Walter Künneth meint, dass die Anfälligkeit für Ideologien wächst, wo der Glaube schwindet (Fundamente des Glaubens, 1977, S. 32–33):
Ohne Frage stehen wir heute vor einem rapiden Anschwellen, vor einer erstaunlichen Eskalation der Ideologien. Diese Aufblähung ideologischer Tendenzen erscheint charakteristisch für die gegenwärtige Weltlage. Das Zeitphänomen einer zunehmenden und universalen Ideologisierung ist zutiefst eine Frucht der ungelösten Existenzkrise des Menschen. Das Unbefriedigtsein des Menschen von einem bloßen ökonomischen Pragmatismus reiner Zweckmäßigkeit treibt ihn zur Öffnung für immer eine ideologische Verbrämung und Rechtfertigung, ist aber unsachlich einseitig in der Beurteilung der Verhältnisse und Vorgänge und polarisiert die Standpunkte immer mehr. Das spezifische Daseinsverständnis der Ideologie drückt sich in der Behauptung aus, sie besitze die Antwort auf die Frage nach der Sinngebung der menschlichen Gesellschaft und damit auch des individuellen Schicksals, das von diesem Kollektiv abhängig ist. Dabei geht es um die Setzung einer Sinnmitte des Lebens, eines Weltmittelpunktes, und damit um die Ausrufung einer Zielvorstellung, deren Verwirklichung einen totalen Lebenseinsatz lohnt! In einer Ideologie vollzieht ich die Ausprägung eines bestimmten menschlichen „Wertbewußseins“. Es kennzeichnet und konkretisiert sich anschaulich und bei spielhaft in einem System von Vorstellungen, wie die Probleme der Gesellschaft am besten zu lösen seien. So entsteht ein gedanklich geordneter Komplex von geistigen, deutenden, regelnden Leitlinien, die das Denken, die irrationalen Vorstellungen und Phantasieprodukte, das Sichverhalten und die Entscheidungen der einzelnen Menschen wie der Gesellschaft in bestimmte Bahnen lenken sollen. Ideologie stellt sich als ein geistiges Koordinatensystem dar, in dem die Fragen der Zeit eingeordnet werden sollen. Wir haben es also mit einem „Antriebs- und Steuerungssystem der menschlichen Gesellschaft und ihrer Gruppen“ zu tun). Eine Ideologie versteht sich als ein wesentliches Angebot einer Lebenshilfe, einer Sinndeutung der Menschheitsgeschichte und ihrer Entwicklung und damit als Motor zur praktischen Bewältigung der Daseins- und Zukunftsaufgaben der menschlichen Gesellschaft.
Welch eine Ironie!