ihrem Christsein, dass es für ihre Philosophie einen echten Unterschied machen würde. Die am weitesten verbreitete Frage der philosophischen Theologie zu jener Zeit war nicht, ob das Christentum oder der Theismus wahr seien, stattdessen war die Frage, ob es überhaupt Sinn mache, zu sagen, dass es eine Person wie Gott gebe. Dem logischen Positivismus zufolge, der damals überall sein Unwesen trieb, macht der Satz „Es gibt eine Person wie Gott“ buchstäblich keinen Sinn; er sei verkappter Unsinn; er drücke nicht einmal irgendeinen Gedanken oder eine Proposition aus. Die zentrale Frage war nicht, ob der Theismus wahr ist; es ging darum, ob es überhaupt so etwas wie den Theismus gibt – eine echte, sachliche Proposition, die entweder wahr oder falsch ist. Aber die Dinge haben sich geändert. Es gibt jetzt viel mehr Christen im professionellen Umfeld der Philosophie in Amerika, sogar viel mehr unerschrockene Christen.

Hier: mbstexte184_a.pdf.

Plantinga: Ratschläge für christliche Philosophen

Warum erteilt der US-amerikanische Philosoph Alvin Plantinga christlichen Philosophen und anderen Wissenschaftlern und Künstlern Ratschläge? Ganz einfach:

Erstens ist es nicht nur in der Philosophie so, dass wir Christen stark von der Praxis und den Methoden unserer nicht-christlichen Kollegen beeinflusst sind. (Allerdings ist es wegen der Rechthaberei der Philosophen und der weitverbreiteten Streitigkeiten in der Philosophie vermutlich einfacher, dort ein Einzelgänger zu sein, als in den meisten anderen Disziplinen.) Dasselbe gilt für fast jede wichtige gegenwärtige intellektuelle Disziplin: Geschichte, Literatur- und Kunstkritik, Musikwissenschaft und die Sozial- und Naturwissenschaften. In allen diesen Bereichen gibt es Vorgehensweisen, allgegenwärtige Annahmen über das Wesen der Disziplin (zum Beispiel Annahmen über das Wesen der Wissenschaft und ihren Platz in unserer intellektuellen Welt), Annahmen darüber, wie wir in einer Disziplin Fortschritt erzielen können und wie ein wertvoller und lohnenswerter Beitrag von ihr aussehen könnte, und so weiter. Wir absorbieren diese Annahmen, wenn nicht mit der Muttermilch, so spätestens dann, wenn wir unsere eigentliche Disziplin erlernen. In all diesen Bereichen lernen wir, unser Fachgebiet unter der Leitung und dem Einfluss unserer Kollegen zu betreiben.

Aber in vielen Fällen passen diese Annahmen und Vermutungen nicht so leicht mit der christlichen oder theistischen Weltsicht zusammen. Dies wird in vielen Bereichen ersichtlich: In der Literaturkritik und der Filmtheorie, wo sich der kreative Anti-Realismus (siehe unten) austobt, in der Soziologie und der Psychologie und den anderen Humanwissenschaften; in der Geschichtswissenschaft und sogar in einem großen Teil der gegenwärtigen (liberalen) Theologie. Obwohl weniger offensichtlich, trifft das ebenso auf die sogenannten Naturwissenschaften zu. Der australische Philosoph J. J. C. Smart bemerkte einst, dass ein (aus seiner naturalistischen Sichtweise) nützliches Argument, um diejenigen, die an die menschliche Freiheit glauben, vom Irrtum ihrer Sicht zu überzeugen, darin besteht, sie darauf hinzuweisen, dass die gegenwärtige mechanistische Biologie anscheinend keinen Raum für den freien Willen des Menschen lasse: Wie könne sich denn zum Beispiel so etwas wie freier Wille im evolutionären Lauf der Dinge entwickelt haben? Sogar in der Physik und Mathematik, jenen starken Bastionen der reinen Vernunft, kommen ähnliche Fragen auf. Diese Fragen haben mit dem Inhalt jener Wissenschaften zu tun, und der Art, wie sie sich entwickelt haben. Sie haben auch damit zu tun, wie (wenn sie wie heute üblich gelehrt und praktiziert werden) diese Disziplinen künstlich von den Fragen getrennt werden, die das Wesen der Objekte betreffen, welche sie untersuchen – eine Trennung, die nicht dadurch festgelegt wird, was am ehesten der Natur des Fachgebietes entspricht, sondern durch eine weitgehend positivistische Vorstellung des Wesens von Wissen und des Wesens der intellektuellen Aktivität des Menschen.

Und drittens brauchen hier, wie in der Philosophie, Christen eine Autonomie und Ganzheitlichkeit. Wenn die gegenwärtige mechanistische Biologie tatsächlich keinen Raum für die menschliche Freiheit lässt, dann braucht es eine Alternative zur mechanistischen Biologie, und die christliche Gemeinschaft muss sie entwickeln. Wenn die gegenwärtige Psychologie grundlegend naturalistisch ist, dann ist es Aufgabe der christlichen Psychologen, eine Alternative zu entwickeln, die gut mit dem christlichen Supranaturalismus [Anm.: Also der Sicht, dass es mehr als nur Materie gibt und dass der Mensch eine übernatürliche Seele hat.] zusammenpasst, die also ihren Anfang bei grundlegenden wissenschaftlichen Wahrheiten wie: Gott hat die Menschheit nach seinem Bild geschaffen, nimmt.

Die vollständige Abhandlung gibt es in der nächsten Ausgabe von Glauben & Denken heute. Ich danke hier schon mal sehr herzlich Jonas, Ivo und Roderich für die Übersetzungsarbeit!

Thomas Nagel empfiehlt Plantingas neuestes Buch

418zJ1QUx-L._BO2,204,203,200_PIsitb-sticker-arrow-click,TopRight,35,-76_AA300_SH20_OU03_.jpgDer Philosoph Thomas Nagel (New York) hat Alvin Plantingas neustes Buch Where the Conflict Really Lies: Science, Religion, and Naturalism gelesen:

The interest of this book, especially for secular readers, is its presentation from the inside of the point of view of a philosophically subtle and scientifically informed theist—an outlook with which many of them will not be familiar. Plantinga writes clearly and accessibly, and sometimes acidly—in response to aggressive critics of religion like Dawkins and Daniel Dennett. His comprehensive stand is a valuable contribution to this debate.

I say this as someone who cannot imagine believing what he believes. But even those who cannot accept the theist alternative should admit that Plantinga’s criticisms of naturalism are directed at the deepest problem with that view—how it can account for the appearance, through the operation of the laws of physics and chemistry, of conscious beings like ourselves, capable of discovering those laws and understanding the universe that they govern. Defenders of naturalism have not ignored this problem, but I believe that so far, even with the aid of evolutionary theory, they have not proposed a credible solution. Perhaps theism and materialist naturalism are not the only alternatives.

Hier mehr: www.nybooks.com.

 

Alvin Plantinga im Interview

Hier ein Interview mit dem christlichen Philosophen Alvin Plantinga (zusammen ca. 25 Minuten):

Teil 1 – Argumente für Gott:

Reasons for God from CPX on Vimeo.

Teil 2 – Wo liegt Richard Dawkins falsch?:

Where Richard Dawkins goes wrong from CPX on Vimeo.

Teil 3 – Sicherer Glaube ohne Beweise?:

Sure Faith without Proof from CPX on Vimeo.

Teil 4 – Ist Gott gut?:

Is God good? from CPX on Vimeo.

Where Richard Dawkins goes wrong from CPX on Vimeo.

VD: JT

Superschwergewichtskampf: Plantinga versus Dennett

Am 21. Februar veranstaltete die bedeutendste amerikanische philosophische Gesellschaft (APA) so etwas wie eine Debatte über die Existenz Gottes. Die theistische Position wurde von Alvin Plantinga vertreten. Plantinga gilt vielen als der herausragendste christliche Philosoph seit dem Mittelalter und tatsächlich ist er mitverantwortlich dafür, dass in den U.S.A. die Religionsphilosophie eine Renaissance erfährt und viele Christen wieder Philosophie studieren. Daniel Dennett ist ein bedeutender Vertreter des »Neuen Atheismus« und ein darwinistischer Religionskritiker. Vielen gilt er als einer der führenden Vertreter der »Philosophie des Geistes« (Philosophy of Mind).

In der Debatte versuchte Plantinga zu zeigen, dass eine nicht-naturalistische Form der Evolutionstheorie mit einem theistischen Glauben vereinbar sei. Der Naturalismus sei allerdings eine Quasi-Religion und stünde im Widerspruch zur Wissenschaft. Der Theismus sei rational vertretbar, sogar dann, wenn er mit einigen Ergebnissen der Wissenschaft kollidiere. Grundsätzlich behaupte er aber die Verträglichkeit von Glaube und Wissenschaft (»there is no conflict between theistic religion and science«).

Daniel Dennett antwortete Plantinga überwiegend mit Spott. Für ihn sei der Theismus inakzeptabel und irrational, vergleichbar mit der Astrologie. »Ist Plantinga’s Theismus in einer besseren Lage als all diese anderen Phantasien?«, fragte er.

Freundlicherweise hat ein Teilnehmer der Diskussion, der nicht mit Namen genannt werden möchte, seine (mit köstlichem Humor gewürzten) Eindrücke schriftlich festgehalten und in einem Blog publizieren lassen. Sein Resümee:

In my estimation, Plantinga won hands down because Dennett savagely mocked Plantinga rather than taking him seriously. Plantinga focused on the argument, and Dennett engaged in ridicule. It is safe to say that Dennett only made himself look bad along with those few nasty naturalists that were snickering at Plantinga. The Christians engaged in no analogous behavior. More engagements like this will only expand the ranks of Christian philosophers and increase the pace of academic philosophy’s desecularization.

Aber lesen Sie am besten die ganze Geschichte (und die dazugehörenden Kommentare) selbst. Leider – wie so oft – nur auf Amerikanisch: prosblogion.ektopos.com.

Die Lehre vom Zweifel

Michael Polany bläst hier in das gleich Horn wie Alvin Plantinga (Personales Wissen: Auf dem Weg zu einer postkritischen Philosophie, 2023, S. 445–446):

Mein Entschluss, meine Grundüberzeugungen mit philosophischen Mitteln zu bekunden, muss erst noch in ganzheitlicher Form dargelegt werden. Doch zunächst müssen wir uns von einem Vorurteil befreien, das sonst die Moral unseres ganzen Unterfangens untergräbt.

Während der gesamten kritischen Periode der Philosophie galt es als selbstverständlich, dass die Bejahung unbewiesener Überzeugungen die bequeme Straße in Richtung Finsternis darstellt, während man sich der Wahrheit auf dem geraden und engen Pfad des Zweifels nähert. Es wurde die Warnung ausgesprochen, dass uns seit frühester Kindheit eine Vielzahl unbewiesener Überzeugungen eingeflößt worden sei. Religiöse Dogmen, die Autorität der antiken Denker, die Lehren der Scholastiker, die Sprüche der Kinderstube – sie alle formten zusammen ein Korpus von Überlieferungen, die wir nur deshalb zu akzeptieren geneigt seien, weil diese Überzeugungen vorher schon von anderen vertreten worden waren, die wollten, dass wir sie auch unsererseits übernähmen. Wir wurden dazu angehalten, uns gegen den Druck dieser traditionsgebundenen Indoktrinierung zu wehren, indem wir das Prinzip des philosophischen Zweifels dagegen in Stellung brächten. Descartes erklärte, der universelle Zweifel solle seinen Geist von allen Meinungen säubern, die bloß auf Treu und Glauben angenommen worden waren, um ihn der fest in der Vernunft wurzelnden Erkenntnis zu öffnen. In seinen strikteren Formulierungen verbietet uns das Prinzip des Zweifels, überhaupt etwas glauben zu wollen, und es verlangt, dass wir den Geist lieber leer lassen sollen, als zu gestatten, dass Überzeugungen von ihm Besitz ergreifen, die nicht unwiderleglich sind. In der Mathematik, sagt Kant, gibt es keinen Platz für bloßes Meinen, sondern nur für echtes Wissen: »man muss wissen, oder sich alles Urteilens enthalten.«

Die Methode des Zweifels ist eine logische Folge des Objektivismus. Sie verlässt sich darauf, dass die Ausmerzung aller willensgebundenen Komponenten des Glaubens einen Wissensrest übrig lässt, der zur Gänze von objektiven Belegen bestimmt wird. Auf diese Methode hat sich das kritische Denken uneingeschränkt verlassen, um Irrtümer zu vermeiden und die Wahrheit zu erhärten.

Nun möchte ich keineswegs behaupten, dass diese Methode während der Periode des kritischen Denkens immer oder überhaupt irgendwann einmal in strenger Form angewandt worden ist (das ist ja nach meiner Überzeugung unmöglich). Vielmehr möchte ich bloß sagen, dass man sich emphatisch zu ihrer Anwendung bekannt hat, während man sich nur unauffällig und nebenbei dafür ausgesprochen hat, sie zu lockern. Zugegeben, Hume war in dieser Hinsicht ziemlich freimütig. An den Stellen, wo er den Schlussfolgerungen der eigenen Skepsis nicht aufrichtig Folge leisten zu können meinte, beschloss er unverhohlen, sie beiseitezuschieben. Dennoch unterließ auch er es einzuräumen, dass er damit seine eigenen persönlichen Überzeugungen zum Ausdruck brachte. Ebenso wenig hat er sein Recht in Anspruch genommen und seine Pflicht angenommen, sich zu diesen Überzeugungen zu bekennen, sobald dies darauf hinauslief, Zweifel zu ersticken und die strikte Objektivität fallenzulassen. Seine Abweichungen von der Skepsis blieben streng genommen inoffiziell und gehörten nicht in expliziter Form zu seiner Philosophie. Kant hingegen nahm diesen Widerspruch ernst. Er unternahm die übermenschliche Anstrengung, sich der durch Humes Erkenntniskritik sichtbar gewordenen Situation zu stellen, ohne eine Lockerung des Zweifelsprinzips zuzulassen. Im Hinblick auf diese Schwierigkeiten schreibt Kant: »Der Keim der Anfechtungen, der in der Natur der Menschenvernunft liegt, muß ausgerottet werden; wie können wir ihn aber ausrotten, wenn wir ihm nicht Freiheit, ja selbst Nahrung geben, Kraut auszuschießen, um sich dadurch zu entdecken, und es nachher mit der Wurzel zu vertilgen? Sinnet demnach selbst auf Einwütfe, auf die noch kein Gegner gefallen ist, und leihet ihm sogar Waffen, oder räumt ihm den günstigsten Platz ein, den er sich nur wünschen kann. Es ist hiebei gar nichts zu furchten, wohl aber zu hoffen, nämlich, daß ihr euch einen in alle Zukunft niemals mehr anzufechtenden Besitz verschaffen werdet.«

Schon seit Langem hat sich gezeigt, dass Kants Hoffnungen auf ein unbestreitbares Reich der Vernunft zu hoch gegriffen sind. Aber die Leidenschaft des Zweifelns ist auch heute noch spürbar.

GLAUBEN UND DENKEN HEUTE 1/2016

Glauben & Denken heute
Die neue Ausgabe der Zeitschrift Glauben und Denken heute (1/2016, Nr. 17) ist erschienen. Folgende Beiträge sind enthalten:

Artikel

  • Ron Kubsch: Editorial
  • Thomas Schirrmacher: Die Grünen, Pädophilie, der damalige Zeitgeist und die Neuauflage heute
  • David F. Wells: Auslegungen der Heiligen Schrift
  • Thomas K. Johnson: Religiös motivierter Terror, Brüssel und die Suche nach dem Sinn
  • Hanniel Strebel: Wie sollen wir als Christen im 21. Jahrhundert leben?

Rezensionen

  • Kim Riddlebarger. Streitfall Millennium (Hanniel Strebel)
  • Anthony Esolen: Defending Marriage (Hanniel Strebel)
  • Blaise Pascal. Briefe I: Die private Korrespondenz (Ron Kubsch)
  • Karl-Heinz Vanheiden: Center Church – Kirche in der Stadt (Timothy Keller)
  • Christoph Heilig: Hidden Criticism? (Benedikt Mankel)
  • Timothy Keller: Beten: Dem heiligen Gott nahekommen (Ron Kubsch)
  • Andrew Goddard u. Don Horrocks: Homosexualität (Ron Kubsch)
  • Manfred Niehoff: Lerne Latein mit der Bibel! (Daniel Facius)
  • Hans Schwarz: Theologie im globalen Kontext (Johannes Traichel)
  • Scott R. Swain. Trinity, Revelation, and Reading (Mario Taffner)

Buchhinweise

  • Alvin Plantinga. Gewährleisteter Christlicher Glaube (Ron Kubsch)
  • Jürgen Moltmann. Werke (Ron Kubsch)
  • Marie-Christine Kajewski u. Jürgen Manemann. Politische Theologie und Politische Philosophie (Ron Kubsch)
  • Christof Müller, in Zusammenarbeit mit Robert Dodaro u. Allan D. Fitzgerald. Kampf oder Dialog? (Ron Kubsch)
  • Harald D. Seubert. Mission und Transformation (Ron Kubsch)

Die Ausgabe kann hier heruntergeladen werden: 2016_gudh_1b.pdf.

Religion in der politischen Öffentlichkeit

Nachfolgend eine Rezension zum Buch:

  • Martin Breul: Religion in der politischen Öffentlichkeit: Zum Verhältnis von religiösen Überzeugungen und öffentlicher Rechtfertigung, Paderborn: F. Schöningh, 1. Aufl. 2015, ISBN: 978-3-506-78233-5, 270 S., 29,90 Euro

die in dem Jahrbuch Religionsfreiheit 2015 erschienen ist:

Religion in der politischen Öffentlichkeit

9783506782335 tifNachdem der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder bei seiner Vereidigung im Jahre 1998 auf das religiöse Bekenntnis „So wahr mit Gott helfe“ verzichtet hatte, begründete er seine Entscheidung mit dem Hinweis: „Religion ist Privatsache“ (das Beispiel wird in der Einleitung erwähnt, S. 11). Er nimmt damit, so sieht es jedenfalls zunächst aus, eine nachaufklärerische Position ein. „Religion scheint nur als ersetzbares Mittel zur Wahrung der persönlichen Psychohygiene, als esoterischer oder Überrest der Vormoderne, in jedem Fall als öffentlich nicht berücksichtigenswertes Phänomen betrachtet zu werden“ (S. 11). Allerdings haben die letzten Jahrzehnte gezeigt, dass die Religion sehr wohl eine öffentliche Rolle spielt. Etliche politische Auseinandersetzungen sind – zumindest teilweise – religiös aufgeladen. „Das Verhältnis von Religion und Öffentlichkeit ist keineswegs eines der Nicht-Berührung, sondern ein Feld voller explosiver Konflikte“ (S. 11).

Eine der zentralen Fragen in der Debatte um das Verhältnis von demokratischer Öffentlichkeit und Religion ist die der Legitimität des Einbringens religiöser Überzeugungen und Argumente in die gewaltfreien Diskurse. Können in einer pluralistischen Gesellschaft religiöse Erklärungen zulässige Gründe innerhalb öffentlicher Auseinandersetzungen sein? Genau mit dieser Frage hat sich Martin Breul in seiner Dissertation beschäftigt, die im Wintersemester 2014/2105 von der Philosophischen Fakultät der Universität Köln angenommen und nun im Ferdinand Schöningh Verlag unter dem Titel Religion in der politischen Öffentlichkeit publiziert worden ist.

Das Werk untersucht, welche Chancen religiöse Argumente im öffentlichen Diskurs einer (post-)säkularen Gesellschaft bieten, aber auch, welche Risiken mit ihnen einhergehen. Das leitende Ziel ist dabei, ein zeit- und vernunftgemäßes Verhältnis von politischer Öffentlichkeit, religiösen Überzeugungen und demokratischer Legitimität zu bestimmen. Die These ist, dass in der Debatte um die Zulässigkeit religiöser Argumente zwischen einem exklusiven und einem inklusiven Ansatz eine vermittelnde Position vertreten werden kann.

Diese Position bezeichnet der Autor als „Moderaten Exklusivismus“. „Der moderate Exklusivismus besagt, dass es einerseits notwendig ist, am Ideal der Rechtfertigungsneutralität festzuhalten: Nur solche politischen Normen sind legitim, die mit Gründen gerechtfertigt werden können, die von allen möglicherweise Betroffenen geteilt werden können (exklusives Moment). Zugleich impliziert dieses Insistieren auf der Notwendigkeit wechselseitig akzeptabler Rechtfertigungen keine Privatisierungsforderung, da jenseits der Rechtfertigungsfunktion eine Vielzahl anderer Rollen für religiöse Überzeugungen in öffentlichen Diskursen denkbar ist (moderierendes Moment). So soll einerseits eine liberale Pauschaldiskriminierung religiöser Argumentationsformen durch den apriorischen Diskursausschluss vermieden und andererseits eine ungerechtfertigte Herrschaft einer weltanschaulichen Mehrheit durch die kriterienlose und ungefilterte Zulassung religiöser Argumente und Überzeugungen verhindert werden“ (S. 13) .

Um diese Position zu begründen, geht Breul in drei Schritten vor: Zunächst rekonstruiert er die unübersichtliche politisch-philosophische Debatte. Er arbeitet dabei nicht autorenbasiert, sondern rekonstruiert vier Argumenttypen. Der erste Typ beruft sich auf konsequenzialistische Argumente. Diese Argumente thematisieren die positiven und negativen Folgen religiöser Überzeugungen für das Gemeinwesen. Der zweite Typ umfasst ethische Argumente. Der dritte Typ formuliert politische Argumente, in der Regel Bedingungen für die Stabilität eines pluralistischen Gemeinwesens. Im vierten Typ werden alle erkenntnistheoretischen Argumente zusammengetragen. Anschließend prüft Breul die religionsphilosophischen Erkenntnisse von Jürgen Habermas und findet unter ihnen Anknüpfungspunkte, insbesondere deshalb, weil er die Fronstellungen zwischen liberalen und nicht-liberalen Ansätzen aufbricht. Andererseits überzeugt ihn Habermas jedoch nicht. Nach Habermas ist religiöser Glaube für die Philosophie eine kognitive Zumutung. Die Sphären von Glauben und Wissen sind nämlich inkommensurabel, also nicht miteinander vergleichbar. Warum? Religiösen Aussagen fehlt a) die propositionale Verfasstheit, sie sind also nicht wahrheitsfähig. Sie sind b) von einer göttlichen Offenbarung abhängig, c) in kultischer Praxis verankert und d) als Heilsweg ausgezeichnet (vgl. S. 155). Alle vier Behauptungen sind für Breul zu recht heikel. Deshalb verlässt er die Argumentationslinie von Habermas und legt schließlich drittens mit seinem moderaten Exklusivismus einen eigenen Entwurf vor. Es soll gelingen, „sowohl die plausible liberale Intuition der Notwendigkeit einer allgemein akzeptablen Rechtfertigung politischer Normen als auch die plausible Intuition der Gegenseite, eine apriorische Diskriminierung religiöser Überzeugungen durch eine pauschale Privatisierungsforderung zu vermeiden, zu verknüpfen und beiden Intuitionen gleichermaßen gerecht zu werden“ (S. 13–14).

Breul akzeptiert also einerseits die Forderung nach Rechtfertigungsneutralität, lehnt aber die davon abgeleitete Privatisierungforderung religiöser Überzeugungen ab. Religiöse Überzeugungen enthalten, so Breul, immer auch kognitive Elemente (belief) und sind somit der Vernunft zugänglich und intersubjektiv nachvollziehbar. Sie müssen auch in postsäkularen Gesellschaften nicht aus den öffentlichen Diskursen verbannt werden.

Die Arbeit ist sehr interessant zu lesen, der Autor argumentiert klar verständlich und liefert etliche treffende und hilfreiche Analysen. Hervorzuheben ist, dass er ein de-universalisiertes Vernunftkonzept ablehnt, „da es weder möglich ist, rechtfertigungstheoretische Willkür und einen Perspektivenrelativismus zu vermeiden, noch die Möglichkeit von kontextübergreifender Kritik gewahrt werden kann“ (S. 246).

Leider fehlt die Auseinandersetzung mit der sogenannten reformierten Erkenntnistheorie (z. B. Alvin Plantinga, Nicholas Woltersdorf, für eine kurze Einführung siehe: Plantinga.pdf), obwohl es beachtliche materielle Schnittmengen gibt. Diese Schule hat nicht nur gezeigt, dass der Glaube an Gott basal und dennoch rational verantwortbar ist, sie zeigt auch, dass diejenigen, die sich auf rein vernünftige Legitimationsprinzipien berufen, ohne Glauben (faith) nicht auskommen. Sogar unter Religionslosen, die sich vehement von allem Übernatürlichem abgrenzen, sind Haltungen und Einstellungen zu finden, die quasi transzendentalen Charakter haben.

Das große Anliegen Martin Breuls ist zu begrüßen. Er möchte einen transparenten Ansatz liefern, der das friedliche Zusammenleben in einer pluralen, multikulturellen und demokratischen Gesellschaft ermöglicht, ohne das dabei der Wahrheitsanspruch religiöser Überzeugungen geopfert werden muss. Insofern religiöse Überzeugungen kriterielle Minimalstandards für vernünftige, öffentliche Diskurse erfüllen, können und sollen sie auch in die politischen Debatten eingebracht werden.

Ron Kubsch

Ein Jurist verteidigt den christlichen Glauben

Vor vielen Jahren unterhielt ich mich mit John Warwick Montgomery über Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus. Plötzlich hielt Montgomery inne und sagte: „Weißt Du was, ich habe selbst einen Tractatus geschrieben!“ Einige Monate später haben wir dann tatsächlich den Tractatus Logico-Theologicus herausgegeben (das Inhaltsverzeichnis gibt es hier: TractatusIHV.pdf).

Der Philosoph Angus Menuge schreibt über Montgomery und sein Buch:

John Warwick Montgomery should be ranked with C. S. Lewis (a significant influence on Montgomery and a man with whom he corresponded) and Francis Schaefer, as among the greatest Christian apologists of the Twentieth Century. Indeed, there are areas where Montgomery has surpassed this distinguished company: his penetrating critique of both secular and non-Christian religious philosophies of history (Where is History Going?) and of human rights (Human Rights and Human Dignity), and his rigorous application of jurisprudential principles of evidence to Biblical apologetics (History, Law and Christianity). Now, at the beginning of the Twenty-First Century, Montgomery has written a comprehensive, structured set of aphorisms that encapsulate and update his prolific, lifetime contributions to apologetics, in the style of Ludwig Wittgenstein’s celebrated Tractatus Logico-Philosophicus. Like Wittgenstein’s earlier work, Montgomery’s Tractatus does not tell the reader what to think but rather forces the reader to confront and radically rethink received prejudices that obscure the real issues. The singular greatness of the new Tractatus is that it not only distills many of Montgomery’s earlier works, but shows their overall coherence and enduring relevance, with connections made to the recent work of Michael Behe, William Dembski, Gary Habermas, Mary Midgley, John Polkinghorne, Alvin Plantinga, Alvin J. Schmidt, Richard Swinburne and many others.

Kürzlich fand ich im Internet einen Vortrag, den der Lutheraner J.W. Montgomery in einer lutherischen Kirche gehalten hat. Dort und in dem anschließenden Q & A präsentiert er seinen juridischen Ansatz der Apologetik auf lockere und zugleich einheitliche Art und Weise, so dass auch diejenigen, die eine voraussetzungsbewusste Apologetik vertreten, eine hilfreiche Einführung in eine Variante der evidenzbasierten Apologetik hören können.

Für diejenigen, die englischsprachige Vorträge meiden, gibt es den Aufsatz: „Der christliche Glaube hat Gründe“ aus Glauben & Denken heute 2/2009: gudh-004_JWM.pdf.

Hier nun der Vortrag:

Glauben & Denken heute 2/2014 ist da!

Die neue Ausgaben der Zeitschrift Glauben & Denken heute ist soeben erschienen. Sie enthält folgende Beiträge:

Gudh 2 2014 c CoverArtikel

  • Hanniel Strebel: Editorial
  • Prof. Dr. Alvin Plantinga: Ratschläge für christliche Philosophen
  • Interview mit Thomas Reiter: Logos auf Deutsch
  • Hanniel Strebel: Hermann Bavinck: Eine Einführung in sein Leben, seine Zeit und sein Werk
  • Interview mit Dr. Markus Widenmeyer: Welt ohne Gott?
  • Simon Mayer: Gottes Eifer für Seine Ehre

Rezensionen

  • Ron Kubsch: Der gekreuzigte König (Jeremy R. Treat)
  • Ron Kubsch: Grundriss Heidegger (Helmuth Vetter)
  • Dr. Daniel Facius: Berufung (Timothy Keller)
  • Dr. Markus Widenmeyer: Halbierte Wirklichkeit (Hans-Dieter Mutschler)
  • Hanniel Strebel: Teaching and Learning Through Story (Jan Hábl)
  • Micha Heimsoth: Fundamentaltheologie (Gerd Neuhaus)

Buchhinweise

  • Johannes Otto: Einführung in die griechische Sprache (Wilhelm Höhn)
  • Johannes Otto: Digitale Invasion (Archibald D. Hart, Sylvia Hart Freijd)
  • Ron Kubsch: Max Weber (Dirk Käsler)
  • Ron Kubsch: Feuerbach weiterdenken (Joachim Nagel)

Die Zeitschrift kann gratis hier heruntergeladen werden: gudh014c.pdf.

Abraham Kuyper (Schluß)

 

Abraham Kuyper: Der reformierte Denker 

Denkerischer Ausgangspunkt für Kuyper ist das Bekenntnis zur absoluten Souveränität Gottes. Dieser Glaube an die allumfassende Königsherrschaft von Jesus Christus (engl. Lordship Principle) bedeutete ihm, dass der Calvinismus als eine Lebensanschauung (engl. Life-System) anzusehen ist, die jeden Bereich der Wirklichkeit berührt. Die Herrschaft von Jesus Christus über die gesamte Wirklichkeit konkretisiert sich in drei Ordnungen, die jeweils unmittelbar Gott unterstellt sind, nämlich Staat, Gesellschaft und Kirche (Abraham Kuyper, Lectures on Calvinism, Grand Rapids, MI: Erdmans, Reprint 2002, S. 79). 
 
Einerseits verteidigte Kuyper große (Wieder-)Entdeckungen der Reformatoren wie die tiefe Sündhaftigkeit aller Menschen, die Glaubensgerechtigkeit oder die Erwählung, andererseits gab er dem Calvinismus ein aufgeschlossenes und der Welt zugewandtes Gesicht. Gelingen konnte ihm das durch die gleichzeitige Betonung von Antithese und allgemeiner Gnade.
 
Mit der Antithese hebt Kuyper den Gegensatz von Kirche und Welt heraus. Die Kinder Gottes leben versöhnt nach dem Glauben zur Ehre Gottes. Die Kinder der Welt richten sich nach ihrem eigenen verdorbenen Herzen und rebellieren gegen Gott. Diese vorausgesetzte Antithese führt allerdings nicht in den Kulturpessimismus, dem Kuyper die „allgemeine Gnade“ gegenüberstellt. 
 
Während die spezielle Gnade die erwählten Menschen erleuchtet und mit Gott versöhnt, schenkt uns die allgemeine Gnade, was wir zum Leben benötigen und begrenzt die sündhaften und destruktiven Mächte dieser gefallenen Welt. Von der allgemeinen Gnade profitieren also alle Menschen. Gott versprach im Noahbund, die Erde trotz der Bosheit der Menschen zu erhalten (vgl. Gen 8,21). „Solange die Erde währt, sollen nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht“ Gen 8,22). Gott „lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“ (Mt 5,45). Die allgemeine Gnade gibt den Ebenbildern Gottes das Mandat für die Erforschung und Gestaltung dieser Welt. Für die Christen heißt das, dass sie zusammen mit den Heiden kulturschaffend tätig sind. Sie arbeiten, sie engagieren sich für Gerechtigkeit und Wohlfahrt, sie sind künstlerisch tätig oder treiben Sport. All das verbindet sie nicht nur mit den Christen, sondern auch mit ihren ungläubigen Freunden und Nachbarn, deren Leistungen sie wertschätzen. Eine besondere Stellung räumte Kuyper übrigens der Wissenschaft ein, indem er sie in der Schöpfung ansiedelte. „Ohne Sünde“, schrieb Kuyper, „gäbe es weder einen Staat noch die christliche Kirche, aber die Wissenschaft“ (Wisdom & Wonder, Grand Rapids, Michigan, 2011, S. 35). 
 
Im niederländischen Protestantismus erntete der Neo-Calvinismus mitunter scharfe Kritik. Kuyper wurde und wird vorgeworfen, er habe das reformierte Christentum von der überlieferten reformierten Theologie entfremdet. Tatsächlich veränderte sich unter ihm das „reformierte Selbstverständnis“. 
 
Kuyper verlor beispielsweise vertraute Mitstreiter, als er eine Korrektur des Niederländischen Glaubensbekenntnisses (lat. Confessio Belgica) einforderte. Er störte sich am Artikel 36, wo zur Bestimmung des Staates gesagt wird, dass dieser nicht nur für die bürgerliche Verfassung zu sorgen hat, sondern auch darum bemüht sein soll, „dass der Gottesdienst erhalten werde, aller Götzendienst und falscher Gottesdienst entfernt werde, das Reich des Antichrists zerstört, Christi Reich aber ausgebreitet werde. Endlich ist es ihres Amtes zu bewirken, dass das heilige Wort des Evangeliums überall gepredigt werde und dass jeder Gott auf reine Weise nach Vorschrift seines Wortes frei verehren und anbeten könne“. Kuyper sah hier eine unzulässige Verknüpfung von Staat und Kirche und deshalb eine Verletzung der „Souveränität im eigenen Kreis“. Er war überzeugt, dass Familie, Staat und Kirche jeweils eigene Domänen sind, die sich gegenseitig nicht „hineinregieren“ sollten. R. S. de Bruïne (1869–1941) hat diese kuypersche „Sphärensouveränität“ einmal markant formuliert: „Es ist unsere Überzeugung, dass es nicht zur Berufung des Staates gehört, das soziale Leben von oben zu kontrollieren und es in vorgefertigte Bahnen zu pressen … Wir unterscheiden mehrere Kreise: den Staat, die Gesellschaft, die Kirche und die Familie, um nur einige zu nennen. Diese haben alle ihre eigene Natur, ihre eigene Autorität und Verantwortung. (zitiert nach: Joop M. Roebroek, The Imprisoned State, 1993, S. 55). Für Kuyper war es unerträglich, wenn der Staat kirchliche Aufgaben übernahm oder die Institution Kirche versuchte, Politik zu machen. Seine Bemühungen, die Korrektur des Artikels durchzusetzen, traf auf harten Widerstand (vgl. dazu: Peter Heslam, Creating a Christian Worldview: Abraham Kuyper‘s Lectures on Calvanism, 1998, S. 162–164). Schlussendlich wurde die Passage 1905 von den Reformierten Kirchen aber aus dem Bekenntnis gestrichen (Dirk van Keulen, „Der niederländische Neucalvinismus Abraham Kuypers“, S. 356). 
 
Noch ein Beispiel: Vor Kuyper bestritten die Reformierten zwar nicht, dass Christen den Auftrag haben, Gesellschaft zu gestalten. Betont wurde aber vor allem die Erlösung von Sündern. Die Predigten befasste sich meist mit den großen biblischen Themen wie Buße, Glaube, Wiedergeburt, Rechtfertigung, Heiligung usw. Durch Kuyper verschob sich der Schwerpunkt hin zur Weltverantwortung. Die Frage, was der Heilige Geist in den Herzen der Sünder durch das Wort wirkt, wurde zwar nicht ausgeblendet, aber oft von dem überlagert, was Christen tun sollten, um Gesellschaft und Kultur zu prägen (vgl. Cornelius Pronk, „Neo-Calvinism“, S. 49). 
 
Gern wird Kuyper deshalb heute für die sogenannte „transformative Kulturauffassung“ oder „Gesellschaftstransformation“ in Anspruch genommen. Demnach sind Christen dazu beauftragt, sich in gesellschaftliche Prozesse einzumischen und diese auf Mikro-, Meso- und Makroebene zu verändern. Ist diese Vereinnahmung von Kuyper berechtigt? Ja und nein. Tatsächlich wollte Kuyper den Protestantismus entprivatisieren und entwickelte eine „öffentliche Theologie“, die viele neue Anstöße für die parteiische Einmischung und Weltverantwortung lieferte. 
 
Damit überwand er die von Immanuel Kant (1724–1804) angestoßene und noch heute gefragte Aufspaltung der Vernunft in einen öffentlichen und einen privaten Gebrauch. Es bedürfe der Freiheit, „von seiner eigenen Vernunft in allen Stücken öffentlich Gebrauch zu machen“, sagte Kant (Kant, „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, 1974, S. 11). Er kontrastiert den öffentlichen Gebrauch der Vernunft mit dem privaten. Unter öffentlichem Gebrauch versteht er „denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht“ (Ibid., S. 9). Der Privatgebrauch der Vernunft könne dagegen eingeschränkt sein (Ibid., S. 11). Kuyper holte den Glauben, der sich auf Offenbarung berief, wieder
in den öffentlichen Diskurs zurück. Sein Ansatz hob dabei entschieden vom liberalen Kulturprotestantismus ab, der Evangelium und Kultur durchmischte. Zugleich unterschied er – wie oben bereits angesprochen –, scharf zwischen allgemeiner und rettender Gnade. Um es anders auszudrücken: Kuyper verwechselte die Erhaltungsethik nicht mit dem Aufbau von Gottes Reich. Darum wissend, dass das geistliche Reich nicht von dieser Welt ist (vgl. Joh 18,36), schrieb er (A. Kuyper, „Common Crace“ zitiert aus: David VanDrunen, Natural Law and The Two Kingdoms, 2010, S. 295):
 
Wir müssen zwischen zwei Dimensionen dieser Manifestation der Gnade unterscheiden. 1.a. eine rettende Gnade, die am Ende Sünde abschafft und ihre Folgen vollständig rückgängig macht; und 2. eine zeitliche zurückhaltende Gnade, die die Wirkung der Sünde abmildert und aufhält. Die erste … ist ihrer Natur nach eine besondere und auf die Auserwählten Gottes begrenzt. Die zweite … erstreckt sich auf das gesamte menschliche Leben.
 
Die Frucht der besonderen Gnade, die Menschen mit Gott durch Jesus Christus versöhnt, war eindeutig das Herzensanliegen von Kuyper (vgl. S.U. Zuidema, Common Grace und Christian Action in Abraham Kuyper, S. 6). Die Kirche als Institution sollte deshalb treu das Evangelium verkündigen. Kulturpräsenz wird erreicht, da die Kirche als Organismus in der Welt wohnt.
 
Kuypers Wirkung ist ambivalent. Er stärkte das nachmoderne Christentum auf dem Weg zu einem kulturpräsenten Christsein und inspirierte herausragene christliche Vordenker, unter ihnen Herman Bavinck (1854–1921), Hermann Dooyeweerd (1894–1977), Hans Rookmaaker (1922–1977) oder Francis Schaeffer (1912–1984). Doch auch Bewegungen wie der „Christian Reconstructionism“ von Rousas J. Rushdoony (1916–2001) und Greg L. Bahnsen (1948–1995) oder der „shalom-Neo-Calvinismus“, wie er von Alvin Plantinga (* 1932) und Nicholas Wolterstorff (* 1932) vertreten wird, sind von Kuyper inspiriert. Interessanterweise ist der „Christian Reconstructionism“ anti-sozialistisch ausgerichtet und hebt die „Antithese“ zwischen christlichem und weltlichem Denken heraus (vgl. dazu: Thomas Schirrmacher, Anfang und Ende von Christian Reconstruction (1959–1995), 2001). Der „shalom-Neo-Calvinismus“ ist demgegenüber sozialistischen Idealen aufgeschlossen und neigt dazu, die Immanenz Gottes und die Kontinuität zwischen der jetzigen und der zukünftigen Welt zu idealisieren (vgl. dazu: Williams Dennison, „Dutch Neo-Calvinism and the Roots for Transformation“, JETS 42 (1999), Nr. 2, S. 271–291). Gelegentlich wird von den „Transformisten“ deshalb eingestanden, dass sie sich mehr mit dem Beispiel als mit den inhaltlichen Anliegen des niederländischen Theologen identifizieren (z.B. Phillip Morgen, „Abraham Kuyper: Christ Transforming Culture, Helwys Society Forum, URL: http://www.helwyssocietyforum.com).
 
Alles in allem leitete Kuyper vor ungefähr einhundert Jahren eine notwendige und begrüßenswerte Renaissance des reformierten Denkens ein. Wir dürfen dankbar sein, dass er die christliche Weltdeutung aus der Defensivhaltung herausführte und zahlreiche Christen ermutigte, den ideologischen Götzendienst des Modernismus zu dekonstruieren und christliches Denken einzuüben. Wer Jesus Christus nachfolgt, sieht die ganze Welt mit anderen Augen. Wir können und sollten viel von ihm lernen.
 

Zur Amnesie der eigenen theologischen Wurzeln

201205061523.jpgWo er recht hat, hat Jens Zimmermann recht (Theologische Hermeneutik: Ein trinitarisch-christologischer Entwurf, Herder Verlag, 2008, S. 23):

Obwohl mittlerweile an Büchern über die Geschichte der Hermeneutik kein Mangel herrscht, erhalten wir von der so genannten vorkritischen Tradition, wie Hans Frei die Interpretationspraktiken vom Kirchenbeginn bis hin zur Aufklärung zusammenfasste, weder ein klares noch ein verständiges Bild. Weder Theologen noch Philosophen haben bisher diese Tradition mit dem verdienten Verständnis und Respekt in die Entwicklung der Hermeneutik eingeordnet. Die Philosophie betrachtet theologische Interpretationsmodelle immer noch mit einer Art elitären Hochmuts, der auf eine explizit religiöse Weltanschauung mit der Arroganz des Aufklärungswissenschaftlers hinabschaut. Selbst wenn an der Religion doch etwas dran sein sollte, so darf sich dieses etwas keineswegs zu positiv gestalten, denn in dieser Richtung lauert, Gott bewahre uns, das Schreckgespenst des Dogmatismus, ja des Fundamentalismus, und damit der religiös motivierten Gewalt; dann schon lieber ein postmoderner Pluralismus, bei dem sich alles in Interpretation auflöst.

Auf Seiten der Theologie sieht es nicht wesentlich besser aus, vor allem nicht im populären Bereich. Besonders im nordamerikanischen evangelischen Christentum herrscht eine generelle Amnesie der eigenen theologischen Wurzeln, eine fast vollkommene Unkenntnis der Reformationshermeneutik, obwohl in einigen Kreisen die Slogans sola gratia, sola fide, und sola scriptura noch wie Markenzeichen kursieren und ungefähr den gleichen Tiefgang aufweisen. Dieser Erinnerungsverlust der eigenen Tradition erklärt jedoch zumindest, warum die so genannten evangelicals (um diese Gruppe nicht mit dem deutschen Begriff evangelisch zu verwechseln), von wenigen Ausnahmen abgesehen, postmodernes Gedankengut entweder ohne kritische Auseinandersetzung aufnehmen oder also dämonisch zurückweisen. Beiden Reaktionen liegt die Unkenntnis der Reformationstheologie und deren Auslegungspraktiken zugrunde.

Als Rezension zur englischen Ausgabe dieses interessanten Buches sei empfohlen: Moon, Joshua. „Recovering Theological Hermeneutics: An Incarnational-Trinitarian Theory of Interpretation¡, Presbyterion Presbyterion 32, Nr. 2 (2006): S. 115–18. Moon weist auf einige Schwächen hin, wenn er schreibt (S. 117):

Zimmermann shows no critical reflection on why it is that we should follow the history of hermeneutics through its secularization and have to work into our beliefs about the world the conclusions of that history. He goes to pains to emphasize that we cannot simply return to a „pre-modern“ mindset and convictions but must follow the philosophical insights that separate us from them. The question that arises is: why we must do so? In particular, it is the work of Kant that is the dividing line in Zimmermann’s story. Why must we embrace Kanfs arguments and conclusions that divide us not only from the world and one another, but from God as well? This is particularly poignant when Zimmermann makes such absolute claims for his branch of philosophical study, such as „Philosophical hermeneutics is by far the best account of human knowledge“ (185), or „theology must fully adopt Gadamer’s insistence on the linguisticality of interpretation“ (182).

I grant that Zimmermann has every right to make the case at these points, but especially regarding the first he does not make a case at all. He completely ignores both the philosophical tradition that parts company with his judgment (not a single reference anywhere to those who could be considered analytic philosophers), and the Christian philosophers of the present day who disagree. The latter is most disappointing given the fascinating discussion of John Owen (esp. 90-91), which paints a picture with unmistakeable connections both to Blaise Pascal and, even more, Thomas Reid. Such a picture would naturally lead one to discuss the theological/philosophical tradition of Owen and the Reformed scholastics and perhaps trace the line up to the Reformed Dogmatics of Herman Bavinck (who also disputes Cartesian thought on the one hand and transcendental idealism on the other) and his contemporary Abraham Kuyper, then on into the present. Even without that line, the move from Thomas Reid to the contemporary work of Nicholas Wolterstorff and especially Alvin Plantinga—in that same broad line of understandings of epistemology one sees in Owen—is a small one. Yet we are given nothing of the sort. Instead we are told, without apology, that we must accept the Kantian dilemma and the irreducible linguisticality of existence, all in order to emerge by clinging to the incarnation. And even within this Zimmermann makes no mention of the numerous Christian thinkers already involved in interacting with these issues, such as Anthony Thiselton, Kevin Vanhoozer, Dan Stiver (who embraces Paul Ricoeur, another figure whose absence looms large), Craig Bartholomew, or others.

 

Ist der Glaube an Gott basal?

Vor einigen Tagen habe ich darauf hingewiesen, dass der christliche Philosoph Alvin Plantinga in den Ruhestand gegangen ist. Wer sich mit dem Grundgedanken von Plantinga vertraut machen möchte, ist eingeladen, eine knappe Skizze zu lesen, die ich vor einigen Jahren verfasst habe:

Ist der Glaube an Gott basal?

Alvin Plantingas Kritik am klassischen Fundationalismus

Die Erkenntnistheorien der Neuzeit sind fundationalistisch (von lat. »fundatio« oder engl. »foundation« mit der Bedeutung Fundament). Der Begriff »fundationalistisch«sollte nicht in den Nähe der gegenwärtigen Fundamentalismusdebatte gerückt werden, obwohl der Begriff „Fundamentalismus“ in diesem Zusammenhang verwendet wird und einige Leute behaupten, fundationalistische Erkenntnistheorien erzwängen fundamentalistische Politik. Fundationalismus will einfach besagen, dass es sichere oder gewisse Grundlagen der Erkenntnis gibt.

Das, was unserem Wissen letzte Sicherheit gibt, wird auch Axiom genannt. Hans Albert bezeichnet eine erkenntnistheoretische Grundlage oder ein Axiom als archimedischen Punkt (Albert, Traktat über kritische Vernunft, S. 10) und knüpft damit an die Meditationen über die Grundlagen der Philosophie von René Descartes an (Meditationen, S. 20–21):

Die gestrige Betrachtung hat mich in so gewaltige Zweifel gestürzt, daß ich sie nicht mehr vergessen kann, und doch sehe ich nicht, wie sie zu lösen sind; sondern ich bin wie bei einem unvorhergesehenen Sturz in einen tiefen Strudel so verwirrt, daß ich weder auf dem Grunde festen Fuß fassen, noch zur Oberfläche emporschwimmen kann. Dennoch will ich mich herausarbeiten und von neuem eben den Weg versuchen, den ich gestern eingeschlagen hatte: nämlich alles von mir fernhalten, was auch nur den geringsten Zweifel zuläßt, genau so, als hätte ich sicher in Erfahrung gebracht, daß es durchaus falsch sei. Und ich will so lange weiter vordringen, bis ich irgend etwas Gewisses, oder, wenn nichts anderes, so doch wenigstens das für gewiß erkenne, daß es nichts Gewisses gibt. Nichts als einen festen und unbeweglichen Punkt verlangte Archimedes, um die ganze Erde von ihrer Stelle zu bewegen, und so darf auch ich Großes hoffen, wenn ich nur das geringste finde, das sicher und unerschütterlich ist.

Descartes hat das Bedürfnis nach Gewißheit. Mittels des methodischen Zweifels sucht er nach dem, was nicht mehr bezweifelt werden kann. Er scheint selbst überrascht darüber, dass man so gut wie alles begründet anzweifeln kann. Er sieht sich gezwungen, einzugestehen, »daß an allem«, was er früher für wahr hielt, »zu zweifeln möglich ist« (Meditationen, S. 41). Das Letzte, was er nicht mehr bezweifeln kann, entdeckt Descartes im Selbstbewusstsein (Meditationen, S. 22):

Da alle Gründe, die ich gegen meine Existenz vorbringen kann, zugleich für meine Existenz sprechen – denn ich bin ja der, der da denkt –, bin ich an einem Punkt angekommen, der nicht mehr bezweifelt werden kann, der deshalb notwending wahr ist. Und so komme ich, nachdem ich nun alles mehr als genug hin und her erwogen habe, schließlich zu der Feststellung, daß dieser Satz: »Ich bin, ich existiere«, sooft ich ihn ausspreche oder in Gedanken fasse, notwendig wahr ist.

Descartes hatte sein Fundament gefunden. Sein »cogito ergo sum« ist für ihn das Fundament, das eine feste, unerschütterliche Grundlage für das Wissen garantiert.

In der Ideengeschichte der Menschheit hat es viele solcher Fundamente gegeben. Für den auf Descartes zurückgehenden Rationalismus ist die selbstbewusste Vernunft der nicht mehr hinterfragbare Maßstab gesicherter Erkenntnis. Bei den Empiristen, wie z.B. bei Francis Bacon, gelten Sinneserfahrungen als ultimatives Kriterium für die Gewinnung zuverlässigen Wissens. Für Materialisten wie Marx und Engels soll alles eine uns vorgegebene Materie normieren. Arthur Schopenhauer oder später Hugo Dingler proklamierten aufgrund der Beobachtung, dass letzte Grundlagen immer durch Entscheidungen qualifiziert werden, den Willen als letztgültigen Gesetzgeber. Jürgen Habermas ist bescheidener. Das letzte Kriterium unserer Erkenntnis ist für ihn ein Konsens, der durch kompetente Redner innerhalb idealer Sprechsituationen kommunikativ ausgehandelt wird …

Hier geht es weiter: Plantinga.pdf

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