Unsere Ersatzgötter

Folgendes Zitat habe ich bei der Psychotherapeutin Helga Lemke gefunden (Seelsorgerliche Gesprächsfindung, 1992, S.19): 

Mit dem Verlust des Glaubens an einen lebendigen Gott ist zugleich auch die Möglichkeit verlorengegangen, ein Urvertrauen entwickeln zu können. Das ist aber nach Erik Erikson eine der Voraussetzungen für die gesunde Entfaltung der Persönlichkeit. Ohne das Wissen um und die Erfahrung von Geborgenheit ist der Mensch existentiellen Ängsten preisgegeben, die zu erheblicher Beeinträchtigung seines psychischen Befindens führen können. „Wir leben in einer säkularisierten Welt, in der die Folgen der allgemeinen Gottlosigkeit einen Teil der Menschen regelrecht krank machen.“ Der Mensch ist insofern genötigt, die entstandene Leere und Einsamkeit zu füllen und sich Ersatzgötter zu schaffen, die die Funktion einer höheren Macht erfüllen sollen. Das mag u.a. auch erklären, warum bestimmte Werte oder auch Ideologien einen immer stärkeren Absolutheitsanspruch erheben und mit starken Machtprivilegien ausgerüstet sind – werden doch an sie fast göttlich zu nennende Ansprüche gestellt bis hin zu paradiesischen Erwartungen: Sicherheit, Geborgenheit und Frieden zu gewährleisten.

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6 Kommentare
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5 Monate zuvor

Schon dieser Satz:

Mit dem Verlust des Glaubens an einen lebendigen Gott ist zugleich auch die Möglichkeit verlorengegangen, ein Urvertrauen entwickeln zu können.

ist schlichtweg falsch. Der Rest ergibt sich.
Urvertrauen erwirbt der Mensch in sehr frühen Lebensjahren mittels Bezugspersonen. Lange bevor ein eigenes Gottesbewusstsein entwickelt wird.

DanielV
5 Monate zuvor

Ich bin kein Experte, kann mich dem Zitat aber weniger kritisch nähern. Erik H. Erikson sprach in der Bindungstheorie doch von „basic trust“, sodass aus dieser Formulierung – je nach Übersetzer – später „Grundvertrauen“ oder „Urvertrauen“ wurde. (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Urvertrauen#cite_note-1) Beide Begriffe – Grundvertrauen und Urvertrauen – sind hilfreich, wenn man ihre unterschiedlichen, inhaltichen Vorzeichen berücksichtigt, finde ich. Dass ich dank stabiler Beziehungen in meiner Prägung ein gewisses Grundvertrauen entwickeln kann, das mir dann eine innerliche Stabilität für meinen weiteren Lebensweg gewährt, ist wichtig und wunderbar. Aber ein Urvertrauen im wahrsten Sinne des Wortes scheint mir dermaßen groß und tief, existenziell und fast schon transzendenzabhängig… das vermag mir in dieser schönen und schrecklichen Welt weder mein eigenes Ich vermitteln, noch irgendein menschliches Beziehungsnetz. Urvertrauen zu wem oder zu was, das dann stark genug wäre, an der Realität dieser Welt nicht in tausend Scherben zu zerschellen und mich selbst zu halten? Ein letzter Hinweis in Sachen Ersatzgötter: Die Philosophin Gesine Domröse hat… Weiterlesen »

Matze
5 Monate zuvor

@ Charly Lücker
Wenn ich so anschaue was in meinem Umfeld geschieht liegt folgender Schluss nahe. Ein Kind entwickelt Urvertrauen von Bezugspersonen. Nur: wenn die Bezugsperson kein Vertrauen zu Gott hat und ihr Leben im Chaos verläuft kann sie auch kein umfassendes Urvertrauen vermitteln. Auch hier gilt: es muss vorgelebt sein, auch wenn da das Meiste hier nonverbal geschieht.

Helge Beck
5 Monate zuvor

Die menschliche Sehnsucht nach Sinn, Geborgenheit und Verständnis ist tief verwurzelt und vielschichtig. Sie auf den Verlust des Glaubens an einen lebendigen Gott zu reduzieren und zu behaupten, dass dies zwangsläufig zu einem psychischen Defizit führt, ist eine übersimplifizierte Sichtweise, die der Komplexität der menschlichen Natur nicht gerecht wird. Glaube kann eine Rolle spielen, klar. Aber es ist bei weitem nicht der einzige Weg, um ein erfülltes und psychisch gesundes Leben zu führen.

5 Monate zuvor

Die Bezugspersonen sind alle, seit dem Sündenfall, in sich keine Götter oder Heilige. Das ist weder verwunderlich noch irgendwie schwer nachzuvollziehen. Dennoch gibt es nicht wenige, wenn nicht die meisten Menschen, die in ihrer Kindheit ein gutes Urvertrauen oder Grundvertrauen (das sind nur zwei Wörter für dasselbe) entwickeln konnten. Je nachdem, wie stabil dieses erworbene Urvertrauen ist, hat es starken Einfluss auf eine spätere Gottesbeziehung. Aber es bleibt dabei: Erst entwickelt sich beim Kleinkind -> Teenager das Urvertrauen und später, innerhalb dieser Entwicklung oder sogar erst danach, erlangt der Mensch die mentale Reife, um ein Gottesbewusstein aufbauen zu können und in Bezug auf Gott eine echte Entscheidung treffen zu können. Menschen sind sehr wohl, egal ob gottgläubig oder nicht, in der Lage ihren Kindern Geborgenheit, Sicherheit und Stabilität zu geben. Wir sollten uns evtl. hier mal die Frage stellen – angesichts solch steiler Behauptungen, warum es nicht mal wenigen gläubigen Christen nicht gelingt, ihren Kindern zu helfen ein solch stabiles… Weiterlesen »

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