Rechtfertigungslehre

Die Rechtfertigungslehre überdacht

Die nachfolgende Besprechung des Buches:

wird in der nächsten Ausgabe von Glaube und Denken heute vollständig und mit ausführlichem Fußnotenapparat erscheinen. Hier also eine Vorschau:

NewImageAls Stephen Westerholm in den späten 70er Jahren für ein schwedisches Journal E. P. Sanders Werk Paul and Palestinian Judaism (1977) besprach, bemerkte er sofort, dass dieses Buch Zerrbilder des Judentums ausräumen und die Paulusforschung umstülpen wird. Tatsächlich formierte sich unter dem Eindruck von Sanders insbesondere im angelsächsischen Raum eine intensive Diskussion über die Theologie des Apostels. Dieser Wandel in der Paulusexegese, der heute unter dem Leitbegriff „The New Perspective“ zusammengefasst wird, ist von namhaften Gelehrten wie William Wrede (1859–1906), Albert Schweizer (1875–1965) oder Hans-Joachim Schoeps (1909–1980) vorbereitet worden. Aber erst durch Krister Stendal, E. P. Sanders, James Dunn, Heikki Räisänen, Michael Bachmann oder auch N. T. Wright hat die neue Sichtweise so viel Fahrt aufgenommen, dass man nicht mehr an ihr vorbei kommt.

Womit löste E. P. Sanders das Erdbeben aus? Er widerlegte nach eingehender Sichtung der rabbinischen Literatur die insbesondere seit Ferdinand Weber oder Paul Billerbeck gefestigte Auffassung, das Judentum sei eine Religion der Werkgerechtigkeit gewesen. Kennzeichnend für die Rabbinen ist – so Sanders – nicht das Leistungsdenken, sondern die Struktur des „Bundesnomismus“. Die Erfüllung des Gesetzes darf nicht als eine menschliche Vorleistung für den Eintritt in den Bund Gottes verstanden werden („getting in“), sondern lediglich als eine Bedingung für das Bleiben im Bund („staying in“). Der Mensch, so Sanders über die jüdische Soteriologie, gelangt zum Heil durch Gottes Gnade (die sich in der Erwählung zeigt) und verbleibt im Heil durch die Werke (bzw. Reue und Inanspruchnahme von Sühnemitteln nach dem Sündigen).

Unter diesen Voraussetzungen erhielte die Rechtfertigungslehre eine andere Bestimmung als in der reformatorischen Theologie. Paulus habe mit ihr nicht die jüdische Heilslehre, sondern den jüdischen Nationalismus angegriffen („Wir, und zwar nur wir, sind das auserwählte Volk.“). Er plädiert für eine „Ausweitung des Bundes auf die nichtjüdischen Nationen, dies aber gemäß dessen ursprünglicher und in der Tora selbst niedergelegten Intention“ (Strecker. „Paulus aus einer ‚neuen Perspektive‘“, S. 3–18, hier S. 13). Die paulinische Rechtfertigungstheologie zielt demzufolge nicht auf das Heil des Einzelnen ab, sondern ist vielmehr ethnisch ausgerichtet. N. T. Wright, der diese Neuinterpretation aufgreift, beschreibt ihr Anliegen beispielsweise so

„Bei der ‚Rechtfertigung‘ ging es im  1. Jahrhundert nicht darum, wie man eine Beziehung zu Gott aufbauen kann. Es ging um Gottes eschatologische gegenwärtige und zukünftige Definition derjenigen, die tatsächlich zu seinem Volk gehörten. In der Begrifflichkeit von Sanders: Es ging nicht so sehr um das ‚Hineingelangen‘ (getting in), auch nicht um das ‚Darinverbleiben‘ (staying in), sondern vielmehr darum, ‚wie man unterscheiden konnte, wer drin war‘. In der üblichen Theologensprache: Es ging nicht so sehr um Soteriologie, sondern um Ekklesiologie; nicht so sehr um Erlösung, sondern um die Kirche.“ (N. T. Wright. Worum es Paulus wirklich ging. 2010. S. 148)

Die NPP hat Westerholm seit seiner „Begegnung“ mit Sanders nicht mehr losgelassen. Frühzeitig erkannte der Kanadier den Stellenwert des „Paradigmenwechsels“, hat sich gründlich in das Themengebiet eingearbeitet und mit einigen Büchern und Aufsätzen substantiell zur Kontroverse beigetragen. Sein bisher umfangreichstes Buch, Perspectives Old and New On Paul aus dem Jahr 2004, gilt der Fachwelt als wichtiges Referenzwerk. Westerholms jüngster Band Justification Reconsidered fasst nun den Ertrag seiner bisherigen Arbeiten zur Rechtfertigungslehre zusammen. Es enthält Teile seines großen Buches sowie zwei bereits veröffentlichte Aufsätze.

Er beginnt seine Ausführungen mit der Kritik an einer prominenten These des schwedischen Exegeten Krister Stendahl (S. 1–22). Dieser behauptete 1963 in seinem Aufsatz „The Apostle Paul and the Introspective Conscience of the West“, dass unser Paulusverständnis zu Unrecht von der Rechtfertigungslehre vereinnahmt worden ist. „Einige Christen meinen“ – so Stendahl – „die Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben sei die Antwort auf die Frage des geplagten Gewissens: Wie kann ich der Gnade Gottes gewiss sein? Antwort: durch Glauben. Aber das war nicht Paulus‘ Gedanke. Paulus hatte in diesem Sinn nie ein Problem mit dem Gewissen. Er wusste, dass er gemäß dem Gesetz vollkommen war“ (K. Stendahl, Das Vermächtnis des Paulus, 2004, S. 37). Der paulinische Begriff von „der Rechtfertigung aus Glauben war keine Antwort auf die Frage, wie bekomme ich einen gnädigen Gott“ (K. Stendahl, Das Vermächtnis des Paulus, 2004, S. 37). Hauptthema des Apostels sei die Hereinnahme der Heiden in die Heilsgeschichte, nicht die Rettung des Einzelnen. Sein Verdienst sei der Gedanke, Heiden können Vollmitglieder der Gottesgemeinde werden, ohne dabei an die mosaischen Gesetzesbestimmungen gebunden zu sein.

Westerholm fragt nun, ob diese Interpretation dem paulinischen Befund näher kommt als die der „Alten Perspektive“. Bei seinen Erörterungen kommt eine Stärke der „Kurzfassung“ besonders zum Tragen: Der Autor verliert sich nicht in den Details der ausgedehnten Debatte, sondern befragt Bibeltexte. Er will wissen: Geht es Paulus um Missionstheologie und Ekklesiologie oder geht es ihm um die Frage, die Luther später so zuspitzte: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? (vgl. S. 5).

Westerholm konsultiert den Ersten Thessalonicherbrief und die Korintherbriefe und landet schließlich beim Galater- und Römerbrief (knapp auch bei dem Philipperbrief). Das Ergebnis ist für Westerholm unstreitig: „‚Erlösung‘ meint im Thessalonicherbrief die Rettung vor dem Zorn Gottes und dem Gericht; es meint genau das ebenfalls im Korintherbrief“ (S. 7). Die grundsätzliche Stoßrichtung von Paulus‘ Mission ist es, Sünder von dem verdienten Gericht zu retten. „Wenn Paulus über die Rechtfertigung des Sünders spricht, ob im Galaterbrief oder in anderen Briefen, spricht er darüber, wie Sünder als gerecht erfunden werden können“ (S. 15). „Paulus’ Botschaft der Rechtfertigung adressiert nicht nur die Not einiger Heiden, sondern die Not aller Menschen – die von Juden wie Petrus und Paulus nicht weniger als die der Heiden in Galatien – da nämlich alle Sünder sind“ (S. 15).

Im zweiten Kapitel (S. 23–34) befasst sich Westerholm mit der Auffassung, Rechtfertigung aus Glauben sei bei den Juden vor und nach Jesus eine Selbstverständlichkeit gewesen. „An dem Punkt, bei dem viele den entscheidenden Kontrast zwischen Paulus und dem Judentum gefunden haben – nämlich bei dem von Gnade und Werke“, schreibt Sanders 1977, „befindet sich Paulus in Übereinstimmung mit dem palästinensischen Judentum … Errettung geschieht durch Gnade, aber das Gericht erfolgt gemäß der Werke; Werke sind die Bedingung dafür, „drin“ [also im Bund, R. K.] zu bleiben, bringen jedoch keine Errettung“ (E. P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism, 1977, S. 543).

Wieder fragt Westerholm, ob das behauptete symbiotische Verhältnis von Gnade und Werken bei Paulus wirklich vorliegt. Er arbeitet die These hauptsächlich am Römerbrief ab. Was meint der Apostel, wenn er beispielsweise in Röm 11,6 schreibt: „Wenn aber durch Gnade, dann nicht mehr aufgrund eigenen Tuns, da die Gnade sonst nicht mehr Gnade wäre“? Sanders – so Westerholm – hat zurecht auf die bedeutsame Stellung der Gnade im Alten Testament verwiesen. Doch während Sanders davon ausgeht, dass der Mensch grundsätzlich fähig ist, zu tun, was Gott verlangt, spricht Paulus dem Menschen diese Fähigkeit gerade ab. Die Werke eines Menschen können also das Bleiben im Bund nicht sichern. Die Lage des Menschen wird bei Paulus verzweifelter beschrieben, als die Rabbinen sich das vorstellen konnten (vgl. S. 32–33).

Schwerpunkt des vierten Kapitels ist die Rechtfertigungslehre von N. T. Wright (S. 51–74). Für Wright müssen die Begriffe „Gerechtigkeit“ und „Rechtfertigung“ bundestheologisch verstanden werden. Er unterstreicht seine Auffassung durch den Verweis auf die Gerichtssprache, der Paulus die Schlüsselbegriffe entnommen habe. „Gerechtigkeit, dikaiosynē, ist der Status der Bundesmitglieder. Der Unterton stammt selbstverständlich von der Position her, die einem Angeklagten zukommt, nachdem das Gericht ihn oder sie freigesprochen hat (N. T. Wright, Justification, 2009, S. 113). Ein Gerechtfertigter ist also jemand, der von einem Gericht durch einen Sprechakt für unschuldig erklärt wird, unabhängig von seiner tatsächlichen moralischen Qualität. Die Vorstellung, man brauche eine fremde moralische Gerechtigkeit (denken wir beispielsweise an Luthers „fröhlichen Wechsel“), um vor Gott bestehen zu können, entstammt nach Wright nicht der Bibel, sondern den Kategorien der scholastischen Theologie.

Westerholm erkennt an, dass Wright insgesamt einen eindrucksvollen Gesamtentwurf geliefert hat, in dem alle Paulustexte ihren Platz finden (vgl. S. 59). Allerdings ist Wrights Interpretation der Gerechtigkeit auf dem Hintergrund des alttestamentlichen und paulinischen Gebrauchs unhaltbar. Wenn das Alte Testament von „Gerechtigkeit“ spricht, kann schwerlich die Mitgliedschaft im Bund Gottes gemeint sein. So wird beispielsweise Noah für gerecht erklärt, bevor die Bibel überhaupt von einem Bund spricht (vgl. 1Mose 6,9). „‚Gerechtigkeit‘ meint nicht und kann naturgemäß nicht die Mitgliedschaft in einem Bund bezeichnen. Genauso meint sie nicht und kann naturgemäß nicht den Status bezeichnen, der durch eine Gerichtsentscheidung herbeigeführt wird“ (S. 63). Bundestreue kann durchaus Ausdruck von Gerechtigkeit sein, sollte aber nicht mit ihr selbst verwechselt werden (vgl. S. 71). „Die Betonung Wrights auf Christus als die Erfüllung göttlicher Verheißungen, die Abraham und seinen Nachkommen gegeben wurden, steht ganz in der Linie von Paulus‘ Lehre (Röm 15,8). Aber wir können sogar noch weitergehen. Heutzutage sollten christliche Gelehrte so frei sein, in dem, was Paulus über die Rechtfertigung lehrte, einen Grund zu finden, warum niemand aufgrund seiner Ethnie, seiner Klasse, seines Geschlechtes oder einer anderen Eigenschaft vor Gott bestehen kann. Paulus’ Sicht ist letzten Endes, dass menschliche Wesen jeglicher Couleur schuldhaft vor Gott sind und dass Gott jeden für gerecht erklärt, der glaubt. Das Ergebnis unserer Diskussion ist allerdings, dass Paulus mit seiner Rechtfertigungslehre das vertreten hat, was dann auch Augustinus, Luther und andere vertreten haben: Nur durch den Glauben an Jesus Christus können Sünder vor Gott gerechtfertigt werden“ (S. 73–74).

So hilfreich ich die Ausführungen Westerholms in diesem Kapitel finde, ich hätte mir eine etwas gründlichere Erörterung über das Verhältnis von forensischer und effektiver Rechtfertigung gewünscht.

Das fünfte Kapitel (S. 75–85) ist dem Syntagma „Werke des Gesetzes“ (griech. ἔργα νόμου [erga nomou]) gewidmet. Luther war es ein Herzensanliegen, die Glaubensgerechtigkeit vor jeglicher Vermischung mit den Werken zu schützen. Obwohl überzeugt, dass wahrhaftiger Glaube selbstverständlich Frucht und damit auch Werke hervorbringt, sollten die guten Taten nie als Grund für die Rechtfertigung erscheinen, da allein der Glaube an Jesus Christus rettet. Doch gerade an diesem Punkt fordern die Vertreter der NPP die „Entlutherisierung“ der Glaubensgerechtigkeit. Luther, so der Vorwurf, habe seine eigene Gewissensnot auf den Befund projiziert, also nicht Exegese, sondern Eisegese betrieben. E. P. Sanders formuliert zum Beispiel ähnlich wie Krister Stendahl

„Luther war von der Tatsache überwältigt, daß er, wiewohl Christ, sich gleichwohl als ‚Sünder‘ empfand: Er litt unter Schuld. Paulus dagegen litt nicht unter einem Gewissen, das sich schuldig fühlte. Vor seiner Bekehrung zum Apostel Christi war er, wie wir sahen, ‚untadelig‘ hinsichtlich der ‚Gerechtigkeit, die das Gesetz fordert‘ (Phil. 3,6). Als Apostel konnte er sich nicht vorstellen, daß beim Jüngsten Gericht irgend etwas gegen ihn vorgebracht werden könnte, obgleich er die Möglichkeit offenließ, daß Gott einen Tadel an ihm finden würde (1. Kor. 4,4). Luther, von Schuld gepeinigt, interpretierte die paulinischen Stellen über ‚Gerechtigkeit aus dem Glauben‘ so, als würde Gott einen Christen für gerecht erachten, selbst wenn er oder sie ein Sünder ist. Luther verstand ‚Gerechtigkeit‘ juristisch, als eine Unschuldserklärung, doch auch als fiktiven Status, der Christen ‚durch bloße Zurechnung‘ zugeschrieben wird, weil Gott gnädig ist … Luthers Betonung des fiktiven, bloß zugerechneten Charakters der Gerechtigkeit ist, wiewohl oft als inkorrekte Interpretation des Paulus erwiesen, einflußreich geworden, weil sie einem weitverbreiteten Gefühl der Sündhaftigkeit entspricht und mit ihrem individualistischen und introspektiven Akzent ein wesentliches Element des abendländischen Persönlichkeitsbegriffs bildet. Luther suchte und fand Entlastung von Schuld. Doch seine Probleme waren nicht die paulinischen, und wir interpretieren Paulus falsch, wenn wir ihn mit Luthers Augen sehen.“ (E. P. Sanders, Paulus, 1995, S. 63–65. Dass Sanders weder die Theologie des Paulus noch die von Luther in ihren Tiefenstrukturen verstanden hat, zeigt Wilfried Härle in: W. Härle. „Paulus und Luther: Ein kritischer Blick auf die ‚New Perspective‘“. ZThK, Bd. 103 (2006). S. 362–393).

Um was ging es Paulus dann, wenn er von den „Werken des Gesetzes“ spricht? Die Exegeten, die der NPP nahe stehen, können sich nicht auf eine positive Bestimmung einigen. Unstreitig ist aber für sie, dass Paulus mit den Gesetzeswerken nicht das bezeichnet, was in der Auslegungsgeschichte so lange angenommen worden ist, nämlich „gute Werke“. Es gehe im Kern darum, die Rolle der jüdischen Gesetzesbestimmungen (auch Halakhot genannt) im Blick auf das Verhältnis von Juden- und Heidenchristen zu klären. James Dunn meint beispielsweise, dass Paulus, wenn er von Gesetzeswerken spricht, an Abgrenzungsbestimmungen (engl. ‚boundery markers‘) denkt, die die Juden von den Heiden trennen. Es war einer von James Dunns großen Durchbrüchen in der Entwicklung der „Neuen Perspektive“ – schreibt N. T. Wright –, als er erkannte, dass die „Werke des Gesetzes“, vor denen Paulus warnte, „nicht gute moralische Taten waren, um Rechtfertigung (oder Erlösung) zu empfangen, sondern konkrete Gebote und Bestimmungen, welche Juden und Heiden voneinander trennten“ (N. T. Wright, Justification, 2009. S. 148).

Im Galaterbrief trennt vor allem die Beschneidung. Paulus ging es folglich nicht um eine Abhandlung zur Soteriologie, sondern um das Niederreißen von kultischen und nationalen Grenzzäunen (also ein Thema, das eher in die Ekklesiologie gehört). Er wollte klarstellen, dass der Christusglaube alle Jünger zusammenbringt und somit die Beschneidungspraxis oder kultische Speisevorschriften die Gemeinschaft nicht weiter beeinträchtigen dürfen.

Westerholm stimmt dahin gehend zu, dass im Galaterbrief die Stellung der Werke entlang der Beschneidungsthematik diskutiert wird. Aber das, worauf Paulus letztlich abzielt, wenn er von den Gesetzeswerken spricht, kommt Luthers guten Werken näher als den Grenzmarkierungen Dunns. „Im Römerbrief wie im Galaterbrief gebraucht Paulus die ‚Werke des Gesetzes‘ (Röm 3,20a.28) austauschbar mit dem ‚Gesetz‘ (3,20b.21), um von dem Weg zur Gerechtigkeit zu sprechen, den er ablehnt und er zeigt weiter (wie im Galaterbrief), weshalb das Gesetz als solches nicht zum Segen Gottes führen kann“ (S. 79). Paulus beantwortet also nicht die Frage, ob Heidenchristen ohne Gesetzesobervanz Tischgemeinschaft mit den Judenchristen haben können, sondern zeigt, dass das Gesetz als Weg zur Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, nicht taugt.

Vor dem letzten Kapitel, das die Ergebnisse der Untersuchung zusammenfasst, geht Westerholm noch kurz auf die apokalyptische Lesart des Neuseeländers Douglas Campbell ein (S. 87–94). In seinem 1200 Seiten umfassenden Werk Deliverance of God nimmt Campbell die traditionelle Rechtfertigungslehre, von ihm lieber als „Rechtfertigungstheorie“ bezeichnet, ins Visier. Für Campbell sind in ihr biblische Schlüsselbegriffe auf verhängnisvolle Weise fehlinterpretiert worden. Besonders die reformatorische Rechtfertigungslehre sei rationalistisch und individualistisch verengt und fördere mit ihren juridischen Kategorien Formen eines christlichen Faschismus. Campbell bemüht diesen Begriff nicht nur im allegorischen Sinn, sondern lässt die Anfrage gelten, ob nicht Auschwitz auch die Frucht einer reformatorisch interpretierten Glaubensrechtfertigung sein könne.

Bezug nehmend auf Einsichten der NPP, bemüht sich Campbell um eine rhetorisch-apokalyptische Neuinterpretation insbesondere des Römerbriefes. Sein Gegenentwurf hebt hervor, dass Rechtfertigung ein von Gott gewirktes völlig bedingungsloses Befreiungshandeln ist. Die so präsentierte Soteriologie kommt – wenig überraschend – dann auch ohne stellvertretende Sühne aus.

Das Buch von Stephen Westerholm habe ich mit großem Gewinn gelesen und kann es Anhängern wie Gegnern der Alten Paulusperspektive sowie Unentschiedenen ans Herz legen. Für Experten, die sich bereits in die Debatte vertieft haben, wird es wenig Neues bringen. Allerdings haben sich – so jedenfalls mein Erfahrungswert – nur wenige Christen eingehend mit der Alten Perspektive beschäftigt. Der Kreis jener, die mit den Neuen Perspektiven vertraut sind, dürfte so insbesondere in Deutschland überschaubar sein.

Die Auswirkungen der Verschiebung sind jedoch überall zu sehen. Es lässt sich, überzogen, aber nicht entstellend, auf folgende „Formel“ bringen: So, wie aus der Sicht der NPP die „Hauptsünde“ des jüdischen Volkes nicht die fehlende Liebe zu Gott, sondern die fehlende Wertschätzung der Schöpfung und der heidnischen Völker gewesen ist, erscheint heute die dürftig Weltgestaltung unter der Herrschaft des Königs Jesus als „Hauptsünde“ der Kirche. Dabei muss es – wie das Westerholm zeigt – diesen Dualismus gar nicht geben. Kirche, als mit Gott durch Jesus Christus versöhnte Gemeinschaft der Heiligen, lässt sich sehr wohl in die Weltverantwortung rufen. Sie weiß aber darum, dass es ihr wichtigster Auftrag ist, an Christi statt zur Versöhnung mit Gott aufzurufen (2Kor 5,20) und alle Völker zu Jüngern zu machen (Mt 18,20).

Schließen will ich mit einem Zitat von Simon Gathercole, der unter James Dunn seine Dissertation geschrieben hat und heute als Neutestamentler an der Universität in Cambridge lehrt. Er empfiehlt das Buch mit folgenden Worten: „Das Lesen von Stephen Westerholms Skizze der paulinischen Rechtfertigungslehre ist eine Pflicht und eine Freude. Dieser Band führt Studenten klar und elegant in das Thema ein. Und er wirft den Vertretern der Neuen Perspektive die Fehdehandschuhe vor. Wie werden sie antworten?“

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Die Rechtfertigungslehre von N.T. Wright

Justification2Die neue Ausgabe des CREDO-Magazins (Vol. 4, 1/2014) bringt einige sehr gute Beiträge zum Thema „Rechtfertigung“, unter anderem ein Gespräch mit Michael Horton, Brian Vickers, J.V. Fesko, Guy Waters, Korey Maas, and Philip Ryken.

Thomas Schreiner hat N.T. Wrights neues Paulusbuch besprochen und dabei auch die Frage der „Glaubensgerechtigkeit“ analysiert. Er bringt es gut auf den Punkt:

Wright’s statement about individual assurance raises another question. He insists rightly that justification isn’t a process. One doesn’t become more justified as time passes, and those who are justified are assured of final salvation. On the other hand, Wright also says that final justification is based on works. If final justification is based on works, then how can believers have assurance that they will be justified on the final day? Wright never answers or attempts to answer that question. I would suggest along with many others that it is better to conceive of works as the fruit or evidence of justification. Wright knows the distinction posited here but finds it to be unhelpful. Still, the language of basis should be rejected, for it suggests that works are the foundation of our right- standing with God, but how can that be the case if justification is by grace? And how can we truly have assurance if justification is based in part on works? Paul grounds justification on the death and resurrection of Jesus Christ. Just as Jesus was declared to be in the right at his resurrection, so too all those who are united with Christ by faith also stand in the right because they belong to the one who has been vindicated by God.

Das CREDO-Magazin kann hier heruntergeladen werden: Justification2.pdf.

Wenn Gott Recht bekommt

Iwand (Dogmatik-Vorlesungen 1957-1960), 2013,  S. 132–133):

Wir müssen uns für gut halten, müssen von der eigenen Gerechtigkeit leben, müssen den Menschen an sich für gerecht und wahrhaftig halten, mag es auch im einzelnen Verstöße gegen diese Idee des Menschen geben. Wir sind nun einmal blind, und was wir aus uns selbst heraus wissen von Sünde und Bosheit, unser moralisches Wissen um unsere Endlichkeit und Schwäche, um unsere sittliche Verkommenheit und grässliche Pervertiertheit gleicht dem Gefühl eines Trinkers, der mal im Rausch seiner Selbstverachtung Luft macht; es hat aber mit dem Glauben und dem Bekenntnis so wenig zu tun wie der moralische Kater mit einer ernsthaften und entschlossenen Umkehr und Abwendung vom Laster. Es ist klassisch zu nennen, wie Luther hier das Bekenntnis der Sünde als ein „cedere et credere“ [Raum geben und glauben] formuliert. Er meint, dass jener Rechtfertigung des Gottlosen von Gott her aus reiner Gnade eine Rechtfertigung Gottes im Menschen aus reinem Glauben entspricht. Gott bekommt nun auch Recht in mir, ich mache mir sein Urteil über mich zu eigen, ich „gebe ihm Raum“ und „glaube“ ihm. Dass Gott Recht bekommt in einem Menschen – das ist der große, weltbewegende, alle Engel im Himmel jauchzen machende Akt, den die Schrift Glauben nennt. Der Mensch hört auf, sein eigener Arzt zu sein; die ewige Wahrheit, das was Gott in Ewigkeit vom Menschen, von uns weiß und denkt, was er für uns tut und veranstaltet, das erfüllt jetzt, im Glauben, einen Menschen. 

Bis zur Vergewaltigung der Texte

Der katholische Theologe Vittorio Subilia (1911–1988) schreibt in seiner Untersuchung zur Rechtfertigungslehre über die neutestamentliche Forschung (Die Rechtfertigung aus Glauben, 1981, S. 31–32):

Man gewinnt den verwirrenden Eindruck, dass die Exegese bis zur Vergewaltigung der Texte Druck ausübt, um sie sagen zu lassen, was sie nicht sagen, um sie so mit den Tendenzen der Epoche in Gleichschritt zu bringen und sie von dem Verdacht eines geheimen Einverständnisses mit einer Ideologie zu befreien, die dem Individuum und dem System auf der Suche nach religiösen Tröstungen dient, um das eigene schlechte, soziale Gewissen zu ertragen und zum Schweigen zu bringen. Das heißt, hinter dem ganzen philologischen und historisch-kritischen Apparat verbirgt sich ein heimlicher Mangel an Freiheit, der der Exegese verbietet, den Sinn der Botschaft authentisch zu erfassen und ihn mit überzeugender Kraft unter dem Volk der Gläubigen zu verbreiten.

Die Unfreiheit und Mutlosigkeit bei der Wahrnehmung und Auslegung der Textbefunde ist nicht nur im Blick auf die Frage der Glaubensgerechtigkeit zu spüren. Habt den Mut, die Texte wieder sprechen zu lassen!

Todd Billings: Gemeinschaft mit Christus

9780801039348.jpgMein persönliches Buch des Jahres 2011 heißt:

  • Todd Billings: Union with Christ: Reframing Theology and Ministry for the Church, Baker Books, 2011, 192 S.

Billings ist ein kenntnisreicher und eigenständiger Denker. Dieses Buch erörtert das Thema der Christusgemeinschaft nicht nur auf akademisch-theologischen Niveau, sondern aktualisiert es auf persönliche und faszinierende Weise für das kirchliche Leben.

Zum Buch schreibt der Verlag:

Accomplished theologian J. Todd Billings recovers the biblical theme of union with Christ for today’s church, making a fresh contribution to the theological discussion with important applications for theology and ministry. Drawing on Scripture and the thought of figures such as Augustine, Calvin, Bavinck, and Barth, Billings shows how a theology of union with Christ can change the way believers approach worship, justice, mission, and the Christian life. He illuminates how union with Christ can change the theological conversation about thorny topics such as total depravity and the mystery of God. Billings also provides a critique and alternative to the widely accepted paradigm of incarnational ministry and explores a gospel-centered approach to social justice. Throughout, he offers a unique and lively exploration of what is so amazing about being united to the living Christ.

 

Rechtfertigung oder Selbstrechtfertigung?

Ray Ortlund schreibt in der neuen Ausgabe von Glauben und Denken heute über die „Selbstrechtfertigung“:

Wir verlangen zutiefst danach, uns selbst zu schützen. Gleichzeitig hüllt sich unsere Sünde in einen unsichtbaren Schleier, der verhindert, dass wir sie klar sehen. Martyn Lloyd-Jones beschreibt unsere Unfähigkeit zur Selbstwahrnehmung so: „Sie werden nie spüren, dass Sie ein Sünder sind, denn aufgrund Ihrer Sünde wird etwas in Ihnen Sie stets gegen jede Anklage verteidigen. Wir stehen alle auf gutem Fuß mit uns selbst und finden auch stets gute Gründe zu unserer Verteidigung. Selbst wenn wir den Versuch unternehmen, zu spüren, dass wir Sünder sind – spüren werden wir es nie. Es gibt nur einen einzigen Weg, zu erkennen, dass wir Sünder sind: Wir müssen wenigstens eine trübe, verschwommene Vorstellung von Gott haben.“

Die Geisteshaltung blinder Selbstrechtfertigung lässt den Brief des Paulus an die Galater von unendlicher Bedeutung für uns Christen werden. Wir werden den „Fehler der Galater“ nicht los, indem wir einfach die Rechtfertigung aus Gnade annehmen. Wenn wir sie allerdings wirklich annehmen, erlangen wir ein Heilmittel gegen unsere zwanghaften Bemühungen, uns selbst zu rechtfertigen. Der Puritaner William Fenner lehrt uns, die Rechtfertigung aus Glauben allein als beständige Quelle zu sehen: „So, wie wir täglich sündigen, so rechtfertigt er uns täglich, und wir müssen ihn auch täglich darum bitten. Die Rechtfertigung ist eine endlos sprudelnde Quelle, daher können wir nicht erwarten, das ganze Wasser auf einmal trinken zu können.“

Die Rechtfertigung aufgrund eigener Gerechtigkeit ist nicht nur ein Problem der Galater oder der Katholiken – es ist ein allgemein menschliches Problem, ein Problem des Christen. Sie und ich sind bestenfalls einen Zentimeter von seinen dunklen Mächten entfernt. Es ist ohne weiteres möglich, die Lehre von der Rechtfertigung aus Gnade aus ganz selbstgerechten Beweggründen zu predigen und zu verteidigen und somit deren bittere Früchte zu ernten. Zu dieser Art von Diskrepanz kommt es, wenn sich in protestantischen Kirchen, die den Herrn sonst aufrichtig lieben, negative Einflüsse geltend machen.

Ligon Duncan: Glaubensgerechtigkeit

AP0906.jpgIm Jahr 2005 erschien in der Zeitschrift Australian Presbyterian ein Interview mit Ligon Duncan über die Rechtfertigungslehre. Duncan betont den Aspekt der Anrechnung einer fremden Gerechtigkeit. Wer glaubt, wird nicht durch etwas in ihm oder seine Taten gerechtfertigt, sondern durch die Anrechnung dessen, was Christus für uns getan hat.

Now Paul takes this word »justify«, which means to »declare someone righteons«, and he goes on to say that we have been justified, that is, declared to be »not guilty« as a gift by God’s grace through the redemption which is in Jesus Christ. And so Paul, in Romans 3:24, makes it clear that the basis of our being declared not guilty is not to be found in us; instead, we are »justified« because of the redemption that is in Christ Jesus. The gift of being declared accepted by God is not based on something in us or in something that we do; rather, it is based on something which God has done in Jesus Christ. And that’s good news! We have someone else who has accomplished our salvation.

Der Beitrag:

  • J. Ligon Duncan: »Paul in Perspective«, Australian Presbyterian, September 2006,

indem Duncan sich auch über die Neue Paulusperspektive (und N.T. Wright) äußert, ist immer noch sehr lesenswert: AP0906.pdf.

Die Glaubensgerechtigkeit bei Cusanus

Der Reformator Johannes Kymaeus (1498–1552) soll darauf hingewiesen haben, dass bereits bei dem Universalgelehrten Nikolaus von Kues das Rechtfertigungsverständnis Martin Luthers vorgezeichnet sei. Nun finden wir bei Nikolaus, auch Cusanus genannt, eine Menge Merkwürdigkeiten (zur Einführung in sein Leben und Werk siehe auch hier). Bei der Lektüre einiger seiner Schriften ist mir allerdings aufgefallen, dass bei ihm die Verherrlichung Gottes, die Gnadentheologie und eine Glaubensgerechtigkeit, die Gott selbst schafft, tatsächlich betont werden.

Hier einige Beispiele (zitiert in Anlehnung an: Nicolas Cusanus: Philologische und theologische Schriften, Wiesbaden, Matrix Verlag, 2005):

Die Frage: Warum ließ Gott Adam, unsern Stammvater, sündigen und uns alle infolge seiner Sünde sterben? löst sich im Hinblick auf das Wort Christi an den Blindgeborenen, dass in seiner Heilung sich die Herrlichkeit Gottes offenbaren sollte. Dass es Gott zuließ, dass Adam in Sünde geriet, das rührte nicht von seiner Sünde her, sondern damit die Herrlichkeit Gottes offenbar würde, denn obgleich Gott an der Sünde, deren Entstehen er verhinderte, kein Gefallen hatte, so weiß er doch auch aus dem Bösen Gutes hervorzubringen. Das läßt sich von allen zur Seligkeit Prädestinierten sagen, von denen man weiß, dass sie Sünder gewesen. Die heilige Schrift fasst alles unter der Sünde, damit den Gläubigen die Verheißung aus dem Glauben zuteil werde. Gott wollte seine Herrlichkeit in seinem Sohne offenbaren, damit, wie durch einen Menschen der Tod in die Welt kam, so durch Christus Jesus das Leben in allen käme. Der Sohn verherrlicht den Vater, indem er die Schätze der Herrlichkeit des Vater aufzeigt und mitteilt, der Vater verherrlicht den Sohn, weil er durch ihn das ewige Leben verleiht. (S. 534)

Jeder Sünder ist ein Knecht der Sünde. Der Knecht aber kann sich nicht selbst aus der Knechtschaft befreien. Wenn die Werke des Gesetzes und seine Handlungen ihn rechtfertigen, so könnte er sich selbst rechtfertigen. Das ist aber unmöglich, ja ein Widerspruch. Denn wie es ein Widerspruch ist, dass jemand sich selbst erschaffen kann – es wäre ja, bevor er wäre –, so ist es auch bei der Rechtfertigung. Wer sich selbst rechtfertigen könnte, wäre gerecht, bevor er gerecht ist. Dass daher der Ungerechte gerecht wird, kann nicht durch die Gerechtigkeit des Ungerechten oder die gerechten Werke des Ungerechten, sondern nur durch die Gerechtigkeit des Gerechten erfolgen, der nur durch die Gnade gerecht macht, wen er will. Es gibt aber nur eine und nur eines einzigen Gerechtigkeit. Dies ist die Gerechtigkeit des einen Mittlers, der notwendig Gott und Mensch ist. Dieser will nur das Gerechte. Weil er durch Gnade rechtfertigen will und was er will, das Gerechte ist, so ist es gerecht, dass der wirklich gerechtfertigt werde, den er rechtfertigen will. Damit dieser sein Wille die rechtfertigende Gerechtigkeit sei, wurde er selbst unsere Gerechtigkeit, indem er sich selbst hingab. So brachte er auf ewig unsere Heiligung zu Stande. Gott setzte ihn zum gnädigen Vermittler durch den Glauben in dessen Blute, zur Offenbarung seiner Gerechtigkeit. Die Gnade, durch die wir gerettet werden, ist Gerechtigkeit. Alles also, was durch Moses auf göttlichen Befehl in Bezug auf Rechtfertigung geschrieben und angeordnet wurde, sollte uns andeuten, dass durch Tod und Besprengung mit Blut, d.i. durch Gemeinschaft des Todes die Rechtfertigung und Heiligung, die der Seele das Leben geben, zu geschehen habe … (S. 553–554)

Der Schöpfer ist auch der Rechtfertiger. Denn gleichwie die Erhebung des Nichts zum Sein ein Werk der Allmacht ist, so ist auch die Versetzung des Sünders in den Zustand der Rechtfertigung das Werk keiner geringen Kraft. Denn nur die unendliche Güte kann dies bewirken, da keine beschränkte Kraft es vermag. Denn wie will ein Toter sich selbst ins Leben erwecken, wenn die Kraft des Lebens in ihm fehlt? So kann auch die Gottlosigkeit sich nicht selbst zur Gerechtigkeit erheben, da in dem Gottlosen die Gerechtigkeit ganz erloschen ist. Dies wird also das Werk desselben sein, der auch das Etwas aus dem Nichts und aus dem Tode ins Leben bringt. (S. 556)

Kritische Blicke auf die »Neue Paulusperspektive«

Die Diskussion um die Stellung des Gesetzes und die Bedeutung der neutestamentlichen Rechtfertigungslehre hat in den letzten 30 Jahren durch die sogenannte »Neue Paulusperspektive« (NPP) ein anderes Gesicht bekommen. Die Entlutherisierung der Rechtfertigungslehre und die Kritik am Heilsindividualismus gaben der transformatorischen Theologie erheblichen Rückenwind. Gemäß der NPP ist es Paulus nämlich gar nicht so sehr um die Frage gegangen, wie der Mensch mit Gott versöhnt werden kann. Paulus zielte vielmehr auf die ethnisch-soziale Abgrenzung der Juden ab und wollte die Heilsbotschaft von nationalistischen Bestrebungen befreien. Das Heil gilt allen Völkern. Insofern ist das Evangelium eine Botschaft, die ethnische Schranken überwinden hilft und dafür motiviert, ungerechte soziale Strukturen in der Welt aufzubrechen.

Nachdem sich etliche angelsächsische Exegeten dem »neuen Paradigma« zunächst euphorisch angeschlossen hatten, formierte sich bald heftige Kritik, die auf die Einseitigkeiten der NPP aufmerksam machte. Theologen wie Seyoon Kim, Stephen Westerholm, Mark Seifrid, G. P. Waters (studierte bei Sanders) oder Simon Gathercole (studierte bei Dunn) haben beispielsweise steile Thesen der NPP entkräftet und so auch den unfreiwilligen Namensgeber der NPP, James Dunn, dazu bewegt, einzulenken. Dunn gibt inzwischen freimütig zu, dass die Mission des Paulus nicht einseitig auf soziologische und politische Ambitionen reduziert und der Rechtfertigungslehre ihre soteriologische Dimension nicht genommen werden darf.

In Deutschland hatte es die NPP zunächst schwer. Exegetische Größen wie Martin Hengel oder Peter Stuhlmacher haben schon früh Zweifel angemeldet. Friedrich Avemarie konnte zeigen, dass die frührabbinischen Texte nicht so leicht auf eine einheitliche Linie zu bringen sind, wie E.P. Sanders das behauptet hatte. Freilich lies sich die Kritik aus Deutschland (besonders die aus Tübingen) auch auf den Einfluss Luthers zurückführen und natürlich gibt es inzwischen in Deutschland renommierte Vertreter der NPP. Insgesamt setzt aber meines Erachtens eine Phase der Konsolidierung ein, die einerseits neue Einsichten der NPP angemessen würdigt und andererseits darauf verweist, dass sich alles in allem nicht so viel geändert hat und sich Luthers Rechtfertigungslehre nicht nur am mittelalterlichen Katholizismus abarbeitete, sondern ihre wesentlichen ›Entdeckungen‹ tatsächlich Paulus verdankt.

Einige jüngere Arbeiten aus dem deutschen Raum möchte ich hier kurz vorstellen:

Michael Wolter hat in seinem gerade erschienen Paulusbuch (Michael Wolter: Paulus: Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlagsgesellschaft, 2011) bei seinen Erörterungen zur paulinischen Rechtfertigungslehre die Einsichten der NPP einfließen lassen (siehe besonders S. 340–409). Die Gemeinsamkeit der neuen Paulusperspektiven liegt für Wolter in der neuen Verortung der Rechtfertigungslehre (S. 341):

Inzwischen hat sich unter dieser Bezeichnung eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Interpretationen ausdifferenziert, deren Gemeinsamkeit aber darin besteht, dass sie die paulinische Rechtfertigungslehre nicht (wie das z.B. bei Luther, Bultmann und Käsemann der Fall ist) in der Anthropologie, sondern in der Ekklesiologie ansiedeln. Sie schreiben ihr – vereinfachend gesagt – im Wesentlichen die Funktion zu, die theologischen Implikationen und Konsequenzen der paulinischen Christusverkündigung unter den Völkern zu reflektieren. Charakteristisch für sie ist dabei die Abgrenzung von der lutherischen Paulusrezeption, wie sie im 20. Jahrhundert vor allem in den Interpretationen der paulinischen Rechtfertigungslehre durch Rudolf Bultmann, Ernst Käsemann und deren Schüler vertreten wurde. Die ›New Perspective‹ verlangt, das Rechtfertigungsverständnis Martin Luthers von der paulinischen Rechtfertigungstheologie strikt zu unterscheiden, weil ihrer Meinung nach das paulinische Rechtfertigungskonzept verfälscht wird, wenn man es in den Kategorien der reformatorischen Theologie interpretiert.

Die Resultate der neuen Perspektiven haben bei Wolters eigenen Untersuchungen zur Rechtfertigungslehre freilich ihre Spuren hinterlassen. Doch sperrt er sich gegen vereinfachende Schablonen, wie z. B. – um nur einen Punkt herauszugreifen – bei der Interpretation von »Werke des Gesetzes«. Wolter schreibt (S. 352):

Die Frage, ob der Ausdruck »Werke des Gesetzes« Handlungen meint, die in Erfüllung der Tora getan werden, oder Vorschriften, die in der Tora stehen, weil sie getan werden sollen (unabhängig davon, ob dies auch tatsächlich geschieht), ist ganz bestimmt nicht so zu beantworten, dass irgendeine dieser beiden Interpretationen »durchweg« gelten und der Ausdruck darum an allen Stellen ein und dieselbe Bedeutung haben müsse. Solch einseitige Urteile – in welche Richtung sie auch gehen mögen – lassen einen Sachverhalt unbeachtet, der eigentlich selbstverständlich sein sollte: dass Begriffe mal mit ihrer ›eigentlichen‹ Bedeutung und mal metonymisch gebraucht werden können.

Am Ende seiner Ausführung resümiert Wolter (S. 411):

Aufs Ganze gesehen sind die theologischen Unterschiede zwischen der paulinischen Rechtfertigungslehre und ihrer Rezeption durch Martin Luther nicht zu übersehen. Ihre Ursache haben sie zweifellos in den veränderten christentumsgeschichtlichen Kontexten. Daraus kann man zwei hermeneutische Schlussfolgerungen ableiten: Die Interpretation der paulinischen Rechtfertigungslehre darf man in der Tat nicht am theologischen Paradigma ihrer Rezeption durch Martin Luther ausrichten. Das wäre anachronistisch. Aus der umgekehrten Richtung betrachtet, wird man aber auch der Theologie Martin Luthers nicht gerecht, wenn man ihr eine Verfälschung der paulinischen Rechtfertigungslehre vorwirft. Luther geht mit ihr vielmehr so um, dass er sie in einen veränderten historischen und kulturellen Kontext hinein fortschreibt und dabei wesentliche Bestandteile ihres Begründungszusammenhangs bewahrt.

Eine gute Zusammenfassung zur NPP stammt von dem Neutestamentler Jörg Frey. Sein Beitrag »Das Judentum des Paulus« (erschienen in: Oda Wischmeyer (Hg.): Paulus: Leben – Umwelt – Werke – Briefe, Tübingen u. Basel: A. Francke Verlag, 2006, S. 5–43) enthält den Abschnitt »Zur ›neuen Paulusperspektive‹« (S. 35–42). Frey stellt komprimiert wichtige Thesen der NPP sowie die vielstimmige Kritik vor (Common Judaism, Bundesnomismus und soteriologische Bedeutung der Toraerfüllung, Werke des Gesetzes als bloße boundary markers, Gegenstand des Rühmens, Verlust der eschatologoschen Dimenson, Differenz zwischen der Anthropologie des Paulus und der des zeitgenössischen Judentums). Das Fazit lautet bei Frey (S. 41–42):

Es ist zweifellos ein Verdienst der ›New Perspective‹, dass sie das überkommene Zerrbild vom Judentum als einer Religion der ›Werkgerechtigkeit‹ wirksam bestritten und die unreflektierte Rede vom ›Gesetz als Heilsweg‹ nachhaltig in Zweifel gezogen hat. Gegen die Wirkungsgeschichte paulinischer Theologie ist aus den jüdischen Quellen zu erkennen, dass die Tora für Juden Freude, nicht Last, Berufung, nicht Sklaverei bedeutet. Aufgrund neuerer Forschungen sollte es definitiv unmöglich sein, das Judentum der Zeit Jesu als »Religion völligster Selbsterlösung« [Anmerkung: so noch Billerbeck] zu bezeichnen und ihm »Werkgerechtigkeit« und Ritualismus vorzuwerfen. Solche Urteile sind eher neuprotestantisch als lutherisch und widersprechen der jüdischen Selbstwahrnehmung. Ein Gewinn ist auch, dass nun die Gefahr der Eintragung späterer Fragen in die Paulusinterpretation bewusster wahrgenommen wird. Vor jeder Verallgemeinerung paulinischer Aussagen für eine überzeitliche Lehre muss zunächst der historische Ort und der rhetorische Kontext der Texte ernst genommen werden. Die soziologischen Kategorien dürfen freilich, wie auch Dunn zugesteht, nicht an die Stelle der theologischen Reflexion treten. Der Theologe Paulus lässt sich nicht auf missionspragmatische oder ›kirchenpolitische‹ Intentionen reduzieren. Sein Denken ist auf dem Hintergrund seiner Biographie und Christuserkenntnis sowohl anthropologisch als auch hamartologisch tiefergehend, als dies die Vertreter der ›New Perspective‹ zugestehen wollten.

Der FTH Dozent Berthold Schwarz nimmt die Ergebnisse der NPP ebenfalls differenziert war. In seinem Beitrag »Das Missverständnis der sogenannten ›Neuen Paulusperspektive‹« (Teil 1 erschienen in: Bibel und Gemeinde 4/2010, S. 61–70 und Teil 2 in: Bibel und Gemeinde 1/2011, S. 39–48) mahnt Schwarz zur weiteren fairen und gewissenhaften Diskussion (Teil 2, S. 48). Die große Schwäche der NPP liegt für ihn in der verkürzten Deutung der Rechtfertigungslehre (Teil 2, 47):

Die Vertreter der Neuen Perspektive übersehen (leider) in ihrem berechtigten Bemühen, das herauszuarbeiten, was im 1. Jahrhundert mit den Aussagen des Paulus im Kontext des damaligen Judentums gemeint gewesen sein kann, dass die Rechtfertigung (wenigstens auch) etwas mit der individuellen Stellung des Einzelnen vor Gott zu tun hat. Wright spricht davon als einer »second-order doctrine«, während die Reformatoren in soteriologischer Akzentuierung darin die Lehre sehen, mit der alles im Christentum steht und fällt (… ein Urteil, das in gesamtbiblischer Perspektive ebenfalls die Tendenz zur Übertreibung in sich trägt). Es geht – wie bereits erwähnt wurde – für die Neue Paulusperspektive bei der Rechtfertigung um eine nationale, körperschaftliche Angelegenheit des Eingegliedertseindürfens in den (bestehenden) nationalen Bund mit Gott, der nun auch für Heiden eröffnet sei, ermöglicht durch die Weltherrschaft des erhöhten Christus. So einseitig oder auch unvollständig einige reformatorische Ansichten und Lehren im Urteil der Aussagen des gesamten Neuen Testaments gewesen sein mögen, die Antworten der Neuen Perspektive in der Paulusinterpretation liefern letztlich mehr Probleme und Fragezeichen, als dass sie wirklich Lösungen für exegetische oder theologische Probleme anbieten.

Einen bemerkenswerten Aufsatz hat der Systematiker Wilfried Härle im Jahr 2006 veröffentlicht (»Paulus und Luther: Ein kritischer Blick auf die ›New Perspective‹«, ZThK, Bd. 103 (2006), S. 326–393). Der Schwerpunkt dieser Untersuchung liegt nicht auf der Frage, »ob Paulus das Judentum seiner Zeit richtig verstanden und beschrieben hat, sondern auf der Frage, welche theologischen Auffassungen Luther (zusammen mit den übrigen Reformatoren) aus Paulus gewonnen hat und ob sie von E. P. Sanders und anderen Vertretern der New-Perspective richtig verstanden und wiedergegeben werden« (S. 362). Härle rekonstruiert, von welchen Prämissen aus E. P. Sanders zu seiner These von der Unvereinbarkeit zwischen Paulus und Luther gekommen ist und prüft das vorausgesetzte Bild der paulinischen und lutherischen Theologie. Schließlich stellt Härle das Verhältnis zwischen den paulinischen und lutherischen Aussagen über Sünde und Heil des Menschen dar, so wie er es versteht. Härle weist m. E. überzeugend nach, dass Sanders Luther in mehreren Punkten nicht verstanden hat. Sanders unterstellt – kurz gesagt – Luther einen viel zu flachen Sündenbegriff. Im christlichen Leben geht es nicht um formale Gebotserfüllung, sondern darum, Gott von ganzem Herzen zu lieben (381):

Solange ein Mensch den Willen Gottes zu erfüllen versucht aus Furcht vor der Strafe Gottes oder aus Hoffnung auf den Lohn Gottes, kann er zwar jede Handlung vollziehen, die vom Gesetz geboten ist, aber er liebt dabei nicht Gott, sondern immer nur sich selbst. Das Motiv, der Strafe, dem Zorn, dem Gericht Gottes zu entgehen, hat seinen einzigen Grund in dem Willen oder Hoffen des Menschen, sich selbst vor der Strafe Gottes in Sicherheit zu bringen und das Heil zu gewinnen. Und der ›gerechte Gott‹ (im Sinne der iustitia activa) ist dabei dasjenige Gegenüber, von dem die Bedrohung ausgeht.

Sanders hat diese Tiefendimension des Sündenbegriffs bei Luther übersehen (S. 382):

Bei allem Respekt: Diese Einsichten Luthers haben sich E. P. Sanders auch nicht von ferne erschlossen. Er sieht in Luther einen Menschen, der Schuld- und Gewissensprobleme hat und sich darum durch den Gedanken einer zugerechneten, fiktiven Gerechtigkeit eine Lösung zurechtlegt, an die er glauben kann, die ihm hilft, mit seinen Schuld- und Gewissensproblemen zu leben, und die ihn doch nicht nötigt, sein Leben radikal zu ändern und am Willen Gottes auszurichten. Das alles hat mit Luther – klar und deutlich gesagt – nichts zu tun.

So schließt Härle:

Die Sünde als die verkehrte, nicht vom Vertrauen bestimmte Gottesbeziehung, nimmt das Gesetz zum Anlaß, sei es im speziellen Fall, um die Begierde zu wecken, sei es generell, um den Menschen zum Selbstruhm und Anspruchsdenken vor Gott zu verführen. Auf dieser – bei Sanders gar nicht betretenen – Ebene knüpft Luther unmittelbar an Paulus an und entdeckt insbesondere in der spätmittelalterlichen Theologie der römisch-katholischen Kirche reichlich Ansätze für eine Verleugnung der Glaubensgerechtigkeit zugunsten der Werkgerechtigkeit. Das ist natürlich – verglichen mit der paulinischen Situation – eine ganz andere Frontstellung, weil Luther sich ja mit seiner christlichen Kirche und ihrer Lehre kritisch auseinandersetzt, nicht mit dem Judentum oder Heidentum, das erst für den Glauben an Jesus Christus gewonnen werden soll. Aber wenn man diese Unterschiede in Rechnung stellt und im Blick behält, kann man wohl sagen, daß Luther auch und gerade an dieser Stelle vom Apostel Paulus entscheidende Einsichten übernommen hat, die für Kirche und Theologie damals und heute zu wichtig sind, als daß sie vergessen oder verleugnet werden dürften.

Schlussendlich möchte ich auf die Theologie des Neuen Testaments von Ferdinand Hahn verweisen. Im ersten Band dieses herausragenden Werkes kommt Hahn im Rahmen seiner Untersuchungen zur Bedeutung und Funktion des Gesetzes kurz auf Sanders, Dunn und Räisänen zu sprechen (Ferdinand Hahn, Theologie des Neuen Testaments: Die Vielfalt des Neuen Testaments, Bd. 1, 3. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck, S. 232–233). Nachdem Hahn dargestellt hat, dass gemäß Sanders das Tun der Menschen nicht dem Erwerb des Heils, sondern der Bewahrung des Heils diente und gemäß Dunn Beschneidung und Gesetzesobservanz indentity marker für das jüdische Selbstverständnis sind, konstatiert er (S. 232):

So wichtig diese Beobachtungen sind, es kann trotz der grundlegenden Bedeutung der Zugehörigkeit zum Bund nicht übersehen werden, daß es seit der prophetischen Tradition das Problem des Bundesbruches gab und daß darüber hinaus das endzeitliche Gottesgericht ein zunehmendes Gewicht erhielt. Die Folge war ein durchaus ambivalentes Verhalten zum Gesetz, das zwar nach wie vor entscheidendes Kennzeichen der Zugehörigkeit zu dem von Gott erwählten Volk war, zugleich aber im Blick auf das ausstehende Landgericht Ungewißheit und eigenes Streben nach Gerechtigkeit einschloß. Ein solches Verständnis ist jedenfalls bei Paulus vorausgesetzt.

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Neuere Blicke auf die NPP.pdf.

Horton: Missionale Gemeinde oder neues Mönchtum? (Teil 4 – Schluss)

Die neue Reformation

Wie reagieren wir heute auf den Missionsbefehl? Dazu bedarf es eines richtigen Verständnisses von Jüngerschaft. Paulus sagt, die Werksgerechtigkeit sei der wertlose Versuch, sich den Himmel zu erkaufen. Einzig die Gerechtigkeit aus dem Glauben erlangt Christus – und dies durch das verkündigte Wort: Es gilt, Botschafter an Christi Statt zu sein (Röm 10,5–16). Der Glaube kommt nicht aus den Werken, sondern die Werke aus dem Glauben, und der »kommt durch die Verkündigung, die Verkündigung aber durch das Wort Gottes« (V. 17).

Jünger ist zuerst und zunächst, wer den Indikativ freudig vernimmt und annimmt, von dem ich schon gesprochen habe. Wie Maria Magdalena lauscht er jedem Wort aus dem Munde seines Erlösers und lässt alles fallen, wenn er etwas von ihm lernen kann – und dann, als Mensch, dem vergeben ist, als wiedergeborenes Geschöpf bezeugt er in Liebe [was er gehört] und erweist den Menschen seine guten Werke.

Die Reformation ist ein gutes Beispiel für die Herausforderung des Mönchtums. Ob der Mönch nun die Leiter geistlicher Übungen oder guter Werke nach oben kletterte – immer erschien er den Menschen als Heiligkeitsakrobat, der seine Künste dem Rest der Gläubigen darbot, die im unteren Bereich der weltlichen Arbeit und des Familienlebens beschäftigt waren.

Die Reformation räumte mit diesem Muster auf, indem sie zunächst feststellte: Die Erlösung ist von Anfang bis zum Ende das Werk Gottes für uns, nicht unser Werk für Gott. Wir können in keiner Weise zur vollkommenen Gerechtigkeit Christi beitragen. Gott kann weder durch aufsehenerregende noch durch ehrenvolle Werke zufriedengestellt werden. Zweitens wiesen die Reformatoren darauf hin, dass das Erlösungswerk Christi für mich noch nichts für meinen Nächsten bewirkt – das zielt in Richtung Mönche: wie beflissen waren sie doch in ihren Werken, die niemandem nützten! Sind Sie gerechtfertigt, dann gibt es keinen anderen Ort für Ihre guten Werke als den, an dem Ihr Nächster steht. Gott braucht Ihre guten Werke nicht, wie Luther so treffend gesagt hat, sehr wohl aber Ihr Nächster. Drittens: Alle Christen sind Heilige, und daher gleichermaßen gerechtfertigt und erneuert. Sie unterliegen allesamt der selben Pflicht zum Wachstum in der Beziehung mit Gott und zur Liebe und zum Dienst am Nächsten.

Deshalb übersetzten die Reformatoren die Bibel aus den Originalsprachen in die Alltagssprache der Menschen. Sie schrieben Andachtsbücher, Gebete, Liturgien, Katechismen, Psalter und Lieder, die nicht nur in der Kirche gesungen werden konnten, sondern auch um den Mittagstisch. Darum auch werden Neubekehrte in Glaubensfragen unterrichtet und ermutigt bzw. bestärkt, in ihren weltlichen Berufen »Salz und Licht« zu sein. Die Auswirkung einer solchen Arbeitsethik auf die Qualität des Handwerks, die Medizin, das Rechtswesen, die Politik, die Gesellschaft, das Familienleben und auf die Künste ist geschichtlich bestens bezeugt. Die Annahme, die reformierte Theologie ermutige zur Passivität aus Angst, nicht mit den göttlichen Absichten »zusammenarbeiten« zu können (wie Jones gemeint hat), ist weder historisch noch theologisch begründbar. Wir arbeiten insofern mit Gott zusammen, als wir in seiner allgemeinen und seiner rettenden Gnade tätig sind. Zu seinem Erlösungswerk können wir nichts beitragen. Die Erlösung ist vollbracht. Diesen Sieg müssen wir nun verkündigen, nicht ihn uns erringen.

Jünger sind zunächst Lernende. Sie gleichen Maria, die »das bessere Teil« erwählte, indem sie zu Füßen Jesu saß, um sich belehren zu lassen, während Martha »sich mit der Bedienung viel zu schaffen machte«. Wem viel vergeben ist, der liebt auch viel. Angesichts Gottes Barmherzigkeit wird die Liebe zu Gott und zu unserem Nächsten zum »vernünftigen Gottesdienst« (Röm 12,1–2). Und da die Erde »samt allem, was in ihr ist« (Ps 24,1) durch die Schöpfung und Erlösung des Herrn ist, können wir unsere fieberhaften Bestrebungen aufgeben, denn wir sind befreit zur Liebe und zum Dienst gerade an den »Nächsten«, die Gott liebt und uns jeden Tag über den Weg laufen lässt. Die frohe Botschaft selbst ist nicht mit der Prägung zu verwechseln, die wir der Welt verpassen; die frohe Botschaft ist die Prägung, die Gott uns durch die Taufe schenkt. Da die »Rettung vom Herrn kommt« (Jona 2,10), sind wir dazu befreit, aktiv an dieser Welt teilzunehmen und unsere Nächsten zu lieben, da sie Sünder sind wie wir und unserer guten Werke und der frohen Botschaft dringend bedürfen.

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