Akzente

Identitätsfindung in der Postmoderne

An dem Abend, als die deutsche Nationalelf ihr erstes Europameisterschaftsspiel zu bewältigen hatte, durfte ich bei den netten Leuten des Forums „Argumente für Gott„ (München) über das anspruchsvolle Thema „Identitätsfindung in der Postmoderne“ sprechen. Es kamen mehr Hörer als ich erwartet hatte und wir genossen einen netten Gedankenaustausch.

Der Veranstalter hat einen Audiomitschnitt des Vortrags online gestellt.

Die marxistische Transformation

Schon mehrmals habe ich hier im Blog eine Renaissance des marxistischen Denkens angedeutet (z.B. hier). Nun lese ich ausgerechnet im Hochschulanzeiger der FAZ (Was bekannte Frank Schirrmacher?: „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat.“), dass der Literaturprofessor Mark Greif nicht mehr nur nach postmodernen Romanen, sondern ebenso nach marxistischen Ideen greift. Der Gründer der Occupy-Gazette beschreibt uns im Interview die Zukunftsvision einer Protestbewegung, die sich zwar nicht auf Kapitalismuskritik reduzieren lässt, aber eben doch den Kapitalismus für die Verschuldungsmisere verantwortlich macht.

Beim harten Kern der Bewegung geht die Tendenz zur radikalen Transformation. Kapitalismus ist für sie der Feind, sie wünschen sich, wie der Soziologe David Graeber, von dem die Formel der „99 Prozent“ stammt, einen gewaltfreien Anarchismus. Dann gibt es die Gruppe von Teilzeitprotestierern, diejenigen, die wie ich an bestimmten Tagen kommen, nach der Arbeit zum Beispiel. Sie haben eine ganz andere Haltung. Ich sah eine Frau, die Geschäftsleute vor der Börse ansprach: „Ich bin nicht gegen Kapitalismus“, sagte sie. „Ich glaube an die Idee von vergüteter Arbeit, aber ich habe so viele Krankenhausschulden, dass es egal ist, wie viel ich arbeite, ich werde das nie abbezahlen können.“ Für sie ist nicht der Kapitalismus das Problem, im Gegenteil – sie möchte ein Teil des Systems sein. Das Problem ist ein Kapitalismus, der es selbst denjenigen, die nach seinen Regeln spielen, unmöglich macht, ein ordentliches Mittelklasseleben zu führen.

Hier mehr: hochschulanzeiger.faz.net.

Hauptsache gut erzählt

Wenn ich lese, was der Chefredakteur der evangelischen Zeitschrift chrismon schreibt, weckt das bei mir große Sympathien für die Religionskritiker des 20. Jahrhunderts. Hans Albert hat beispielsweise den Hermeneutikern und Existentialisten unter den Theologen vorgeworfen, sie immunisierten sich gegen Kritik, indem sie für den Glauben einen Raum jenseits von Wissenschaft, Metaphysik und Moral reklamierten. Das religiöse Terrain könne gar nicht mit der Skepsis kollidieren, weil es jenseits des Wirklichkeitsanspruches von Wissenschaft und Erkenntnistheorie stehe (vgl. z.B. Hans Albert, Kritik der reinen Hermeneutik).

In der neuesten Ausgabe von chrismon (06/2012, S. 22) lässt sich dieses Immunisierungsmanöver wieder wunderbar nachweisen. Der Schleiermacherschüler Arnd Brummer bekommt dort von einem befreundeten und aufklärerischen Anwalt gesteckt, dass die neutestamentliche Pfingstgeschichte doch nur erfunden sei. Brummer kann dem nur zustimmen und bekennt, dass diese Geschichte genau deshalb wahr sei, weil sie jemand erfunden habe. „Lukas hat sich die Pfingstszene in der Apostelgeschichte ausgedacht und die Bethlehemgeschichte am Beginn seines Evangeliums ebenso. Beide sind historisch nicht belegt. Und dennoch sind sie wahr.“

So richtig kann das den Juristen nicht überzeugen. Also legt Brummer nach und führt ein originelles Wahrheitskriterium ein: die emotionale Betroffenheit. „Ich kann glauben, was ich für wahr halte. Und den Wahrheitsgehalt einer Geschichte erkenne ich an ihrer Wirkung, an dem, was sie mir vermittelt – daran, ob sie mich erreicht.“ Also keine kritischen Fragen stellen, Glaube ist Sache einer Offenbarung, Sache einer gefühligen Offenbarung:

Glaube ist eine Sache der Offenbarung. Wenn sich einem ­Menschen in einem Gedicht, in einer Sinfonie, in einem Bild oder in einer biblischen Geschichte etwas offenbart, was ihn bewegt, beeindruckt, rührt oder ins Zweifeln stürzt, dann wird es nicht dadurch falsch, dass es weder „historisch“ noch „wissenschaftlich“ beweisbar oder belegbar ist. Ich habe Menschen im Kino weinen und lachen sehen. Warum? Ist doch alles nur „erfunden“? Ich konnte mich nicht satthören an den selbst erdachten Gutenachtgeschichten meiner Urgroßmutter und schlief meistens getröstet und zufrieden ein. Augenblicke von Wahrheit, von Überschreitung meiner alltäglichen Wirklichkeit, die wahr sind, weil sie in mir lebendig werden.

Leute, Leute. Wie arm ist doch so eine „aufgeklärte“ Glaubenslehre. Die Jünger haben anrührende Geschichten erfunden, erzählt und sind dann oftmals für ihr „Storytelling“ gestorben. Da kann ich nur sagen: Mehr Religionskritik bitte! Und dem Agnostiker und Anwalt kann ich nur raten: Skeptisch bleiben! Nein: Noch skeptischer werden!

Wie bekennt der Autor des 2. Petrusbriefes?: „Denn nicht weil wir klug ausgedachten Mythen gefolgt sind, haben wir euch die Macht und das Kommen unseres Herrn Jesus Christus kundgetan, sondern weil wir Augenzeugen seines majestätischen Wesens geworden sind.“ Und der 1. Johannesbrief beginnt so:

Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir mit unseren Augen gesehen haben, was wir geschaut und was unsere Hände berührt haben, das Wort des Lebens — das Leben ist erschienen, und wir haben gesehen und bezeugen und verkündigen euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns erschienen ist —, was wir nun gesehen und gehört haben, das verkündigen wir euch, damit auch ihr Gemeinschaft habt mit uns. Die Gemeinschaft mit uns aber ist Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus. Und dies schreiben wir, damit unsere Freude vollkommen sei.

Der gestorbene und auferstandene Christus ist nicht das Ergebnis einer spitzfinden Verkündigung, sondern das apostolische Zeugnis wird nur und erst durch das Christusgeschehen ermöglicht. Wir dürfen und sollen erzählen, weil Gott in Jesus Christus gehandelt hat.

Hier der Beitrag aus der Zeitschrift chrismonchrismon.evangelisch.de.

 

E21-Konferenz 2012

Am Mittwoch bin ich direkt nach einer ersten „Auswertungsrunde“ von der 2. E21-Konferenz aus Hamburg zurückgekehrt. Da ich ziemlich platt war und zudem mit einer Erkrankung zu kämpfen hatte, komme ich erst jetzt dazu, über das Treffen zu reflektieren.

Schon die Konferenz 2011 habe ich als „provozierend, ermutigend und wegweisend“ bezeichnet. Gleiches kann ich über die Konferenz 2012 sagen. Hinzufügen möchte ich für 2012: Überwältigend!

Natürlich hat das etwas mit der großen Teilnehmerzahl zu tun. Wir hatten ungefähr 1000 verbindliche Anmeldungen und insgesamt geschätzte 1500 Teilnehmer. Die meisten kamen aus Deutschland, der Schweiz und Österreich. Aber wir hatten auch Gäste aus den USA, England, Dänemark, Australien, Polen, Tschechien, Russland, … Allein mit so vielen Christen geistliche Lieder zu singen und zu beten, ist erhebend.

(Nebenbemerkung: Leider sind ungefähr 100 der Leute, die sich verbindlich angemeldet hatten, nicht erschienen. Die meisten davon haben sich nicht abgemeldet, so dass wir als Veranstalter für die bestellten aber schlussendlich nicht bezahlten Mahlzeiten aufkommen mussten.)

Trotzdem lag „das Überwältigende“ nicht in der hohen Teilnehmerzahl. Die Konferenz lief unter dem Thema: „Gott redet“. Ich glaube nicht, dass ich übertreibe, wenn ich sage: Das Reden Gottes war laut und deutlich zu hören. Paulus schreibt in Röm 10,17: „Also kommt der Glaube aus der Verkündigung, die Verkündigung aber geschieht durch das Wort von Christus.“ Wer daran zweifelt, dass Gott kraftvoll durch das gepredigte Wort von Christus redet, hat m.E. auf der Konferenz einen Gegenbeweis erhalten. Gott spricht auch heute durch sein Wort!

Noch einige persönliche Anmerkungen:

  • John Piper und Don Carson haben exzellente Vorträge und Predigten gehalten. Bei beiden trafen gelehrter Tiefgang auf geistlich motivierte Leidenschaft. Wir dürfen ihnen sehr dankbar dafür sein, dass sie nach Deutschland gekommen sind. Sowohl auf der Kanzel als auch im Hinterstübchen wurde deutlich, dass sie das Anliegen von E21 mittragen und sie das Netzwerk auch in Zukunft unterstützen werden. Herzlichen Dank!
  • Wieder hat die „Arche“ Großartiges geleistet. Die logistischen Herausforderungen waren enorm. Aber die Mitarbeiter haben nicht nur organisatorische Klasse, sondern auch ein von Liebe getragenes Engagement gezeigt. Mir sagte ein Konferenzteilnehmer: „Schon die Einstellung der Mitarbeiter hat Überzeugungskraft.“ Wie wahr. Ein großes Dankeschön an alle, die zum Gelingen der Konferenz beigetragen haben!
  • Erneut freut es mich, so viele junge Leute gesehen zu haben. Der Anteil an Theologiestudenten und jungen Pastoren war erstaunlich hoch. Ich habe sogar mitbekommen, dass der ein oder andere sich seit Hamburg fragt, ob er nicht selbst in den Dienst der Verkündigung gehen sollte. Jesus sagt: „Die Ernte ist gross, Arbeiter aber sind wenige“ (Mt 9,37).
  • Schade, dass so wenig Dozenten zu dem Mittagessen mit Professor Carson gekommen sind. Wer dabei war, hat den Austausch mit Carson wahrscheinlich genossen. Was er in den knapp 90 Minuten gesagt hat, fand ich ausgesprochen kompetent und gewinnend.
  • Ein herzlichen Dankeschön auch an R. Waschkowitz von ideaSpektrum. Die Zusammenarbeit mit dem Vertreter der Nachrichtenagentur lief diesmal reibungslos.
  • Ein bisschen traurig bin ich, dass ich viele Bekannte und Freunde noch nicht einmal persönlich begrüßen konnte. Das lag einfach an der hohen Teilnehmerzahl und den viele Sitzungen und Besprechungen, die neben der Konferenz stattgefunden haben (so nahm beispielsweise eine Delegation des Evangelikalen Seminars Moskau an Konferenz teil und wir haben uns mehrmals mit ihnen getroffen).
  • Der Vortrag über das „schriftgemäße Beten“ von D.A. Carson hat mich persönlich sehr betroffen gemacht. Ich bin darüber erschrocken, wie engstirnig und selbstbezogen mein Gebetsleben über die Jahre geworden ist. Ich will das ändern und werde mir mehr Zeit für die Anbetung und Fürbitte nehmen.
  • Noch ein ganz dickes Dankeschön an meine Gastgeberfamilie. Eure Gastfreundschaft und Fürsorge war rührend!

Alles in allem war es also wieder ein ermutigendes Treffen. Viele Christen sind wirklich hungrig, verlangen nach kräftiger geistlicher Nahrung. Im Trägerkreis müssen wir uns nun Gedanken darüber machen, was wir jenseits der Konferenz für Angebote machen können, denn es wird auch auf Nachhaltigkeit ankommen. Fürbitte ist uns da sehr willkommen!

Ich freue mir sehr auf die Konferenz 2013!

– – –

Die nachfolgenden Bilder stammen alle von dem lieben Bruder Alexey Pankevich aus Kaliningrad, den ich auf der Konferenz kennengelernt habe. Die Wiedergabe erfolgt mit freundlicher Genehmigung.

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Jesus Christus ist auferstanden

Ostern ist für Christen die große Feier der Auferstehung von Jesus Christus, Höhepunkt im Kirchenjahr. Die Auferstehung des Menschensohnes gibt uns, wenn wir sie im Glauben ergreifen, Versöhnung mit Gott dem Vater, Hoffnung für die Zukunft, erfülltes Leben in der Gegenwart. Jesus sagte: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt“ (Joh 11,25).

Nachdem Jesus den Kreuzestod starb und begraben wurde, ist er am dritten Tage auferstanden. Das Grab war leer! „Und sehr früh am ersten Tag der Woche kommen sie zum Grab, eben als die Sonne aufging. Und sie sagten zueinander: Wer wird uns den Stein vom Eingang des Grabes wegwälzen? Doch wie sie hinschauen, sehen sie, dass der Stein weggewälzt ist. Er war sehr gross“ (Mk 16,2–4). Der Mann, der im Grab auf sie wartete, sprach: „Erschreckt nicht! Jesus sucht ihr, den Nazarener, den Gekreuzigten. Er ist auferweckt worden, er ist nicht mehr hier“ (Mk 16,6). Der Sohn Gottes hat die Macht des Todes bezwungen. „Denn wir wissen, dass Christus, einmal von den Toten auferweckt, nicht mehr stirbt; der Tod hat keine Macht mehr über ihn“ (Röm 9,9).

Wohl dem, der bekennen kann: „Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns in seiner grossen Barmherzigkeit neu geboren hat, so dass wir nun durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten eine lebendige Hoffnung und Aussicht auf ein unzerstörbares, unbeflecktes und unverderbliches Erbe haben, das im Himmel aufbewahrt ist für euch“ (1Petr 1,3–4).

Leben im Zwiespalt

Bist du hin und her gerissen, weißt nicht, ob du Jesus Christus vertrauen kannst? Du willst mit ihm leben, schaffst es aber nicht, hast Angst vor dem Versagen? Du stehst mit deiner Zerrissenheit nicht allein. Vielen Menschen ist es so ergangen. Zum Beispiel dem großen Augustinus. Der Kirchenvater gewährt in seiner Biografie tiefe Einblicke in die geistlichen Kämpfe, die ihn sein Leben lang begleiteten.

In seinen besten Jahren hatte er auf seiner Suche nach Wahrheit mehrere Etappen durchlaufen. Mit dem christlichen Glauben seiner Mutter Monika wollte er nicht viel zu tun haben. Das war ihm zu einfach und zu eng. Augustinus suchte eine Lebensanschauung, die ihm möglichst viel Autonomie erlaubte. So suchte er anderswo, vor allem bei den Manichäern und Platonikern.

Aber Gott ging ihm nach. Es waren seine Mutter und Freunde, die ihn immer wieder an das Evangelium erinnerten. Als Augustinus zur akademischen Lehrkraft für Rhetorik nach Mailand berufen wurde, begegnete er schließlich dem gewaltigen Prediger Ambrosius. Ambrosius nahm „kein Blatt vor den Mund“. In einer überlieferten Predigt (De Elia et ieiunio 22,85) heißt es beispielsweise:

„Wie lange noch eure Vergnügen, wie lange noch eure Lustbarkeiten? Der Tag des Gerichtes kommt immer näher. Während ihr diese Gnade zurückstellt, nähert sich der Tod. Wer wird dann sagen: Jetzt bin ich gerade nicht frei, ich habe zu tun …“

Durch Ambrosius, Simplicianus und andere wurde Augustinus angeregt, bei Paulus Antworten auf seine Fragen zu suchen. Er studierte die Schriften des Apostels, besonders der Römerbrief hatte es ihm angetan. Was Paulus dort im siebten Kapitel über die Unfreiheit des Menschen schrieb, korrespondierte ziemlich genau mit seinen eigenen Erfahrungen. Es stimmt: „Dass mir, der ich das Gute tun will“, letztlich doch „das Böse naheliegt“ (vgl. Röm 7,21). Im Leben des Gelehrten regierte die Sünde.

Hören wir, was Augustinus selbst in Gebetsform darüber schreibt:

Das aber war’s, wonach ich seufzte, gefesselt, wie ich war, nicht durch ein fremdes Band, sondern das Eisenband meines Willens. Mein Wollen aber war in des Feindes Gewalt, und der hatte mir daraus eine Kette geschmiedet, mit der er mich gefesselt hielt. Denn aus verkehrtem Willen ward Leidenschaft, und da der Leidenschaft ich nachgab, ward Gewohnheit daraus, Gewohnheit aber, der man nicht widersteht, wird zum Zwang. So fügten sich gleichsam die Ringe ineinander darum nannte ich’s eine Kette -, und damit hielt harte Knechtschaft mich gefangen. Der neue Wille aber, der sich bereits in mir regte, dir, mein Gott, meines Herzens einzig sichere Freude, frei zu dienen und anzuhangen, war noch zu schwach, den alten und festgewurzelten zu überwinden. So stritten in mir zwei Willen, ein alter und ein neuer, der eine fleischlich, der andere geistig, miteinander, und ihr Hader zerriß meine Seele.

So lernte ich es denn aus eigener Erfahrung verstehen, was ich gelesen hatte, wie »das Fleisch wider den Geist gelüstet, und den Geist wider das Fleisch«. Ich aber lebte in beidem, mehr jedoch in dem, was ich an mir billigte, als in dem, was ich an mir mißbilligte. Denn hier war ich’s zumeist schon nicht mehr ich selber, da ich es großenteils mehr widerwillig litt als mit Willen tat. Doch hatte ich selbst die Gewohnheit zum Streit gegen mich so stark gemacht, denn mit Willen war ich dahin gelangt, wohin ich nicht wollte. Und wer kann mit Recht etwas dagegen einwenden, daß den Sünder die gerechte Strafe trifft? Schon konnte ich mich nicht mehr damit entschuldigen, wie ich früher zu tun pflegte, nur darum habe ich noch nicht dem Weltleben zu deinem Dienst entsagt, weil mir die Erkenntnis der Wahrheit noch ungewiß sei; denn nunmehr war sie mir bereits gewiß. Ich aber, der Erde noch verhaftet, weigerte mich, in deinem Heer zu kämpfen, und fürchtete mich ebensosehr davor, alle belastenden Bürden abzuwerfen, wie man sich hätte furchten sollen, sie sich aufbürden zu lassen. So lag die Last der Welt, wie es wohl im Schlafe geschieht, süß und drückend auf mir, und meine Gedanken, die sich sinnend auf dich richtete, glichen den Versuchen derer, die aufwachen wollen, aber vom tiefen Schlummer überwältigt wieder zurücksinken. Und wie niemand immerfort schlafen möchte, vielmehr jeder, wenn er vernünftig ist, dem Wachen den Vorzug gibt, aber dennoch manch einer zögert, den Schlaf abzuschütteln, weil es ihm bleischwer in den Gliedern liegt, und er darum mit Genuß weiterschläft, obschon er’s nicht gutheißen kann und die Zeit zum Aufstehen gekommen ist, so wußte ich genau: Es war besser, mich deiner Liebe zu weihen, als meiner Wollust zu weichen. Das eine hatte mein Herz gewonnen und überwunden, aber das andere lockte und hielt mich gebunden. Nichts mehr konnte ich dir zur Antwort geben, da du zu mir sprachst: „Wache auf, der du schläfst, und ich stehe auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten!“ Auf Schritt und Tritt tatest du mir die Wahrheit kund, und von ihr überwältigt, konnte ich nichts erwidern als rage, schlaftrunkene Worte: „Bald, ja bald, laß mich noch ein Weilchen!“ Aber das „bald, bald“ ward nicht zum „jetzt“, und das Weilchen zog sich in die Länge. Umsonst „hatte ich Lust an deinem Gesetz nach dem inwendigen Menschen, weil ein anderes Gesetz in meinen Gliedern dem Gesetz in meinem Gemüte widerstritt und mich gefangennahm in der Sünde Gesetz, das in leinen Gliedern war“. Das Gesetz der Sünde ist die Tyrannei der Gewohnheit, die den Menschengeist auch wider Willen fortieht und festhält, und zwar verdientermaßen, weil er ihr willig sich hingegeben hat. Wer hätte „mich Elenden erlösen können vom Leibe dieses Todes, wenn nicht deine Gnade durch Jesum Christum, unsern Herrn“?

Jesus Christus lädt dich zur Nachfolge ein. Nachfolge heißt nicht, dass du alle deine Kräfte zusammenreißt und versucht, so zu leben, wie Gott es gefällt. Nachfolge heißt: Ich tut das, was mir unmöglich ist. Ich gehe durch ein Nadelöhr (vgl. Mk 10,25). Es ist ein anderer, der mich erlöst.

Augustinus verzweifelte an sich selbst. Mitten im Sturm der Selbstanklagen hörte er jedoch die Stimme der Gnade. Immer lauter konnte er ihr Rufen vernehmen: „Was stellst du dich auf dich selbst und kannst so doch nicht stehen? Wirf dich auf ihn und fürchte dich nicht! Er wird sich nicht entziehen, dich nicht fallen lassen. Ja, wirf dich getrost hin, er wird dich auffangen und gesund machen“ (vgl. Confessiones, VIII, 11).

Hörst du sie auch, die Gnade?

Klarheit, Ironie, Verweigerung und Hartnäckigkeit

Albert Camus

In meiner Jugend habe ich Albert Camus’ Mythos des Sisyphos regelrecht „verschlungen“. Neben der kierkegaardschen Schwere („Es gibt nur ein philosophisches Problem, den Selbstmord.“) erspürte ich im Mythos Aufrichtigkeit und Gerechtigkeitsliebe. Camus stand für etwas ein. Er zählt zu denen, die Nazis und Kommunisten schnell durchschauten. Der aus Algerien stammende Philosoph demaskierte Despoten und leistete Widerstand.

Als ich vor einigen Jahren von John Warwick Montgomery erfuhr, dass Camus am Ende seines Lebens einige Leute neugierig zum christlichen Glauben befragte und vor seinem tragischen Unfalltod die Taufe erbat (die ihm allerdings verwehrt wurde, siehe dazu hier), hat mich das sehr gefreut. Wer weiß, vielleicht hat Camus am Ende seines kurzen Lebens seine Zweifel und Fragen noch in ernstgemeinte Gebet gepackt und die Gnade Gottes verstehen können.

Nun begegnet mir Camus nochmals, in einem ganz anderen Zusammenhang. Die FAZ berichtete am 20. März (Nr. 68, S. 25) über einen wiedergefundenen Leitartikel, den der Schriftsteller 1939 für die kleine Tageszeitung Le Soir républicain verfasst hatte. Der Artikel ist als Antwort auf die Zensur konzipiert, die damals auch ihn traf. „Es ist schwierig, heute über die Freiheit der Presse zu schreiben, ohne gleich als Mata-Hari angeklagt zu werden“, schreibt Camus. Und er verteidigt die Pressefreiheit. Zitat aus der FAZ:

Die Pressefreiheit sei nur ein Aspekt der Freiheit schlechthin. Aber es gehe darum, sie mit aller Hartnäckigkeit zu verteidigen, weil es keine andere Möglichkeit gebe, „den Krieg wirklich zu gewinnen“. Allerdings hielt er diesen Kampf für verloren: „Die Frage lautet nicht mehr, wie man die Pressefreiheiten erhalten kann.“ Sondern nur noch: „Wie ein Journalist, wenn diese Freiheiten aufgehoben sind, frei bleiben kann. Das Problem beschäftigt die Gemeinschaft nicht mehr. Es betrifft das Individuum.“

Er glaubt an die Möglichkeit, im „Krieg und in der Knechtschaft die Freiheit nicht nur zu erhalten, sondern zu manifestieren“. Vier Bedingungen zählt er auf: „Klarheit, Verweigerung, Ironie und Hartnäckigkeit“. Klarsichtig sei nur, wer sich dem Hass und der Lüge entziehe.

Die Vorzeichen heute sind andere als 1939. Trotzdem sollte ein Freund der Freiheit auf Camus’ Fingerzeig achten: Klarheit, Verweigerung, Ironie und Hartnäckigkeit. Der freie Schreiber bleibt standhaft. Er kämpft für das, was er als wahr erkannt hat, veröffentlicht nichts, was unüberlegt Hass schüren oder die Verzweiflung fördern könnte.

Noch etwas. Camus sagt: „Eine in dogmatischem Ton vorgebrachte Wahrheit wird in neun von zehn Fällen zensuriert. Wird die gleiche Wahrheit witzig formuliert, entgeht sie in fünf von zehn Fällen der Zensur.“

Sterbehilfe im Namen Jesu?

In den Niederlanden sollen ab 1. März 2012 Sterbehilfe-Teams quer durchs Land fahren und schwer kranken Menschen beim Sterben assistieren. DIE WELT schreibt:

In den Niederlanden plant laut dem Bericht der Zeitung eine Initiative, dass Teams einer Sterbehilfeorganisation quer durch das Land reisen und zu Patienten nach Hause kommen, um ihnen auf Wunsch beim Sterben zu helfen. Todkranken soll auf diese Weise ein würdevolles und schmerzloses Ende ermöglicht werden. Die sogenannten mobilen Teams bestehen aus einem Arzt und mindestens einem Pfleger.

Bei Deutschen Ärzten und Experten stößt das auf heftige Kritik. „Es könne niemals zum Arztberuf gehören, den Tod herbeizuführen“, sagte der Chef der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery. Und: „Wir wollen den Tod zulassen, wenn die Zeit da ist, wir wollen ihn aber nicht zuteilen.“

Ist Deutschland noch nicht reif für eine flächendeckende Euthanasie? Ich bin gespannt, wie lange die Empörung anhält. Gewinnt eine utilitaristische Ethik, die vor allem nach dem Nutzen fragt, weiter Einfluss (und es sieht so aus), wird aus dem Protest schnell eine Duldung. Wenn Menschen über alles verfügen, könnte – wie wir wissen –, der Lebensschutz von heute auf morgen unplausibel erscheinen.

Da wir gerade bei dem Thema sind: In einigen emergenten Kreisen gibt es nicht nur einen Perspektivenwechsel im Blick auf Themen wie „Mission“, „Kultur“ oder „Sexualität“, sondern auch Überlegungen für neue Zugänge zur Euthanasie. Zu entdecken ist das beispielsweise in dem Buch Different Eyes: The Art of Living Beautifully von Alan Mann und Steve Chalke.

Die beiden Autoren, die schon seit Längerem durch ihre Kritik an der Sühneopfer-Theologie bekannt sind (vgl. hier u. hier), plädieren für einen selbstkritischen Umgang mit der traditionellen christlichen Ethik. Wie zu erwarten, geben sie keine eindeutigen Antworten. Sie nähern sich dem Thema narrativ, in Form von zwei abgedruckten Briefen. Während der Autor des ersten Briefes für die Unantastbarkeit des Lebens und die liebevolle Fürsorge votiert, beschreibt der Autor des zweiten Briefes Euthanasie als Akt des Gottvertrauens. Die Gefühle dessen, der Sterben möchte, und die Gefühle seiner Angehörigen, müssten christlich ernst genommen werden. Euthanasie sei ein Akt liebenden Erbarmens. Der Leser kann nun zwischen den vorgeschlagenen Optionen wählen. Dass Krish Kandiah von der Evangelischen Allianz in Großbritannien das Buch empfiehlt und glaubt, es liefere „frische Ideen für ein schönes Leben vor Gott“, macht die Sache nicht leichter.

Hier Auszüge aus dem Brief (Alan Mann u. Steve Chalke: The Art of Living Beautifully, 2010. S. 163–165):

Lieber Leser!

Die Euthanasie zählt zu jenen Themen, die den Nerv ethischer Entscheidungsfindungen im Christentums treffen.

Naturgemäß stellt dabei der Umstand das größte Problem dar, dass die Bibel das Thema Euthanasie nicht direkt anspricht – zumindest nicht in der Form, wie wir ethische und gesetzgebende Aussagen zu formulieren pflegen. Selbstverständlich sind da die alttestamentlichen Gebote, die es verbieten, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen, obgleich anschließendes Blutvergießen (manchmal direkt von Gott angeordnet) ein Erkennen eines eindeutigen Musters zur Deutung dieser Imperative schwierig macht.

Um die Sache positiv zu formulieren: Das Leben ist ein kostbares Geschenk Gottes. Daher – so heißt es – muss es um jeden Preis gewürdigt werden. Unter diesen Umständen allerdings scheint es angeraten, unsere Aufmerksamkeit weniger auf das Geschenk als vielmehr auf den Geber selbst zu richten.

So hat man behauptet, die Euthanasie sei rundweg abzulehnen, auch dort, wo das Leiden des Menschen nicht mehr zu lindern sei oder jemand im Sterben liege, weil sich der Mensch andernfalls herausnehme, selbst »Gott zu spielen«. Diese Behauptung muss jedoch gegen jene Gebote, Handlungen und Lehren der Schrift abgewogen werden, die Gott als liebenden, fürsorgenden, gütigen, mitfühlenden, barmherzigen und verständnisvollen Gott schildern – ein Gott, der sein Volk dazu aufruft, diese Eigenschaften nachzuahmen.

Ein krampfhaftes Festhalten an einem Leben, das ganz offensichtlich im Leiden enden wird, scheint der grundlegenden christlichen Hoffnung zu widersprechen, derzufolge dieses Leben nicht das einzige Leben ist; wo Tod nicht Ende, sondern Beginn ist, wo es kein Leiden, kein Weinen und keinen Schmerz mehr gibt (Offb 21). Und trösten wir uns nicht selbst bei dem Gedanken, die von uns Gegangenen hätten »ihren Frieden gefunden«, ihre »Leidenszeit zu Ende«? Ist es daher nicht paradox, ein ewiges Leben ohne jeden Schmerz zu verkünden und gleichzeitig zu behaupten, man müsse beharrlich am Leben festhalten, bis auch der letzte Atem den sterbenden Leib verlassen hat, egal, welch Qualen ein Mensch auch durchmacht?

Der Christ kann in der Euthanasie – und das betrifft auch die aktive Sterbehilfe – keinen Akt der autonomen Selbstbestimmung sehen, denn das stellte die Usurpation göttlichen Rechts dar, Leben zu nehmen. Eine solche Entscheidung sollte von einer fürsorglichen und mitfühlenden Gemeinschaft im Glauben getroffen werden. Sie dem Einzelnen zu überlassen, wäre ein Akt höchstmöglicher Preisgabe und widerspräche diametral der ethischen Einstellung eines jeden, der behauptet, Nachfolger Jesu zu sein.

Wir nehmen kein Leben, sondern räumen dem Einzelnen das Recht ein, von sich aus auf ein Weiterleben zu verzichten und dem Gott, der das Leben gegeben hat zu vertrauen, dass nichts uns »kann scheiden von der Liebe Christi … weder Leiden noch Tod (Röm 8,35ff.).

Wenn jemand keine Angst vor dem Tod hat, die Qual und den Schmerz jedoch nicht länger ertragen kann, dann kann man in der Euthanasie durchaus einen Akt liebenden Erbarmens sehen, der die Eigenschaften des lebensspendenden Gottes reflektiert, des Einzigen, der das Leben auch nach dem Tod aufrecht erhalten kann. Was aber noch stärker zählt: Gerade unter diesen Umständen kann und soll das Sterben zur geistlichen Erfahrung werden, indem man das eigene Leben überdenkt und sich auf etwas Gehaltvolleres, Tiefergreifendes vorbereitet.

Nichts ist unvermeidlich, doch sieht es so aus, als werde unsere Gesellschaft in der Euthanasie in Zukunft eine hoffähige – wenn vielleicht auch keine legale – Option sehen. Das aber bedeutet, das Christentum (das ja von einer hoffnungsfrohen Botschaft zu Leben und Tod getragen ist) wird sich den Konsequenzen stellen müssen in der Ablehnung, andere beim Übergang von diesem Leben ins nächste zu unterstützen. Schließlich werden weder Glaubensartikel noch theologische Positionen echte Christen davon abbringen, sich bei der Bitte um Sterbehilfe an die christliche Gemeinschaft zu wenden – und gerade hier beginnt die echteste Prüfung unseres Glaubens.

Autsch!

Schließen möchte ich mit einer mutigen und wichtigen Stellungnahme, die die Ärztin Claudia Kaminski (ALfA) anlässlich der aktuellen Debatte gegenüber der Rheinzeitung abgegeben hat:

Von der Klinik, die Anfang März in Den Haag eröffnet werden soll, dürfe keine Signalwirkung für Deutschland ausgehen, mahnte die ALfA. Kaminski appellierte an Politiker und Repräsentanten der Ärzteschaft, gegen jede Form aktiver Sterbehilfe und den ärztlich assistierten Suizid anzugehen. „Sowohl vor dem Hintergrund unserer eigenen Geschichte als auch als direkter Nachbar der Niederlande sind wir Deutsche heute besonders gefordert, dem fehlgeleiteten Verständnis von Autonomie in den Niederlanden ein klares Bekenntnis zur wahren Humanität entgegenzusetzen“, so Kaminski.

Eine Gesellschaft, „in welcher der Tod bestellt und geliefert werden kann“, verliere auf Dauer ihr menschliches Antlitz.

VD: IC & CU

John Piper und die Re-Maskulinisierung

Peter Aschoff, Vorsitzender der Evangelischen Allianz in Erlangen, Mitarbeiter beim „Alpha Kurs“ und eine treibende Kraft für das emergente Christentum in Deutschland, macht sich Sorgen, weil John Piper im Mai nach Deutschland kommt und dort auf der Evangelium21-Konferenz sein krudes paternalistisches (vielleicht auch „faschistisches“?) Gottesbild verbreiten wird. In dem Beitrag „Himmlische Alpha-Männchen?“ wirft er Piper vor, auf bescheidenem Reflexionsniveau „die patriarchalisch strukturierte Ursprungskultur“ für die Gegenwart als verbindlich erklären zu wollen, die Bibel also mit einer patriarchalischen Brille zu lesen. Peter:

Wenn man im Bestreben, die Bibel so wörtlich wie nur möglich zu nehmen, den metaphorischen Charakter biblischer Sprache und dessen unvermeidliche kulturelle Bedingtheit übersieht, verliert man nicht nur vor lauter Wörtern den Sinn, sondern man wird auch versuchen, die gesellschaftlichen Verhältnisse von damals zu reproduzieren: Piper will, so der Bericht, ja eine erkennbar maskuline Kirche (man fragt sich unwillkürlich: wo bleibt die “Braut” aus der Offenbarung?). Pipers Repristinierung des Patriarchalen geht also über ihr antikes Vorbild weit hinaus. Er sagt zu viel über Gott und macht ihn dadurch nicht etwas größer, sondern kleiner, zu einer Art transzendenten Alpha-Männchen.

Es gibt viele Gründe, die Bibel genau zu lesen und sich mit den oft kniffeligen Fragen der Hermeneutik zu beschäftigen. Ich selbst bin nicht glücklich über die Kategorien, die Piper hier im Blick auf die Gemeindearbeit bemüht. Andererseits erleben wir tatsächlich so etwas wie eine Feminisierung nicht nur des Gemeindenlebens, sondern auch der Theologie. Wie erklärt der DLF kürzlich mit Bezug auf Friedrich Wilhelm Graf? (vgl. hier): „Sie sind zumeist weiblich und eher ‚Muttityp als wirklich intellektuell‘. So hat der evangelische Theologe Friedrich Wilhelm Graf evangelische Theologiestudenten kritisiert. Auf einer Tagung in Dresden erklärte der Professor für Systematische Theologie, das evangelische Pfarramt werde zunehmend zu einem Frauenberuf. Besonders häufig entschieden sich Studentinnen aus nichtakademischen Haushalten für diesen Beruf. Sie verbänden zumeist eher schlichte Gedanken mit der Vorstellung von einem »Kuschelgott«. Das sei auf Dauer eine bedrohliche Entwicklung für die evangelische Theologie, sagte Graf.“

Diese Entwicklung darf keinesfalls den Frauen angelastet werden. Es sind die Männer, die sich aus der Verantwortung stehlen und lieber stressfreiere oder besser vergütete Berufe wählen. Stelle ich Piper in den Zusammenhang dieser von Männern beförderten Feminisierung, finde ich seine Anmerkungen mindestens mutig.

Noch etwas: Peter erwähnt Scot McKnight‘s Kritik an Piper. McKnight stellt fest, dass wir im Neuen Testament keine an Männer gerichtete Aufforderung finden, sich wie Männer zu benehmen (Nebenbemerkung: Was ist eigentlich mit dem ἀνδρίζομαι in 1Kor 16,13? VD: JO). Was heißt das denn jetzt? Sollen sich Männer nicht wie Männer benehmen, weil ein entsprechender Imperativ im Neuen Testament fehlt? Die Vorstellung, dass Scot und Peter auf einmal den Anschein erwecken, biblizistisch argumentieren zu müssen, regt in gewisser Weise – auch angesichts der oben erwähnten Kritik an dem Versuch, die Schrift wörtlich zu nehmen – meinen Humor an. Vielleicht ist die Sache ja viel einfacher: Die Autoren der neutestamentlichen Briefe brauchten Männer in den Gemeinden nicht „zum Mannsein“ aufzufordern, da ihre Arbeitswelt etc. von ihnen sowieso erwartete, sich wie Männer zu benehmen.

Warum erwähne ich Peters Kritik an Piper? M.E. lässt sich hier gut zeigen, wohin die radikale Pflicht zur Kontextualisierung des biblischen Befundes führt, wenn die Kategorien der eigenen Kultur quasi „eingefroren“ werden, um auf festem Eis stehend die Bibel zeitgemäß deuten zu können. Der dekonstruktivistische Anti-Hermeneutiker behauptet einerseits, es sei fatal oder gar unmöglich, biblische Texte wegen der vielen erkenntnistheoretischen Probleme und den zahlreichen Traditionsbrüchen (wörtlich) verstehen zu wollen, erwartet jedoch, von seinem Leser verstanden und ernstgenommen zu werden. Mehr noch: Er klagt einen Perspektivenwechsel ein. Seine Perspektive, die Sichtweise eines kulturellen Zeitfensters aus dem 20. und 21. Jahrhundert, ist die entscheidende. Peter wirft Piper vor, die Bibel mit einer patriarchalischen Brille zu lesen. Was für eine Brille hat Peter eigentlich auf? Das Eis, dass zunächst einen festen Halt zu bieten scheint, könnte sich irgendwann als zu dünn erweisen.

Während Peter sich darum sorgt, dass die Neo-Reformierten wegen ihrer scheinbar so abstrusen Ansichten bald schon in eine neue Form der Marienverehrung abgleiten könnten, übersieht er, wie nahe er selbst dem Katholizismus steht, wenn er neben der Schrift eine weitere autoritative Größe beansprucht, die letztlich das biblische Wort relativiert. Das Bild mit der Brille ist wirklich gut: Je länger man sie trägt, desto mehr vergisst man, dass man sie auf hat.

Peter braucht sich übrigens keine großen Sorgen zu machen. Piper ist eingeladen, darüber zu sprechen, dass Gott redet. Und zwar in einer Weise redet, dass er auch verstanden werden kann. Über „maskuline feel“ wird man vielleicht im privaten Gespräch mit Piper diskutieren können. Piper trifft nicht auf Leute, die beugsam alles übernehmen, was „von drüben“ oder „von oben“ kommt, sondern gern mündig denken und kommunizieren lernen.

Metaxas Bonhoeffer

Immer wieder gehen Anfragen zum Bonhoeffer-Buch von Metaxas bei mir ein. Das erneute Auftreten des Biografen auf dem Willow Creek Deutschland-Kongress in Stuttgart beflügelt das Interesse. Idea meldet:

Bei Bonhoeffer könnten Gemeindeleiter lernen, im Vertrauen auf Gottes Wegweisung ihrer Berufung bis zum bitteren Ende treu zu bleiben, sagte Hybels. Er führte ein Podiumsgespräch mit dem Autor der Biografie „Bonhoeffer: Pastor, Agent, Märtyrer und Prophet“, Eric Metaxas (New York). Dieser wandte sich dagegen, Bonhoeffer als liberalen Theologen darzustellen: „Je mehr ich nachforschte, desto mehr kam ich zu dem Ergebnis, dass diese Annahme Nonsens ist.“ Bonhoeffer habe die Bibel schon während seines Studiums anders verstanden als viele seiner Kommilitonen: „Für ihn war sie lebendig, sie spricht zu den Menschen. Er war einer der wenigen an der Fakultät, die ihre Stimme gegen die liberale Theologie erhoben haben.“ Hybels nannte Metaxas’ Bonhoeffer-Biografie eine unverzichtbare Ermutigung für Gemeindeleiter, die ihrer Berufung konsequent folgen wollen.

Ich möchte deshalb auf den älteren Beitrag „Der andere Bonhoeffer“ verweisen und kurz aus meiner Buchbesprechung zitieren, die im Magazin factum 8/2011 erschienen ist (S. 47):

Dass es gute Gründe dafür gibt, in Bonhoeffer einen unbequem orthodoxen Theologen zu sehen, haben z.B. Rainer Mayer oder Georg Huntemann mit ihren Veröffentlichungen zu Bonhoeffer gezeigt. Metaxas selbst erörtert Bonhoeffers Ringen um feste theologische Positionen angesichts der „mündig gewordenen Welt“ jedoch nur oberflächlich. Hier hätte ich mir eine gründlichere Auseinandersetzung mit dem Mann, „der doch noch das Erbe der liberalen Theologie in sich trägt“ (so B. am 3.8.1944 in einem Brief an Bethge), gewünscht. Auch evangelikale Autoren sollten die Gefahr eines „kreativen Missbrauchs“ Bonhoeffers nicht unterschätzen. Allerdings will Bonhoeffer: Pastor, Agent, Märtyrer und Prophet keine theologische Abhandlung, sondern spannend geschilderte Lebensgeschichte sein. Diese Aufgabe hat Metaxas gemeistert. Hoffentlich werden viele Leser durch das Buch angeregt, sich gründlich mit Bonhoeffer auseinanderzusetzen.

Der Name Rudolf Bultmann taucht übrigens im Personenregister von Bonhoeffer: Pastor, Agent, Märtyrer und Prophet nicht auf. Auch daran zeigt sich, dass die theologische Auseindersetzung mit Bonhoeffer vordergründig geblieben ist. Ferdinand Schlingensiepen schreibt in seiner Biografie kurz und präzise (Dietrich Bonhoeffer, 2010, S. 292–293):

Bonhoeffer hat sich, während er in Kieckow mit derart radikalen Gedanken beschäftigt war, die Zeit genommen, einen Vortrag zu lesen, den der Marburger Neutestamentier Rudolt Bultmann vor der neu gegründeten «Gesellschaft für Evangelische Theologie» gehalten hatte, und der seine Sprengkraft erst in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg entfaltet hat … Bultmanns Vortrag trug den Titel „Neues Testament und Mythologie“ und enthielt sein später von Theologen in der ganzen Welt diskutiertes Programm der „Entmythologisierung des Neuen Testaments“.

Bultmann vertrat die These, daß viele Berichte des Neuen Testaments, etwa die Himmelfahrt Christi, Mythen seien. Deren bis heute gültige Wahrheiten gelte es durch eine „existentiale Interpretation“ zu erschließen, nachdem man zuerst den unter der mythischen Einkleidung verborgenen überzeitlichen Wahrheitsgehalt aufgedeckt habe.

Während in Deutschland schon bald eine erste Welle heftiger Kritik einsetzte vor allem Hans Asmussen zeigte sich alarmiert –, urteilte Bonhoeffer zwar nicht unkritisch über Bultmanns faszinierendes Programm, aber er äußerte zuallererst Zustimmung. Öffentlich konnte er des Schreibverbotes wegen keine Stellung beziehen, indessen schrieb er an einen Schüler, der in Marburg im Lazarett lag:

„Ich gehöre zu denen, die [Bultmanns] Schrift begrüßt haben, … Grob gesagt: Bultmann hat die Katze aus dem Sack gelassen, nicht nur für sich, sondern für sehr viele (die liberale Katze aus dem Bekenntnissack), und darüber freue ich mich. Er hat gewagt zu sagen, was viele in sich verdrängen (ich schließe mich ein), ohne es überwunden zu haben. Er hat damit der intellektuellen Sauberkeit und Redlichkeit einen Dienst geleistet. Der Glaubenspharisäismus, der nun dagegen von vielen Brüdern aufgeboten wird, ist mir fatal. Nun muß Rede und Antwort gestanden werden. Ich spräche gern mit Bultmann darüber und möchte mich der Zugluft, die von ihm kommt, gern aussetzen. Aber das Fenster muß dann wieder geschlossen werden. Sonst erkälten sich die Anfälligen zu leicht.“

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