Eduard Thurneysen: Die enge Pforte

Kürzlich habe ich hier auf eine Konferenz zu Eduard Thurneysen verwiesen. In den THEOLOGISCHEN BEITRÄGEN (Ausgabe 24/4, Jg. 55, August 2024, S. 218–226, hier S. 225) bin ich nun noch auf eine Predigt zu Lukas 15,3–7 von Thurnseysen gestoßen, die einen sehr herausfordernden Abschnitt enthält. Kurz: Das Christentum und die Kirche stecken nicht erst heute in der Krise.

Thurneysen predigte 1920: 

Wir sind schon, ob wir es wissen oder nicht, an den Rand hinausgedrängt, wo es zu Ende geht mit allem Menschenwitz. Wir sind schon tief hineingeführt in Unsicherheit und Erschütterung und Untergang. Unsere Zeit steht ja mitten drin. Was wollen wir noch lange Umschweife machen und Auswege suchen? Wir müssen hindurchgehen durch den Zusammenbruch. Wir müssen die Augen auftun und aufrichtig werden.

Wir müssen uns vor die Einsicht stellen: nur Gott kann noch helfen! Also wollen wir es tun. Also gehen wir diesen Weg, nicht dumpf und widerwillig, sondern als solche, die wissen: gerade dieser Weg, der Weg durch die Tiefe führt zum Ziel, aus dem Ende wird der neue Anfang geboren. Wo es zu dieser Aufrichtigkeit, dieser Demut, diesem Mut, dieser Buße kommt, da hilft Gott. Da ist nicht dumpfes Zugrundegehen, Modergeruch und Verwesung, sondern alsbald Morgenrot eines neuen Tages, der der Nacht ein Ende macht. Da zieht an das Verwesliche das Unverwesliche und das Sterbliche das Unsterbliche. Da sterben wir, aber siehe, wir leben! Da ist man freilich auf dem Grunde angelangt. Aber gerade wenn man auf den Grund kommt, findet man wieder festen Boden unter den Füßen. Oder gibt es einen festern Boden als die Gewißheit: nur Gott kann helfen, aber er kann helfen!? Dieses einfache Sätzlein will wieder wahr werden mitten in den Stürmen unsrer Zeit. Dazu sind sie über uns gekommen, dazu stehen wir draußen am Rande des Todes, im Untergang des Abendlandes.

Laßt uns die Zeichen der Zeit verstehen und darum ringen, daß Gottes neuer Boden uns unter die Füße komme. Laßt uns Buße tun! Wir wollen endlich, endlich zugeben, was wir schon lange wissen: es bedarf nicht eines neuen religiösen Auttriebes, nicht noch vermehrter kirchlicher Geschäftigkeit, nicht einer noch schlangenklugeren Auflage der alten Theologie, aber zu einem ganz neuen Fragen nach Gott muß es kommen. Es fehlt unserem Christentum nicht nur irgendwo am Rande, an der Außenseite, etwa an der Organisation und Technik seiner Kirchen, das Loch ist im Zentrum, es fehlt am lebendigen, kräftigen, heilenden und vergebenden, herausführenden und erlösenden Lebenswort Gottes. Darnach muß wieder gesucht werden von uns allen.

Deshalb braucht es nicht beredtere, gewandtere, gebildetere Pfarrer, aber, sagen wir kurz, demütigere Pfarrer, Theologen, denen es wirklich um Gotteserkenntnis zu tun ist, und denen es darum auch wenig ausmacht, um ihres aus dieser Erkenntnis fließenden und darin gegründeten kühnen, kindlichen, in den Himmel greifenden Glaubens willen die „Dümmlinge der menschlichen Gesellschaft“ zu heißen. Und nicht Gemeinden braucht es, die von ihren Predigern immer gesteigerte Leistungen verlangen, weil sie nie genug bekommen an Andacht, Erbauung und geistreichen Worten, aber Gemeinden, die mit eintreten in das Ringen um das lebendige Wort Gottes, die mitleiden unter der innern Not des Christentums und mithoffen auf den anbrechenden Gottestag der Hilfe. Es braucht gerade das, was wir heute so tief beklagen möchten: den Bankrott der Kirche, das an die Wandgepreßtsein des „Christentums“, den Stillstand unserer Missions-, unster Vereins- und Liebeswerke, den Zusammenbruch unsrer Lebensreformen, das Mißlingen unsrer Weltallianzen, damit endlich wir selber stillestehen vor Gott, damit es endlich in unsre Ohren kommen kann, was er geredet hat: „Ich bins, der Gerechtigkeit lehrt und ein Meister ist, zu helfen. Ich trete die Kelter allein und ist niemand unter den Völkern mit mir.“ 

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