Biblische Theologie

U. Wilckens: Wort und Glaube

Starke Worte von Prof. Ulrich Wilckens (Theologie des Neuen Testaments, 2014, Bd. 2, S. 9):

Daß die Verkündigung des Evangeliums als Wort Gottes gehört (1Thess 2,13) und im Glauben angenommen wird (1Kor 15,1f.), ist alles andere als selbstverständlich. Das liegt nicht an der mehr oder weniger starken intellektuellen Überzeugungsfähigkeit und rhetorischen Begabung, auch nicht an der persönlichen Ausstrahlungskraft unterschiedlicher Prediger. Menschen mögen Menschen von sich überzeugen – aber darum geht es in der Verkündigung des Evangeliums nicht. Dessen Inhalt ist: »Jesus Christus als der Herr« (2Kor 4,5), der für unsere Sünden gekreuzigte Messias, den Gott auferweckt hat (1Kor 15,3-5; 2Kor 5,14f.). Dies zu vermitteln, vermag nur Gott selbst. Daß in den Herzen Glauben entsteht (Röm 10,8f.), ist ein schöpferischer Akt Gottes wie der, mit dem er im Anfang »aus der Urfinsternis Licht aufstrahlen ließ« (2Kor 4,6) und Nicht-Seiendes ins Sein gerufen hat (Röm 4,17; Hebr 11,3).

Die Rechtfertigungslehre überdacht

Die nachfolgende Besprechung des Buches:

wird in der nächsten Ausgabe von Glaube und Denken heute vollständig und mit ausführlichem Fußnotenapparat erscheinen. Hier also eine Vorschau:

NewImageAls Stephen Westerholm in den späten 70er Jahren für ein schwedisches Journal E. P. Sanders Werk Paul and Palestinian Judaism (1977) besprach, bemerkte er sofort, dass dieses Buch Zerrbilder des Judentums ausräumen und die Paulusforschung umstülpen wird. Tatsächlich formierte sich unter dem Eindruck von Sanders insbesondere im angelsächsischen Raum eine intensive Diskussion über die Theologie des Apostels. Dieser Wandel in der Paulusexegese, der heute unter dem Leitbegriff „The New Perspective“ zusammengefasst wird, ist von namhaften Gelehrten wie William Wrede (1859–1906), Albert Schweizer (1875–1965) oder Hans-Joachim Schoeps (1909–1980) vorbereitet worden. Aber erst durch Krister Stendal, E. P. Sanders, James Dunn, Heikki Räisänen, Michael Bachmann oder auch N. T. Wright hat die neue Sichtweise so viel Fahrt aufgenommen, dass man nicht mehr an ihr vorbei kommt.

Womit löste E. P. Sanders das Erdbeben aus? Er widerlegte nach eingehender Sichtung der rabbinischen Literatur die insbesondere seit Ferdinand Weber oder Paul Billerbeck gefestigte Auffassung, das Judentum sei eine Religion der Werkgerechtigkeit gewesen. Kennzeichnend für die Rabbinen ist – so Sanders – nicht das Leistungsdenken, sondern die Struktur des „Bundesnomismus“. Die Erfüllung des Gesetzes darf nicht als eine menschliche Vorleistung für den Eintritt in den Bund Gottes verstanden werden („getting in“), sondern lediglich als eine Bedingung für das Bleiben im Bund („staying in“). Der Mensch, so Sanders über die jüdische Soteriologie, gelangt zum Heil durch Gottes Gnade (die sich in der Erwählung zeigt) und verbleibt im Heil durch die Werke (bzw. Reue und Inanspruchnahme von Sühnemitteln nach dem Sündigen).

Unter diesen Voraussetzungen erhielte die Rechtfertigungslehre eine andere Bestimmung als in der reformatorischen Theologie. Paulus habe mit ihr nicht die jüdische Heilslehre, sondern den jüdischen Nationalismus angegriffen („Wir, und zwar nur wir, sind das auserwählte Volk.“). Er plädiert für eine „Ausweitung des Bundes auf die nichtjüdischen Nationen, dies aber gemäß dessen ursprünglicher und in der Tora selbst niedergelegten Intention“ (Strecker. „Paulus aus einer ‚neuen Perspektive‘“, S. 3–18, hier S. 13). Die paulinische Rechtfertigungstheologie zielt demzufolge nicht auf das Heil des Einzelnen ab, sondern ist vielmehr ethnisch ausgerichtet. N. T. Wright, der diese Neuinterpretation aufgreift, beschreibt ihr Anliegen beispielsweise so

„Bei der ‚Rechtfertigung‘ ging es im  1. Jahrhundert nicht darum, wie man eine Beziehung zu Gott aufbauen kann. Es ging um Gottes eschatologische gegenwärtige und zukünftige Definition derjenigen, die tatsächlich zu seinem Volk gehörten. In der Begrifflichkeit von Sanders: Es ging nicht so sehr um das ‚Hineingelangen‘ (getting in), auch nicht um das ‚Darinverbleiben‘ (staying in), sondern vielmehr darum, ‚wie man unterscheiden konnte, wer drin war‘. In der üblichen Theologensprache: Es ging nicht so sehr um Soteriologie, sondern um Ekklesiologie; nicht so sehr um Erlösung, sondern um die Kirche.“ (N. T. Wright. Worum es Paulus wirklich ging. 2010. S. 148)

Die NPP hat Westerholm seit seiner „Begegnung“ mit Sanders nicht mehr losgelassen. Frühzeitig erkannte der Kanadier den Stellenwert des „Paradigmenwechsels“, hat sich gründlich in das Themengebiet eingearbeitet und mit einigen Büchern und Aufsätzen substantiell zur Kontroverse beigetragen. Sein bisher umfangreichstes Buch, Perspectives Old and New On Paul aus dem Jahr 2004, gilt der Fachwelt als wichtiges Referenzwerk. Westerholms jüngster Band Justification Reconsidered fasst nun den Ertrag seiner bisherigen Arbeiten zur Rechtfertigungslehre zusammen. Es enthält Teile seines großen Buches sowie zwei bereits veröffentlichte Aufsätze.

Er beginnt seine Ausführungen mit der Kritik an einer prominenten These des schwedischen Exegeten Krister Stendahl (S. 1–22). Dieser behauptete 1963 in seinem Aufsatz „The Apostle Paul and the Introspective Conscience of the West“, dass unser Paulusverständnis zu Unrecht von der Rechtfertigungslehre vereinnahmt worden ist. „Einige Christen meinen“ – so Stendahl – „die Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben sei die Antwort auf die Frage des geplagten Gewissens: Wie kann ich der Gnade Gottes gewiss sein? Antwort: durch Glauben. Aber das war nicht Paulus‘ Gedanke. Paulus hatte in diesem Sinn nie ein Problem mit dem Gewissen. Er wusste, dass er gemäß dem Gesetz vollkommen war“ (K. Stendahl, Das Vermächtnis des Paulus, 2004, S. 37). Der paulinische Begriff von „der Rechtfertigung aus Glauben war keine Antwort auf die Frage, wie bekomme ich einen gnädigen Gott“ (K. Stendahl, Das Vermächtnis des Paulus, 2004, S. 37). Hauptthema des Apostels sei die Hereinnahme der Heiden in die Heilsgeschichte, nicht die Rettung des Einzelnen. Sein Verdienst sei der Gedanke, Heiden können Vollmitglieder der Gottesgemeinde werden, ohne dabei an die mosaischen Gesetzesbestimmungen gebunden zu sein.

Westerholm fragt nun, ob diese Interpretation dem paulinischen Befund näher kommt als die der „Alten Perspektive“. Bei seinen Erörterungen kommt eine Stärke der „Kurzfassung“ besonders zum Tragen: Der Autor verliert sich nicht in den Details der ausgedehnten Debatte, sondern befragt Bibeltexte. Er will wissen: Geht es Paulus um Missionstheologie und Ekklesiologie oder geht es ihm um die Frage, die Luther später so zuspitzte: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? (vgl. S. 5).

Westerholm konsultiert den Ersten Thessalonicherbrief und die Korintherbriefe und landet schließlich beim Galater- und Römerbrief (knapp auch bei dem Philipperbrief). Das Ergebnis ist für Westerholm unstreitig: „‚Erlösung‘ meint im Thessalonicherbrief die Rettung vor dem Zorn Gottes und dem Gericht; es meint genau das ebenfalls im Korintherbrief“ (S. 7). Die grundsätzliche Stoßrichtung von Paulus‘ Mission ist es, Sünder von dem verdienten Gericht zu retten. „Wenn Paulus über die Rechtfertigung des Sünders spricht, ob im Galaterbrief oder in anderen Briefen, spricht er darüber, wie Sünder als gerecht erfunden werden können“ (S. 15). „Paulus’ Botschaft der Rechtfertigung adressiert nicht nur die Not einiger Heiden, sondern die Not aller Menschen – die von Juden wie Petrus und Paulus nicht weniger als die der Heiden in Galatien – da nämlich alle Sünder sind“ (S. 15).

Im zweiten Kapitel (S. 23–34) befasst sich Westerholm mit der Auffassung, Rechtfertigung aus Glauben sei bei den Juden vor und nach Jesus eine Selbstverständlichkeit gewesen. „An dem Punkt, bei dem viele den entscheidenden Kontrast zwischen Paulus und dem Judentum gefunden haben – nämlich bei dem von Gnade und Werke“, schreibt Sanders 1977, „befindet sich Paulus in Übereinstimmung mit dem palästinensischen Judentum … Errettung geschieht durch Gnade, aber das Gericht erfolgt gemäß der Werke; Werke sind die Bedingung dafür, „drin“ [also im Bund, R. K.] zu bleiben, bringen jedoch keine Errettung“ (E. P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism, 1977, S. 543).

Wieder fragt Westerholm, ob das behauptete symbiotische Verhältnis von Gnade und Werken bei Paulus wirklich vorliegt. Er arbeitet die These hauptsächlich am Römerbrief ab. Was meint der Apostel, wenn er beispielsweise in Röm 11,6 schreibt: „Wenn aber durch Gnade, dann nicht mehr aufgrund eigenen Tuns, da die Gnade sonst nicht mehr Gnade wäre“? Sanders – so Westerholm – hat zurecht auf die bedeutsame Stellung der Gnade im Alten Testament verwiesen. Doch während Sanders davon ausgeht, dass der Mensch grundsätzlich fähig ist, zu tun, was Gott verlangt, spricht Paulus dem Menschen diese Fähigkeit gerade ab. Die Werke eines Menschen können also das Bleiben im Bund nicht sichern. Die Lage des Menschen wird bei Paulus verzweifelter beschrieben, als die Rabbinen sich das vorstellen konnten (vgl. S. 32–33).

Schwerpunkt des vierten Kapitels ist die Rechtfertigungslehre von N. T. Wright (S. 51–74). Für Wright müssen die Begriffe „Gerechtigkeit“ und „Rechtfertigung“ bundestheologisch verstanden werden. Er unterstreicht seine Auffassung durch den Verweis auf die Gerichtssprache, der Paulus die Schlüsselbegriffe entnommen habe. „Gerechtigkeit, dikaiosynē, ist der Status der Bundesmitglieder. Der Unterton stammt selbstverständlich von der Position her, die einem Angeklagten zukommt, nachdem das Gericht ihn oder sie freigesprochen hat (N. T. Wright, Justification, 2009, S. 113). Ein Gerechtfertigter ist also jemand, der von einem Gericht durch einen Sprechakt für unschuldig erklärt wird, unabhängig von seiner tatsächlichen moralischen Qualität. Die Vorstellung, man brauche eine fremde moralische Gerechtigkeit (denken wir beispielsweise an Luthers „fröhlichen Wechsel“), um vor Gott bestehen zu können, entstammt nach Wright nicht der Bibel, sondern den Kategorien der scholastischen Theologie.

Westerholm erkennt an, dass Wright insgesamt einen eindrucksvollen Gesamtentwurf geliefert hat, in dem alle Paulustexte ihren Platz finden (vgl. S. 59). Allerdings ist Wrights Interpretation der Gerechtigkeit auf dem Hintergrund des alttestamentlichen und paulinischen Gebrauchs unhaltbar. Wenn das Alte Testament von „Gerechtigkeit“ spricht, kann schwerlich die Mitgliedschaft im Bund Gottes gemeint sein. So wird beispielsweise Noah für gerecht erklärt, bevor die Bibel überhaupt von einem Bund spricht (vgl. 1Mose 6,9). „‚Gerechtigkeit‘ meint nicht und kann naturgemäß nicht die Mitgliedschaft in einem Bund bezeichnen. Genauso meint sie nicht und kann naturgemäß nicht den Status bezeichnen, der durch eine Gerichtsentscheidung herbeigeführt wird“ (S. 63). Bundestreue kann durchaus Ausdruck von Gerechtigkeit sein, sollte aber nicht mit ihr selbst verwechselt werden (vgl. S. 71). „Die Betonung Wrights auf Christus als die Erfüllung göttlicher Verheißungen, die Abraham und seinen Nachkommen gegeben wurden, steht ganz in der Linie von Paulus‘ Lehre (Röm 15,8). Aber wir können sogar noch weitergehen. Heutzutage sollten christliche Gelehrte so frei sein, in dem, was Paulus über die Rechtfertigung lehrte, einen Grund zu finden, warum niemand aufgrund seiner Ethnie, seiner Klasse, seines Geschlechtes oder einer anderen Eigenschaft vor Gott bestehen kann. Paulus’ Sicht ist letzten Endes, dass menschliche Wesen jeglicher Couleur schuldhaft vor Gott sind und dass Gott jeden für gerecht erklärt, der glaubt. Das Ergebnis unserer Diskussion ist allerdings, dass Paulus mit seiner Rechtfertigungslehre das vertreten hat, was dann auch Augustinus, Luther und andere vertreten haben: Nur durch den Glauben an Jesus Christus können Sünder vor Gott gerechtfertigt werden“ (S. 73–74).

So hilfreich ich die Ausführungen Westerholms in diesem Kapitel finde, ich hätte mir eine etwas gründlichere Erörterung über das Verhältnis von forensischer und effektiver Rechtfertigung gewünscht.

Das fünfte Kapitel (S. 75–85) ist dem Syntagma „Werke des Gesetzes“ (griech. ἔργα νόμου [erga nomou]) gewidmet. Luther war es ein Herzensanliegen, die Glaubensgerechtigkeit vor jeglicher Vermischung mit den Werken zu schützen. Obwohl überzeugt, dass wahrhaftiger Glaube selbstverständlich Frucht und damit auch Werke hervorbringt, sollten die guten Taten nie als Grund für die Rechtfertigung erscheinen, da allein der Glaube an Jesus Christus rettet. Doch gerade an diesem Punkt fordern die Vertreter der NPP die „Entlutherisierung“ der Glaubensgerechtigkeit. Luther, so der Vorwurf, habe seine eigene Gewissensnot auf den Befund projiziert, also nicht Exegese, sondern Eisegese betrieben. E. P. Sanders formuliert zum Beispiel ähnlich wie Krister Stendahl

„Luther war von der Tatsache überwältigt, daß er, wiewohl Christ, sich gleichwohl als ‚Sünder‘ empfand: Er litt unter Schuld. Paulus dagegen litt nicht unter einem Gewissen, das sich schuldig fühlte. Vor seiner Bekehrung zum Apostel Christi war er, wie wir sahen, ‚untadelig‘ hinsichtlich der ‚Gerechtigkeit, die das Gesetz fordert‘ (Phil. 3,6). Als Apostel konnte er sich nicht vorstellen, daß beim Jüngsten Gericht irgend etwas gegen ihn vorgebracht werden könnte, obgleich er die Möglichkeit offenließ, daß Gott einen Tadel an ihm finden würde (1. Kor. 4,4). Luther, von Schuld gepeinigt, interpretierte die paulinischen Stellen über ‚Gerechtigkeit aus dem Glauben‘ so, als würde Gott einen Christen für gerecht erachten, selbst wenn er oder sie ein Sünder ist. Luther verstand ‚Gerechtigkeit‘ juristisch, als eine Unschuldserklärung, doch auch als fiktiven Status, der Christen ‚durch bloße Zurechnung‘ zugeschrieben wird, weil Gott gnädig ist … Luthers Betonung des fiktiven, bloß zugerechneten Charakters der Gerechtigkeit ist, wiewohl oft als inkorrekte Interpretation des Paulus erwiesen, einflußreich geworden, weil sie einem weitverbreiteten Gefühl der Sündhaftigkeit entspricht und mit ihrem individualistischen und introspektiven Akzent ein wesentliches Element des abendländischen Persönlichkeitsbegriffs bildet. Luther suchte und fand Entlastung von Schuld. Doch seine Probleme waren nicht die paulinischen, und wir interpretieren Paulus falsch, wenn wir ihn mit Luthers Augen sehen.“ (E. P. Sanders, Paulus, 1995, S. 63–65. Dass Sanders weder die Theologie des Paulus noch die von Luther in ihren Tiefenstrukturen verstanden hat, zeigt Wilfried Härle in: W. Härle. „Paulus und Luther: Ein kritischer Blick auf die ‚New Perspective‘“. ZThK, Bd. 103 (2006). S. 362–393).

Um was ging es Paulus dann, wenn er von den „Werken des Gesetzes“ spricht? Die Exegeten, die der NPP nahe stehen, können sich nicht auf eine positive Bestimmung einigen. Unstreitig ist aber für sie, dass Paulus mit den Gesetzeswerken nicht das bezeichnet, was in der Auslegungsgeschichte so lange angenommen worden ist, nämlich „gute Werke“. Es gehe im Kern darum, die Rolle der jüdischen Gesetzesbestimmungen (auch Halakhot genannt) im Blick auf das Verhältnis von Juden- und Heidenchristen zu klären. James Dunn meint beispielsweise, dass Paulus, wenn er von Gesetzeswerken spricht, an Abgrenzungsbestimmungen (engl. ‚boundery markers‘) denkt, die die Juden von den Heiden trennen. Es war einer von James Dunns großen Durchbrüchen in der Entwicklung der „Neuen Perspektive“ – schreibt N. T. Wright –, als er erkannte, dass die „Werke des Gesetzes“, vor denen Paulus warnte, „nicht gute moralische Taten waren, um Rechtfertigung (oder Erlösung) zu empfangen, sondern konkrete Gebote und Bestimmungen, welche Juden und Heiden voneinander trennten“ (N. T. Wright, Justification, 2009. S. 148).

Im Galaterbrief trennt vor allem die Beschneidung. Paulus ging es folglich nicht um eine Abhandlung zur Soteriologie, sondern um das Niederreißen von kultischen und nationalen Grenzzäunen (also ein Thema, das eher in die Ekklesiologie gehört). Er wollte klarstellen, dass der Christusglaube alle Jünger zusammenbringt und somit die Beschneidungspraxis oder kultische Speisevorschriften die Gemeinschaft nicht weiter beeinträchtigen dürfen.

Westerholm stimmt dahin gehend zu, dass im Galaterbrief die Stellung der Werke entlang der Beschneidungsthematik diskutiert wird. Aber das, worauf Paulus letztlich abzielt, wenn er von den Gesetzeswerken spricht, kommt Luthers guten Werken näher als den Grenzmarkierungen Dunns. „Im Römerbrief wie im Galaterbrief gebraucht Paulus die ‚Werke des Gesetzes‘ (Röm 3,20a.28) austauschbar mit dem ‚Gesetz‘ (3,20b.21), um von dem Weg zur Gerechtigkeit zu sprechen, den er ablehnt und er zeigt weiter (wie im Galaterbrief), weshalb das Gesetz als solches nicht zum Segen Gottes führen kann“ (S. 79). Paulus beantwortet also nicht die Frage, ob Heidenchristen ohne Gesetzesobervanz Tischgemeinschaft mit den Judenchristen haben können, sondern zeigt, dass das Gesetz als Weg zur Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, nicht taugt.

Vor dem letzten Kapitel, das die Ergebnisse der Untersuchung zusammenfasst, geht Westerholm noch kurz auf die apokalyptische Lesart des Neuseeländers Douglas Campbell ein (S. 87–94). In seinem 1200 Seiten umfassenden Werk Deliverance of God nimmt Campbell die traditionelle Rechtfertigungslehre, von ihm lieber als „Rechtfertigungstheorie“ bezeichnet, ins Visier. Für Campbell sind in ihr biblische Schlüsselbegriffe auf verhängnisvolle Weise fehlinterpretiert worden. Besonders die reformatorische Rechtfertigungslehre sei rationalistisch und individualistisch verengt und fördere mit ihren juridischen Kategorien Formen eines christlichen Faschismus. Campbell bemüht diesen Begriff nicht nur im allegorischen Sinn, sondern lässt die Anfrage gelten, ob nicht Auschwitz auch die Frucht einer reformatorisch interpretierten Glaubensrechtfertigung sein könne.

Bezug nehmend auf Einsichten der NPP, bemüht sich Campbell um eine rhetorisch-apokalyptische Neuinterpretation insbesondere des Römerbriefes. Sein Gegenentwurf hebt hervor, dass Rechtfertigung ein von Gott gewirktes völlig bedingungsloses Befreiungshandeln ist. Die so präsentierte Soteriologie kommt – wenig überraschend – dann auch ohne stellvertretende Sühne aus.

Das Buch von Stephen Westerholm habe ich mit großem Gewinn gelesen und kann es Anhängern wie Gegnern der Alten Paulusperspektive sowie Unentschiedenen ans Herz legen. Für Experten, die sich bereits in die Debatte vertieft haben, wird es wenig Neues bringen. Allerdings haben sich – so jedenfalls mein Erfahrungswert – nur wenige Christen eingehend mit der Alten Perspektive beschäftigt. Der Kreis jener, die mit den Neuen Perspektiven vertraut sind, dürfte so insbesondere in Deutschland überschaubar sein.

Die Auswirkungen der Verschiebung sind jedoch überall zu sehen. Es lässt sich, überzogen, aber nicht entstellend, auf folgende „Formel“ bringen: So, wie aus der Sicht der NPP die „Hauptsünde“ des jüdischen Volkes nicht die fehlende Liebe zu Gott, sondern die fehlende Wertschätzung der Schöpfung und der heidnischen Völker gewesen ist, erscheint heute die dürftig Weltgestaltung unter der Herrschaft des Königs Jesus als „Hauptsünde“ der Kirche. Dabei muss es – wie das Westerholm zeigt – diesen Dualismus gar nicht geben. Kirche, als mit Gott durch Jesus Christus versöhnte Gemeinschaft der Heiligen, lässt sich sehr wohl in die Weltverantwortung rufen. Sie weiß aber darum, dass es ihr wichtigster Auftrag ist, an Christi statt zur Versöhnung mit Gott aufzurufen (2Kor 5,20) und alle Völker zu Jüngern zu machen (Mt 18,20).

Schließen will ich mit einem Zitat von Simon Gathercole, der unter James Dunn seine Dissertation geschrieben hat und heute als Neutestamentler an der Universität in Cambridge lehrt. Er empfiehlt das Buch mit folgenden Worten: „Das Lesen von Stephen Westerholms Skizze der paulinischen Rechtfertigungslehre ist eine Pflicht und eine Freude. Dieser Band führt Studenten klar und elegant in das Thema ein. Und er wirft den Vertretern der Neuen Perspektive die Fehdehandschuhe vor. Wie werden sie antworten?“

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Warum musste Jesus sterben?

Holger hat einen empfehlenswerten Beitrag über die Sühnetheologie verfasst:

Hier hat offensichtlich ein klassischer Paradigmenwechsel stattgefunden. Es wäre ehrlich, wenn Plasger, Bohl und andere zugeben würden, dass die ernsthaften Theologen der Vergangenheit wie Calvin und Bullinger in der Zürcher Übereinkunft (1541) noch ganz anders formulieren konnten: „Er [Christus] ist zu betrachten als ein Sühnopfer, durch welches Gott versöhnt ist mit der Welt.“ Und niemand anders als Karl Barth wusste noch zu sagen:

„Jesus hat den Zorn Gottes ein Leben lang getragen. Mensch-sein heißt vor Gott so dran sein, diesen Zorn verdient zu haben. In dieser Einheit von Gott und Mensch kann es nicht anders sein als dass der Mensch dieser Verdammte und Geschlagene ist… Dazu ist Gottes Sohn Mensch geworden, dass in ihm der Mensch unter Gottes Zorn sichtbar wird… Mensch sein heißt vor Gott so dran sein, wie Jesus dran ist: Träger des Zornes Gottes zu sein. Das gehört uns, das Ende am Galgen! Aber das ist nicht das Letzte: nicht der Aufruhr des Menschen und nicht der Zorn Gottes. Sondern das tiefste Geheimnis ist dies, dass Gott selber in dem Menschen Jesu dem nicht ausweicht, an die Stelle des sündige Menschen zu treten und das zu sein…, was dieser ist, ein Empörer, und das Leid eines solchen zu leiden. Die totale Schuld und die totale Sühne selber zu sein! Das ist es, was Gott in Jesus Christus getan hat.“ (Dogmatik im Grundriß)

Auch die evangelischen Gesangbücher sollten dann besser entschlackt werden, wo es wie in EG 342 („Es ist das Heil uns kommen her“) immer noch heißt: „Doch mußt das Gesetz erfüllet sein, / sonst wärn wir all verdorben. / Drum schickt Gott seinen Sohn herein, / der selber Mensch ist worden; / das ganze Gesetz hat er erfüllt, / damit seins Vaters Zorn gestillt, / der über uns ging allen.“

Heute scheint ein neues Dogma zu herrschen: Bleib mir bloß fern mit dem Zorn Gottes, der gestillt werden müsste! Eine Dogmatik wie die von Eduard Böhl könnte solch ein Denken korrigieren. Der Wiener Professor formulierte Ende des 19. Jahrhunderts noch eindeutig: „So hat denn Jesus zunächst die ganze Zeit seines Lebens auf Erden den gesamten vom Gesetz geforderten Gehorsam Gott dargebracht und zugleich dabei den Zorn Gottes wider die Sünde und alle aus derselben hervorgehenden Strafen getragen.“ Oder: „Hier [auf Golgatha] erreichte der Gehorsam Christi den Gipfelpunkt. Auch hier gab er dem Vater sein Recht, auch hier ertrug er willig den Zorn Gottes wider das Fleisch und die Sünde.“ Christus „erfuhr bis zum äußersten den Zorn Gottes, und der Verdammten schreckliches Los ward seines“. „Und in Gottes Augen… ist auch kein Fluch, kein Verdammungsurteil und kein Zorn mehr vorhanden denen gegenüber, welche er gerecht gesprochen um Christi willen.“

Nach langer Fahrt auf der richtigen Strecke wird dann doch die falsche Ausfahrt genommen, eine Ausfahrt, die schon F. Sozzini, später J. McLeod Campbell, H. Bushnell, A. Ritschl, C.H. Dodd, V. Taylor, W. Wink und nun S. Chalke, A. Mann, C. Pinnock und B. McLaren genommen haben. Danach hat das Kreuz zuerst und in erster Linie eine Auswirkung auf uns Menschen. Die objektive Basis geht verloren. Bei mehrglauben.de klingt das dann so:

„Es ist also nicht Gott, der dem Menschen feindlich gegenüber steht, sondern der Mensch, der sich gegen Gott und seine guten Gebote, die Leben erst ermöglichen, wendet. Immer dort, wo der Mensch dem Menschen zum Wolf wird, zeigt sich, dass Menschen nichts so sehr brauchen wie Versöhnung. Immer da, wo der Mensch dem Menschen ins Gesicht schlägt, trifft er auch den Schöpfer. Aus dieser feindlichen Haltung heraus muss der Mensch versöhnt werden. In Christus begegnet er dem Menschen und dem Gott, der selbst den Schlag entgegennimmt – und die Verurteilung des Schlägers.“

Hier mehr: lahayne.lt.

Die Notwendigkeit des Schriftbeweises

Dietrich Bonhoeffer (Gemeinsames Leben, 2012, S. 47):

Wir müssen die heilige Schrift erst wieder kennen lernen wie die Reformatoren, wie unsere Väter sie kannten. Wir dürfen die Zeit und die Arbeit dafür nicht scheuen. Wir müssen die Schrift kennen lernen zu allererst um unseres Heiles willen. Aber es gibt daneben genug gewichtige Gründe, um uns diese Forderung ganz dringlich zu machen. Wie sollen wir z. B. in unserm persönlichen und kirchlichen Handeln jemals Gewißheit und Zuversicht erlangen, wenn wir nicht auf festem Schriftgrund stehen? Nicht unser Herz entscheidet über unsern Weg, sondern Gottes Wort. Wer aber weiß heute noch etwa rechtes über die Notwendigkeit des Schriftbeweises? Wie oft hören wir zur Begründung wichtigster Entscheidungen ungezählte Argumente „aus dem Leben“, aus der „Erfahrung“, aber der Schriftbeweis bleibt aus, und gerade er würde vielleicht in genau entgegengesetzte Richtung weisen? Daß freilich der den Schriftbeweis in Mißkredit zu bringen versuchen wird, der selbst die Schrift nicht ernstlich liest, kennt und durchforscht, ist nicht zu verwundern. Wer aber nicht lernen will, selbständig mit der Schrift umzugehen, der ist kein evangelischer Christ.

Thabiti Anyabwile

Hier eine kurzes Interview mit dem Hauptredner der Evangelium21-Konferenz 2014, Thabiti Anyabwile. Er spricht darin über die Bücher, die auf seinem Nachttisch liegen. Über Sensing Jesus von Zack Eswine sagt er.

Eswine’s book is having a tremendous effect on me. In a poetic, contemplative way, he’s showing me the joy that comes from accepting the limitations of creatureliness. I’m learning that following Jesus means I don’t have to be a superhero, do everything, be everywhere, and know it all. That’s been wonderfully liberating, and I’m sensing a great deal more about my own heart, my own setting, and Jesus‘ presence in both …

Hier: thegospelcoalition.org.

Für eine Erweckung in Deutschland braucht es „Biblische Theologie“

TGCMatthias Lohmann und Michael Clark haben einen guten Artikel über die Notwendigkeit der „Biblischen Theologie“ geschrieben. Die Gospel Coalition hat „Revival in Germany Needs Biblical Theology“ heute veröffentlicht:

Imagine, if you can, a training center for young doctors whose curriculum focused entirely on studying individual parts of the human body. One day students might investigate the elbow, which would arrive hermetically sealed and sterile. Next, attention would shift to the kidney or the eyeball and so on. Over time, each part of the body would become the subject of extensive analysis, being dissected and re-dissected into ever smaller units, which would themselves then become the focus of further scholarly inquiry. Yet at no point would students ever investigate the interaction between these parts and their relationship to the body as a whole. Indeed, though the existence of the body was widely recognized as „fact,“ the very idea of such an enquiry into its combined function was deemed „unscientific“ by the authorities and ruled out as a suitable topic for research.

What would be the consequences of such an approach to medical education? To begin, while students might graduate with extensive knowledge about all manner of things, they would understand next to nothing about the parts they had been examining. For how can you explain what a nose is and does without reference to the face on which it sits, the central nervous system, and the brain? Worse still, they would be hopelessly ill-equipped to deal with a person as a whole. Their training would give them no way of distinguishing between a complete collection of diverse human „material“— each piece carefully dissected, labeled, and sealed in individual plastic bags — and their own living, breathing daughter. Without some understanding of the bigger picture, of how the parts fit together within the whole, their knowledge would ultimately amount to almost nothing.

Hier mehr: thegospelcoalition.org.

Wer mehr über die „Biblische Theologie“ erfahren möchte, sollte sich schnell für die im Artikel erwähnte Konferenz anmelden.

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