G.K. Chesterton schreibt in seinem Buch Orthodoxie (S. 37–38; siehe dazu hier):
Ich erinnere mich, dass ich einmal mit einem wohlhabenden Verleger spazieren ging und der eine Bemerkung machte, die ich schon oft zu hören bekommen hatte; fast kann man sie als Motto der heutigen Welt ansehen … Der Verleger äußerte über jemanden: „Dieser Mann wird es weit bringen; er glaubt an sich.“ Und ich erinnere mich, dass, als ich lauschend den Kopf hob, mein Blick auf einen Omnibus fiel, auf dem der Name „Hanwell“ [Anmerkung: eine psychiatrische Anstalt in London] stand. Ich sagte zu ihm: „Wollen Sie wissen, wo sich die Leute befinden, die am meisten an sich glauben? Ich kann es Ihnen sagen.“
hm … der Beitrag ist in meinen Augen ein typisches Beispiel von aneinander vorbei reden bzw. nicht das gleiche meinen. „An sich glauben“ (wie der Verleger es hier wohl meint) bedeutet: „zuversichtlich sein“, „seinen eigenen Kräften/Fähigkeiten zu vertrauen“,“ damit zu rechnen, es schaffen zu können“ oder mehr psychologisch: er hat eine hohe „Selbstwirksamkeitserwartung“. Diese Eigenschaften sind nachweislich mit mehr psychischer Gesundheit verbunden. — In der Formulierung „am meisten an sich glauben“ schwingt m.E. mit: „mehr an sich als an Gott glauben“, „sich selber als Gott sehen“ usw… und impliziert, dass Gott bei diesen Personen nicht der Platz eingeräumt wird, den er haben sollte. Und schwupp! Es braucht nur eine kleine Verbindung dieser Gedanken und schon wird Selbstvertrauen zu etwas „Gefährlichem“, das mit Gott in Konkurrenz steht. Wie fatal !! Ich kann doch im oben genannten Sinne (wie der Verleger meint) an mich selber und meine Fähigkeiten glauben und zugleich im Auge behalten, dass letztlich doch alles in Gottes Händen liegt… Weiterlesen »
@Matt: Erstaunlich, welche Reaktionen so eine Anekdote wecken kann: typisch, fatal, polemisch, Angst nährend, ungesund, nicht erbaulich. Ein Analytiker könnte auf den Gedanken kommen: Hier spricht eine gekränkte Seele.
Zu Chesterton: Da es ihm an Selbstvertrauen nicht gemangelt hat, zielt er auch nicht auf die „Selbstwirksamkeitserwartung“ ab. Was er hier auf’s Korn nimmt, ist das absolute Selbstvertrauen. „Absolutes Selbstvertrauen ist nicht nur eine Sünde, es ist auch eine Schwäche“ (S. 38). Das mag aus dem Auszug nicht so klar werden, liegt also an meinen Kürzungen.
Die beiden haben übrigens nicht aneinander vorbei geredet, was an der Replik des Verlegers schön deutlich wird: „Also, wenn ein Mensch nicht an sich selbst glauben darf, woran soll er dann glauben?“.
Liebe Grüße, Ron
Kontext hilft zwar immer, aber Chesterton hat mit seiner Bissigkeit einfach Recht: Der größte Götze, den wir alle anbeten, schaut uns jeden Morgen aus dem Spiegel an.
Wahre Worte! Eines verwundert mich allerdings ein wenig: dass der Katholik Chesterton bei Reformierten offensichtlich recht beliebt ist (stiess jetzt schon auf den verschiedensten calvinistisch geprägten Seiten auf Chesterton-Zitate). Ich glaube, ich sollte seine Orthodoxie auch mal lesen. LG René
@Rene: Es scheint mir ein verbreitetes Missverständnis zu sein, zu meinen, Reformierte fänden nur gut, was Reformierte geschrieben hätten. Reformierte lesen auch C.S. Lewis, Augustinus oder Thomas von Aquin. 😉 Chesterton, der übrigens aus einem eher liberalen protestantischen Hintergrund stammt, überzeugt vor allem durch Klarheit der Sprache und Gedanken und natürlich durch seinen Humor.
Liebe Grüße, Ron
Jetzt hast du die anderen drei Helden aufgelistet, die ich oft zitiert sehe (neben diesem von Anselm, oder wie er heisst). 🙂 Aber ich zweifle nicht daran, dass Reformierte breitflächig lesen; durch Reformierte bin ich erst auf nichtreformierte Autoren aufmerksam gemacht worden, die in meinen nichtreformierten (dispensationalistischen) Kreisen wiederum unbekannt sind. Nur auf den Chesterton bin ich in letzter Zeit besonders häufig gestossen, aber das ist wohl Zufall. LG René
@Rene
Ah – dieser Anselm. Du meinst sicherlich Anselm von Canterbury 😉
Peter
PS: Ziehe meinen Beitrag damit zurück 🙂
Ja, genau, natürlich nicht dieser Guru mit den Selbsthilfebüchern. 🙂 LG René
Wobei zu diesem Guru „glaube an dich selbst“ passen würde 😉
Gruß,
Andreas
@Rene: wie, darf man jetzt nicht mal mehr sich selbst helfen?
@Ron: Danke für dieses schöne Zitat! Übrigens – Reformierte dürfen auch Luther lesen, oder Eugene Peterson, oder Johann Georg Hamann usw. usw.
Typisch Chesterton. @matt: Er schreibt bewusst polemisch und paradox, dass ist sein Stil. Der eben darauf abzielt, über Paradoxien den Kern freizulegen. Man könnte fast schon von chestertonesk sprechen. Ist zwar ein Wortungeheuer, würde aber seiner ungeheuren Leibes- und Geistefülle entsprechen. Als er Orthodoxie geschrieben hat, war er auch noch kein Katholik. Erwähnt in der Hoffnung, dass in der ein oder andere jetzt doch liest. 😉
Zufällig gestern als Zitat gelesen. Nietzsche: „Ach, so gebt doch Wahnsinn, ihr Himmlischen! Wahnsinn, dass ich endlich an mich selber glaube!“ Mich würde nicht wundern, wenn Chesterton nicht auch Nietzsche als Beispiel vor Augen hatte. Falls nicht, taugt seine Biographie sicher trotzdem als Beispiel par excellence.
Da ist wohl Jemand dem Teufel auf den Leim gegangen. Matt (der erste Kommentator) hat ganz recht, dass Chesterton und der andere Mann aneinander vorbeireden. Sie benutzen zwar das gleiche Wort (an sich selbst glauben), doch ist damit jedesmal etwas anderes gemeint. Falls Jemand das liest, der sich selbst nicht vertraut (im Sinne von Zutrauen zu eigenen Fähigkeiten), und der dann denkt, es sei eine Sünde, für die man in die Hölle kommt, wenn man sich selbst vertraut, ist der Artikel pures Gift. Und es ist so, dass sich Gottvertrauen und Selbstvertrauen keineswegs ausschliessen müssen: Man kann ja auch fragen: Wenn Gott Dir zutraut, Dein Leben bewältigen zu können, warum solltest Du es Dir dann nicht auch zutrauen? Tust Du das, so bist Du in Übereinstimmung mit Gott, wenn nicht, zweifelst Du an Dir selbst und an Gott.
(Und ich spreche nicht von dem schlechten An sich selbst glauben, sich selbst zum Gott machen.)