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Martin Hengel: Jesus als Vollender

Martin Hengel schreibt („Jesus und die Tora“, Theologische Beiträge, Jahrgang 9, 1978, S. 152–172):

Seine endzeitliche Funktion macht nach dem Urteil Jesu den Täufer zu dem Größten unter den vom Weibe Geborenen, „aber der Kleinste in der Gottesherrschaft ist größer als er“ (Mt. 11,11–Lk. 7,28). Ganz gleich wie dieses rätselhafte Wort Jesu zu deuten ist, ob auf Jesus selbst oder auf die, die an der Gotte herrschaft teilhaben, es zeigt ebenfalls das qualitativ Neue, Andersartige, das mit der Zeit der Erfüllung, dem Anbruch der Gottesherrschaft verbunden ist. Da kommt auch in dem Makarismus Jesu zum Ausdruck „Selig sind die Augen, die sehen, was ihr seht (und die Ohren, die hören, was ihr hört), denn ich sage euch, viele Propheten und Könige wollten sehen, was ihr seht, und sahen es nicht, und wollten hören, was ihr hört, und hörten es nicht“ (Lk. 10,23 f.). Das Sehen und Hören bezieht sich auf Jesu Taten und Worte, die selbst schon Teil der Erfüllung sind. Denn mit seinem Auftreten ist die Gottesherrschaft schon im Anbruch: „Wenn ich mit dem Finger Gottes die Dämonen austreibe, dann ist die Gottesherrschaft zu euch gekommen“ (Lk. 11,20). Sie „kommt nicht mit der Beobachtung (äußeren Vorzeichen)“, denn sie „ist mitten unter euch“ – in der Person Jesu, ihr begreift es nur nicht (Lk. 17, 20 f.). Die Kontrastgleichnisse zeigen gerade im Kontrast auch die Kontinuität zwischen dem äußerlich unscheinbaren Wirken Jesu und der Vollendung der Gottesherrschaft „in Kraft” (Mk. 9,1). Das bedeutet aber, daß es ein grundlegender Irrtum war, in Jesus eine nichtmessianische Gestalt zu vermuten, in ihm den bloßen „Rabbi und Propheten“ sehen zu wollen. Auch die von Conzelmann eingeführte Kategorie des „letzten Rufers“ (RGG3 3,633) reicht nicht aus, sie sollte eher auf den Täufer bezogen werden. Jesus tritt nicht mit dem Anspruch auf, letzter Rufer, sondern – messianischer – Vollender zu sein. 

Martin Hengel – kurze Meldung in der FAZ

mh.jpgEs ist schon merkwürdig: Einer der weltweit bedeutendsten Experten für Literatur des Urchristentums und antiken Judentums, Prof. Martin Hengel, ist gestorben (siehe hier), aber außerhalb der Schwäbischen Presse wird in Deutschland kaum darüber berichtet. Wenigstens die FAZ hat einen kurzen ›Nachruf‹ veröffentlicht (FAZ Nr. 153, 6. Juli 2009, S. 28). Darin heißt es unter anderem:

In seiner Habilitationsschrift zu »Judentum und Hellenismus« weist er den Einfluss des Hellenismus auf die spätere jüdische Gesellschaft nach. Mitte der sechziger Jahre waren solche Studien vollkommen unüblich, trugen Hengel aber weit über die Grenzen der Theologie hinaus auch Anerkennung bei Althistorikern und Altphilologen ein …

Auf den Vorwurf, allzu gutgläubig gegenüber den frühchristlichen Quellen zu sein, hat Hengel geantwortet, was als mutige Kritik der Überlieferung erscheine, sei in Wirklichkeit oft erfahrungsblaser »Schreibtischdogmatismus«. Unter der wachsenden theologischen Unbildung und Unkenntnis der alten Sprachen hat er zunehmend gelitten und 1993 mit der von ihm gegründeten Philipp-Melanchton-Stiftung entgegenzuwirken versucht.

Ich hoffe sehr, dass viele Schüler ihrem Lehrer folgen. Die bekenntnisorientierten Kreise sollten die Sorge Hengels ernst nehmen und das Studium der biblischen Sprachen beleben. Der flache Pragmatismus, der gelegentlich (auch in den Ausbildungsgängen) eingezogen ist, hat keine Zukunft.

Nachtrag: Roland Deines, selbst Schüler von M. Hengel, hat für die Society of Biblical Literature einen englischsprachigen Nachruf verfasst:  www.sbl-site.org. [Den Hinweis auf den Text verdanke ich Alexander!]

Martin Hengel zur Glaubwürdigkeit der Apostelgeschichte

Ich stelle das von Alexander gepostete Zitat von Martin Hengel hier nochmals ein, da es Hengels Hochachtung vor den antiken Quellen exzellent zum Ausdruck bringt.

Martin Hengel schrieb im Jahre 1998:

Wir wissen zu wenig, als daß wir es uns leisten könnten, in hyperkritischer und d.h. zugleich geschichtsfeindlicher Attitüde Quellenaussagen ohne genau ins Detail gehende Prüfung von vornherein zu verwerfen, d.h. wertvolle, da spärliche Quellen vor eingehender Prüfung zu ›zerstören‹. Dies geschieht, wenn man Lukas ohne wirkliche Begründung vorwirft, er habe diese oder jene Fakten frei erfunden. Eine derartige Haltung müßte heute, nach über 200 Jahren ›historisch-kritischer‹ Arbeit am Neuen Testament und den damit verbundenen Sünden, eher als unkritisch-unhistorisch bezeichnet werden. Die eigentliche Gefahr in der (Evangelien- und) Actaauslegung ist nicht mehr eine ängstliche Apologetik, sie führt inzwischen in der wissenschaftlichen Arbeit weithin ein Schattendasein, sondern die hyperkritische Ignoranz und Arroganz, die – oft in Verbindung mit einer enthemmten Phantasie – jedes Verständnis für die lebendige geschichtliche Wirklichkeit verloren hat.

Die Apostelgeschichte halten wir gegen eine verbreitete Anti-Lukas-Scholastik für ein Werk, das bald nach dem 3. Evangelium von Lukas dem Arzt verfaßt wurde, dem Reisebegleiter des Paulus ab der Kollektenreise nach Jerusalem. D.h., sie ist, zumindest zum Teil, als Augenzeugenbericht für die Spätzeit des Apostels, über die wir aus den Briefen nur wenig erfahren, eine Quelle aus erster Hand.

Martin Hengel (1926–2009)

41Evpr1nrzL._SL160_.jpgDer emeritierte Professor Martin Hengel ist heute Nacht in Tübingen im Alter von 82 Jahren verstorben. Der evangelische Theologe war von 1972 bis 1992 Professor für Neues Testament und Antikes Judentum an der Universität Tübingen. Über viele Jahre leitete er das Institut für antikes Judentum und hellenistische Religionsgeschichte der von ihm gegründeten Philipp-Melanchthon-Stiftung.

Hengel, der an den Forschungen Adolf Schlatters anknüpfte, war einer der bedeutendsten Neutestamentler und größten Paulusforscher im 20. Jahrhundert. In seinem großen Werk Judentum und Hellenismus: Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts vor Christus wies Hengel nach, dass das antike griechische Denken bereits zu Lebzeiten Jesu weite Teile des Judentums durchdrungen hatte. Er bestritt somit die nachträgliche Hellenisierung und Verfremdung des jüdisch-christlichen Glaubens, die in den Arbeiten von Adolf von Harnack oder Rudolf Bultmann vorausgesetzt wurde.

Hengel: Geschichte des frühen Christentums

201011051953.jpgDas Buch:

  • Martin Hengel u. Anna M. Schwemer: Geschichte des frühen Christentums, Bd. 1: Jesus und das Judentum, Tübingen: Mohr Siebeck 2007, 749 S.

ist ein wichtiger Beitrag zur neutestamentlichen Wissenschaft. Der große, im vergangenen Jahr verstorbene, Martin Hengel (vgl. hier), formuliert in diesem Buch radikale Einwände gegenüber der bultmannschen Formkritik und Theologie. Paul Metzger (Mainz) resümiert in seiner Rezension des Buches verblüfft:

Insgesamt erstaunt des Öfteren, wie sehr die Autoren den biblischen Texten vertrauen. Gerade was das Selbstverständnis Jesu als Opferlamm angeht, sind Bedenken anzumelden. Allerdings schmälern die benannten Differenzen den Ertrag des Buches keineswegs. Wie fast alle Untersuchungen Hengels ist auch dieses Werk ob des immensen Quellenwis-sens und der geschlossenen, thesenfreudigen Darstellung lesenswert. Gerade seine oft steilen Anschauungen, die großzügig historische Lücken mit Hilfe von phantasievollen Arbeitshypothesen überbrücken können, sind eine stetige Herausforderung für das eigene Denken. Auf die weiteren Bände der »Geschichte des frühen Christentums« darf der Leser sich freuen.

Hier gibt es die vollständige Rezension: 2008-2-058.pdf. Das Buch gibt es natürlich auch, aber nicht gratis oder günstig, sondern nur für (satte) 99,00 Euro.

Gab es ein einheitliches palästinensisches Judentum?

Aus: Der neue Paulus: Handreichung zur „Neuen Paulusperspektive“, S. 42–43):

Obwohl die Kritik am Zerrbild des Judentums zu begrüßen ist, hat sich inzwischen gezeigt, dass Sanders seine Quellen einseitig gewählt und über-systematisiert sowie polemisch ausgewertet hat. Während Sanders das Gemeinsame des Judentums in Palästina betont (Common Judaism), sind die religiösen und sozialen Unterschiede zwischen den jüdischen Gruppen weniger klar präsentiert worden. Martin Hengel und Roland Deines schreiben etwa, dass Sanders’ Darstellung des Judentums nur eine Außenansicht ist. „In Palästina haben die Menschen die beachtlichen Unterschiede und Spannungen“ damals viel deutlicher zur Kenntnis genommen. Der jung verstorbene Friedrich Avemarie hat nachgewiesen, dass die rabbinische Soteriologie nicht nur als Gnadenlehre verstanden werden kann, wie das Sanders behauptet. Vielmehr gab es innerhalb des palästinensischen Judentums divergierende Gnadenlehren. Sowohl Billerbeck als auch Sanders haben die Texte jeweils einem soteriologischen Prinzip untergeordnet. Nach Avemarie lassen sich jedoch Werkgerechtigkeit und Bundesnomismus in der frührabbinischen Literatur gleichrangig und nebeneinander nachweisen. Aus etlichen jüdischen Texten geht zudem hervor, dass die soteriologische Bedeutung des Gesetzes und ihrer Erfüllung höher eingeschätzt wird, als Sanders meint. Selbst wenn es stimmt, dass die Tora nicht gegeben wurde, um in den Bund hineinzugelangen, bleibt ja die Frage nach dem Heil. Es ist dem Volk nämlich nicht gelungen, das Gesetz zu halten; und so droht bei einem Gericht nach den Werken eben doch die Verurteilung. Der eben schon erwähnte John Barclay zeigt im zweiten Kapitel seines großen Paulusbuches, dass in etlichen jüdischen Texten (er untersucht fünf Überlieferungen akribisch) etwas zu finden ist, was sich „sehr deutlich von Sanders’ Bild des ‚Bundesnomismus‘ unterscheidet“. Der Neutestamentler Jörg Frey schreibt zu Sanders Sicht des Judentums:

„Methodisch führt die Abstraktion auf Grundstrukturen zu einer Einebnung der je spezifischen Differenzen, zu einem vermeintlich einheitlichen Judentum hinter den Texten, das mit der historischen Wirklichkeit nicht mehr übereinstimmt. Neuere Untersuchungen zeigen, dass das Judentum jener Zeit in seiner Zuordnung von Tora und Heil vielfältiger und weniger schematisch war, als Sanders zugesteht.“

Die Kategorien des rabbinischen Judentums sind also weitaus flüssiger, als wie sich die Vertreter der NPP es sich wünschen.

Gab es ein einheitliches palästinensisches Judentum?

Besonders E.P. Sanders hat das Bild vom antiken Judentum, das die Paulusinterpretation über Generationen hinweg geprägt hat, nachhaltig korrigiert. So gut wie alle Vertreter der Neuen Paulusperspektive (NPP) sowie zahlreiche sonstige Paulusforscher stimmen der Behauptung Sanders zu, dass das Judentum des ersten Jahrhunderts fälschlicherweise als Gesetzesreligion interpretiert worden ist. Die These lautet: Das, wogegen der Apostel scheinbar angeschrieben hat – nämlich die Werkgerechtigkeit der Gesetzestreuen – hat es so nicht gegeben. Das Judentum, das in Werken wie etwa dem Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch von Hermann Strack und Paul Billerbeck vermittelt wird, ist nur eine minderwertige Karikatur des jüdischen Glaubens. Die Paulusinterpretation muss gründlich von der Folie der Leistungsreligion befreit werden. Etwa drei Viertel des bahnbrechenden Werkes von E.P. Sanders über das Judentum von 200 v. Chr. bis 200 n. Chr. „beschäftigt sich nicht so sehr mit Paulus, sondern mit der Korrektur der Wahrnehmung vom Wesen des Judentums“. Kennzeichnend für das reale Judentum sei nicht das Leistungsdenken, sondern die Struktur des Bundesnomismus. James Dunn schreibt über Sanders Leistung:

„Im Gegensatz [zur verzerrten, legalistischen Sicht des Judentums, Anm. R.K.] basiert – wie Sanders klar genug gezeigt hat – das gesamte religiöse Selbstverständnis des Judentums auf der Voraussetzung der Gnade: Daß Gott Israel in Freiheit erwählt und mit ihm seinen Bund geschlossen hat, um ihr Gott zu sein bzw. damit sie sein Volk sind. Diese Bundesbeziehung wurde durch die Tora reguliert, freilich nicht als ein Weg, um in den Bund hineinzukommen oder um Verdienst zu erwerben, sondern als ein Weg, um innerhalb des Bundes zu leben.“

Die Erfüllung des Gesetzes darf demnach nicht als eine menschliche Vorleistung für den Eintritt in den Bund Gottes verstanden werden (getting in), sondern lediglich als eine Bedingung für das Bleiben im Bund (staying in). Der Mensch gelangt zum Heil durch Gottes Gnade und verbleibt im Heil durch seine Werke (bzw. Reue und Inanspruchnahme von Sühnemitteln nach dem Sündigen).

Obwohl die Kritik am Zerrbild des Judentums zu begrüßen ist, hat sich inzwischen gezeigt, dass Sanders seine Quellen einseitig gewählt und über-systematisiert sowie polemisch ausgewertet hat. Während Sanders das Gemeinsame des Judentums in Palästina betont (Common Judaism), sind die religiösen und sozialen Unterschiede zwischen den jüdischen Gruppen weniger klar präsentiert worden. Martin Hengel und Roland Deines schreiben etwa, dass Sanders’ Darstellung des Judentums nur eine Außenansicht ist. „In Palästina haben die Menschen die beachtlichen Unterschiede und Spannungen“ damals viel deutlicher zur Kenntnis genommen.

Der jung verstorbene Friedrich Avemarie hat nachgewiesen, dass die rabbinische Soteriologie nicht nur als Gnadenlehre verstanden werden kann, wie das Sanders behauptet. Vielmehr gab es innerhalb des palästinensischen Judentums divergierende Gnadenlehren. Sowohl Billerbeck als auch Sanders haben die Texte jeweils einem soteriologischen Prinzip untergeordnet. Nach Avemarie lassen sich jedoch Werkgerechtigkeit und Bundesnomismus in der frührabbinischen Literatur gleichrangig und nebeneinander nachweisen.

Aus etlichen jüdischen Texten geht zudem hervor, dass die soteriologische Bedeutung des Gesetzes und ihrer Erfüllung höher eingeschätzt wird, als Sanders meint. Selbst wenn es stimmt, dass die Tora nicht gegeben wurde, um in den Bund hineinzugelangen, bleibt ja die Frage nach dem Heil. Es ist dem Volk nämlich nicht gelungen, das Gesetz zu halten; und so droht bei einem Gericht nach den Werken eben doch die Verurteilung.

Der eben schon erwähnte John Barclay zeigt im zweiten Kapitel seines großen Paulusbuches, dass in etlichen jüdischen Texten (er untersucht fünf Überlieferungen akribisch) etwas zu finden ist, was sich „sehr deutlich von Sanders’ Bild des ‚Bundesnomismus‘ unterscheidet“.

Der Neutestamentler Jörg Frey schreibt zu Sanders Sicht des Judentums:

„Methodisch führt die Abstraktion auf Grundstrukturen zu einer Einebnung der je spezifischen Differenzen, zu einem vermeintlich einheitlichen Judentum hinter den Texten, das mit der historischen Wirklichkeit nicht mehr übereinstimmt. Neuere Untersuchungen zeigen, dass das Judentum jener Zeit in seiner Zuordnung von Tora und Heil vielfältiger und weniger schematisch war, als Sanders zugesteht.“

Die Kategorien des rabbinischen Judentums sind also weitaus flüssiger, als es sich die Vertreter der NPP wünschen.

Aus dem Buch: Der neue Paulus: Handreichung zur „Neuen Paulusperspektive“, 2017.

 

7 wichtige Bücher

Preisreduzierung Hengel

Der Verlag Mohr Siebeck hat für sieben theologische Bücher die Preise reduziert, darunter:

  • Martin Hengel / Anna Maria Schwemer: Jesus und das Judentum, 2007;
  • Martin Hengel: Judaica et Hellenistica, Kleine Schriften I, 1996;
  • Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, I. Band in zwei Teilbänden: Evangelien und Verwandtes, 7. Aufl,  2012.

Mehr Informationen auf der Verlagsseite: www.mohr.de.

F. Avemarie: Neues Testament und frührabbinisches Judentum

Nachfolgend ein Auszug aus einer Rezension, die vollständig in der Zeitschrift Glauben & Denken heute erscheinen wird. Besprochen wird folgendes Buch:

41uWWgG3oxL SY445Im Oktober 2012 wurde Friedrich Avemarie unerwartet im Alter von nur 51 Jahren aus dem Leben gerissen. Die Nachricht von seinem Tod traf die Fachwelt wie ein Schlag. Wer immer sich für das Studium der rabbinischen Literatur oder der „Neuen Paulusperspektive“ interessierte, kam an den Beiträgen des Neutestamentlers und Judaisten nicht vorbei. Avemarie wurde 1994 in Tübingen unter Martin Hengel mit der Untersuchung „Tora und Leben“ (Tora und Leben: Untersuchungen zur Heilsbedeutung der Tora in der frühen rabbinischen Literatur, TSAJ 55, Tübingen, 1996) promoviert. Zwei Jahre nach seiner erfolgreichen Habilitation über die „Tauferzählungen“ in der Apostelgeschichte ging er 2002 an die Universität Marburg und lehrte dort für zehn Jahre. Er verknüpfte großes Interesse für die Auslegung neutestamentlicher Texte mit hervorragenden Kenntnissen der rabbinischen Literatur und leistete in seinem kurzen Leben materialreiche und maßgebende Forschungsbeiträge zum frühen rabbinischen Judentum.

Dankbarerweise haben Jörg Frey und Angela Standhartinger unter Mithilfe von Beate Herbst, der Ehefrau Avemaries, einen stattlichen Aufsatzband in der WUNT-Reihe des Mohr Siebeck Verlags publiziert. Neues Testament und frührabbinisches Judentum versammelt Beiträge zur rabbinischen Martyriumsliteratur, zur Soteriologie, zu Jesu Gleichnissen, zum historischen Hintergrund der Apostelgeschichte, zur Anthropologie, zur Israelfrage und zur paulinischen Rechtfertigungslehre.

Der Züricher Neutestamentler Jörg Frey würdigt einführend das wissenschaftliche Vermächtnis Friedrich Avemaries (S. XII – XXXIII) und führt in die Aufsatzsammlung ein. Da ich die Beiträge nicht einzeln vorstellen kann, knüpfe ich an Freys’ Ausführungen an und stelle dabei Avemaries Untersuchungen zur rabbinischen Soteriologie heraus.

Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts etablierte sich insbesondere in der angelsächsischen Paulusforschung die „New Perspective on Paul“ (NPP). Da Martin Hengel gute Kontakte zu James D. G. Dunn in Durham, einem der Väter der NPP, unterhielt, wurden in Tübingen viele Fragen rund um das neu aufkommende Paulusbild diskutiert. Avemarie greift insbesondere in seiner Dissertation die Fragestellung auf, inwiefern das Heil im frühen Judentum mit der Einhaltung der Thora verbunden war. Gelehrte wie Ferdinand Weber oder Paul Billerbeck zeichneten das Bild eines Judentums, indem der Einhaltung des Gesetzes quasi eine heilbringende Funktion zukam. Die NPP wehrte sich gegen die Darbietung einer jüdischen „Leistungsreligion“. Insbesondere E. P. Sanders sah weniger einen Gegensatz als eine Entsprechung zwischen den Rabbinen und der paulinischen Religionsstruktur. „Auf beiden Seiten identifizierte Sanders eine Struktur, der zufolge der Eingang in das Heil durch Erwählung begründet ist und der Verbleib im Heil ein bestimmtes Verhalten, d. h. ‚Werke‘, voraussetzt. Die Erwählung ist somit grundlegender als die Werke, außerdem sei die Gebotserfüllung im antiken Judentum nicht perfektionistisch verstanden worden, sondern vielmehr seien für jedes Vergehen auch Sühne und Vergebung möglich. So erscheint das gesamte Judentum zwischen Ben Sira und der Mischna ebenso wie das paulinische Denken als ‚Religion der Gnade‘“ (S. XVI).

Wenn also die Gnadenlehre des Paulus der des rabbinischen Judentums sehr weitgehend entspricht, muss zurückgefragt werden, weshalb Paulus das Judentum so scharf kritisiert hat. „Warum wendet sich Paulus so gegen die ‚Werke des Gesetzes‘, wenn diese für das Heil ohnehin nie konstitutiv waren?“ (S. XVI). Sollten die Gesetzeswerke wie Beschneidung oder Reinheits- und Speisegebote nur als Abgrenzungsbestimmungen (engl. ‚boundery markers‘) verstanden werden? Kritisierte Paulus vornehmlich das nationalistische Erwählungsbewusstsein der Juden, das Menschen aus anderen Völkern weiterhin vom Heil ausschloss? Oder hatte Paulus das Judentum schlichtweg missverstanden?

Im Horizont solcher Probleme erforschte Avemarie die Soteriologie der frühen Rabbinen. Seine Monographie „ist methodologisch und sachlich eine der bedeutendsten Arbeiten, die in deutscher Sprache zum antiken Judentum geschrieben wurden“ (S. XVII). Anders als Sanders bricht er Einzelaussagen nicht aus ihrem literarischen Kontext heraus, sondern nimmt sie in ihrem Umfeld wahr, auch dann, wenn sich Einzelaussagen nicht harmonisieren lassen. So gelang Avemarie der Nachweis, dass es im frühen Judentum keine verbindliche Soteriologie gab, sondern bei den Rabbinen unterschiedliche und sogar sich widersprechende Vorstellungen über Erwählung, Gesetz, Bund oder Gnade zu finden sind. „Neben der Forderung, alle Gebote zu halten, steht die realistische Einschätzung, dass die Israeliten dies eben nicht praktizierten und ständig der Sühne bedürften. Und sogleich besteht die Überzeugung unhinterfragt, dass jeder Mensch die Gebote Gottes erfüllen kann“ (XVIII).

Frey schreibt:

„In einem zusammenfassenden Aufsatz zur ‚optionalen Struktur der rabbinischen Soteriologie‘ hat Friedrich Avemarie die Erträge seiner Dissertation selbst knapp resümiert: Was entscheidet für die Rabbinen über das Leben, die Zugehörigkeit zur kommenden Welt? Weder das ,Vergeltungsprinzip‘ dass die Werke eines Menschen über sein Heil entscheiden (so Weber und Billerbeck), noch das ,Erwählungsprinzip‘ dass allein die Zugehörigkeit zum erwählten Volk entscheide (so Moore und Sanders), lässt sich verabsolutieren. ‚Beide Denkmuster lassen sich in der rabbinischen Literatur reichlich belegen‘, die Überordnung der einen These über die andere ist unangemessen. Den theologischen Systematisierungsversuchen entgegen steht die große Fähigkeit der Rabbinen, divergente, ja widersprechende Ansichten im Diskurs zu integrieren und gleichsam ,aspektiv‘ einander zuzuordnen. Nicht eine Position ist allein ,richtig‘, andererseits ist auch nicht alles ,gleich gültig‘ oder beliebig, sondern innerhalb bestimmter Grenzen kann beides gesagt werden. So kann der Heilsverlust von Israeliten (durch Sünde) ebenso ausgesagt werden wie der Heilsgewinn von Heiden (durch Erwählung) – was weder dem Modell von Weber und Billerbeck noch dem von Moore und Sanders entspricht“ (S. XIX).

Die Untersuchung bestätigt damit einerseits die Einsicht der NPP, dass der Apostel Paulus sehr grundlegend vom Denken seiner jüdischen Herkunft geprägt war. Zugleich ist die Annahme eines normativen palästinensischen Judentums vor oder nach dem Jahr 70 unhaltbar. Paulus stand keinem monolithischen Judentum, sondern unterschiedlichen jüdischen Traditionen gegenüber (vgl. S. XX). Noch einmal Frey:

„Die vereinfachende Sicht des zeitgenössischen Judentums unter dem Begriff ,Common Judaism‘ (Sanders), die im Grunde das ältere Modell eines normativen Judentums unter anderen Vorzeichen fortsetzt, erfasst schon die Diversität der rabbinischen Aussagen nicht hinreichend, und noch viel weniger die tiefgreifenden Differenzen zwischen den Religionsparteien zur Zeit des Zweiten Tempels, zwischen Sadduzäern und Pharisäern oder gar zwischen diesen und der sich selbst exklusiv im ,Bund‘ Gottes verstehenden Qumrangemeinde. Nur im Prisma einer simplifizierenden Religionsstruktur kann als gleichartig erscheinen, was im Detail zutiefst strittig ist. Dass die Charakterisierung auch des rabbinischen Judentums unter der einseitigen Priorisierung der Erwählung bzw. der Gnade (wie z. B. bei Sanders) so nicht zutrifft und daneben das Vergeltungsparadigma und der Gedanke von Verdienst und Lohn durchaus Vorkommen, hat Friedrich Avemarie deutlich gezeigt. Paulus trifft also, wenn er solches an einigen seiner jüdischen Zeitgenossen kritisiert, nicht ein Zerrbild, sondern einen Aspekt, der zumindest bei einigen dieser Zeitgenossen und auch bei anderen judaisierenden Jesusnachfolgern durchaus vorgekommen sein dürfte, ebenso wie bei den späteren Rabbinen“ (S. XXI).

Jörg Frey erörtert des Weiteren ausführlich Avemaries Habilitationsschrift zu den Tauferzählungen der Apostelgeschichte und der Geschichte des frühen Christentums, die wie seine Dissertation als Monographie erschienen ist (Tauferzählungen der Apostelgeschichte: Theologie und Geschichte. Tübingen. WUNDT 139, Tübingen 2002). Avemarie distanzierte sich zwar verhalten von den konservativen Thesen seines Lehrers Hengel zur Vertrauenswürdigkeit der Apostelgeschichte, wendet sich aber gegen die Tendenz, sie „als eine weithin fiktive oder romanhafte Gründungserzählung zu lesen“ (S. XXV). Auf andere Forschungsthemen Avemaries weist Frey kurz hin, in erster Linie Themen der rabbinischen Literatur, aber auch Ausarbeitungen zur Theologie des Paulus oder zur Jesusüberlieferung. Die wichtigsten Aufsätze sind im Sammelband enthalten.

Zum Buch gehören vier bisher nicht veröffentlichte Vorträge aus den Jahren 2007 bis 2011. Neben einer Gesamtbibliographie enthält es alle nützlichen Register. Der Leser wird von Avemaries weitem Horizont und seiner Beobachtungsgabe sehr profitieren. Ein empfehlenswerter Band.

Die Rückkehr der Augenzeugen

Rainer Riesner beschreibt in dem Aufsatz „Die Rückkehr der Augenzeugen“ einen neuen Trend in der Evangelienforschung: Einige Neutestamentler bringen die These wieder ins Gespräch, dass hinter der Evangelien-Überlieferung Augenzeugen stecken. Obwohl die Darstellung bereits 2007 erschienen ist, lässt sie sich nach wie vor gut lesen.

Besonders gefällt mir folgender Satz:

Martin Hengel hat eine neue Würdigung des Lukas-Prologs vorgelegt, und wie so oft bei diesem Autor kann man aus diesem einen Artikel mehr lernen als aus mancher Monographie.

Den Aufsatz gibt es hier: ThBeitr_2007-6_Riesner_Rueckkehr_der_Augenzeugen.pdf.

Kritische Blicke auf die »Neue Paulusperspektive«

Die Diskussion um die Stellung des Gesetzes und die Bedeutung der neutestamentlichen Rechtfertigungslehre hat in den letzten 30 Jahren durch die sogenannte »Neue Paulusperspektive« (NPP) ein anderes Gesicht bekommen. Die Entlutherisierung der Rechtfertigungslehre und die Kritik am Heilsindividualismus gaben der transformatorischen Theologie erheblichen Rückenwind. Gemäß der NPP ist es Paulus nämlich gar nicht so sehr um die Frage gegangen, wie der Mensch mit Gott versöhnt werden kann. Paulus zielte vielmehr auf die ethnisch-soziale Abgrenzung der Juden ab und wollte die Heilsbotschaft von nationalistischen Bestrebungen befreien. Das Heil gilt allen Völkern. Insofern ist das Evangelium eine Botschaft, die ethnische Schranken überwinden hilft und dafür motiviert, ungerechte soziale Strukturen in der Welt aufzubrechen.

Nachdem sich etliche angelsächsische Exegeten dem »neuen Paradigma« zunächst euphorisch angeschlossen hatten, formierte sich bald heftige Kritik, die auf die Einseitigkeiten der NPP aufmerksam machte. Theologen wie Seyoon Kim, Stephen Westerholm, Mark Seifrid, G. P. Waters (studierte bei Sanders) oder Simon Gathercole (studierte bei Dunn) haben beispielsweise steile Thesen der NPP entkräftet und so auch den unfreiwilligen Namensgeber der NPP, James Dunn, dazu bewegt, einzulenken. Dunn gibt inzwischen freimütig zu, dass die Mission des Paulus nicht einseitig auf soziologische und politische Ambitionen reduziert und der Rechtfertigungslehre ihre soteriologische Dimension nicht genommen werden darf.

In Deutschland hatte es die NPP zunächst schwer. Exegetische Größen wie Martin Hengel oder Peter Stuhlmacher haben schon früh Zweifel angemeldet. Friedrich Avemarie konnte zeigen, dass die frührabbinischen Texte nicht so leicht auf eine einheitliche Linie zu bringen sind, wie E.P. Sanders das behauptet hatte. Freilich lies sich die Kritik aus Deutschland (besonders die aus Tübingen) auch auf den Einfluss Luthers zurückführen und natürlich gibt es inzwischen in Deutschland renommierte Vertreter der NPP. Insgesamt setzt aber meines Erachtens eine Phase der Konsolidierung ein, die einerseits neue Einsichten der NPP angemessen würdigt und andererseits darauf verweist, dass sich alles in allem nicht so viel geändert hat und sich Luthers Rechtfertigungslehre nicht nur am mittelalterlichen Katholizismus abarbeitete, sondern ihre wesentlichen ›Entdeckungen‹ tatsächlich Paulus verdankt.

Einige jüngere Arbeiten aus dem deutschen Raum möchte ich hier kurz vorstellen:

Michael Wolter hat in seinem gerade erschienen Paulusbuch (Michael Wolter: Paulus: Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlagsgesellschaft, 2011) bei seinen Erörterungen zur paulinischen Rechtfertigungslehre die Einsichten der NPP einfließen lassen (siehe besonders S. 340–409). Die Gemeinsamkeit der neuen Paulusperspektiven liegt für Wolter in der neuen Verortung der Rechtfertigungslehre (S. 341):

Inzwischen hat sich unter dieser Bezeichnung eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Interpretationen ausdifferenziert, deren Gemeinsamkeit aber darin besteht, dass sie die paulinische Rechtfertigungslehre nicht (wie das z.B. bei Luther, Bultmann und Käsemann der Fall ist) in der Anthropologie, sondern in der Ekklesiologie ansiedeln. Sie schreiben ihr – vereinfachend gesagt – im Wesentlichen die Funktion zu, die theologischen Implikationen und Konsequenzen der paulinischen Christusverkündigung unter den Völkern zu reflektieren. Charakteristisch für sie ist dabei die Abgrenzung von der lutherischen Paulusrezeption, wie sie im 20. Jahrhundert vor allem in den Interpretationen der paulinischen Rechtfertigungslehre durch Rudolf Bultmann, Ernst Käsemann und deren Schüler vertreten wurde. Die ›New Perspective‹ verlangt, das Rechtfertigungsverständnis Martin Luthers von der paulinischen Rechtfertigungstheologie strikt zu unterscheiden, weil ihrer Meinung nach das paulinische Rechtfertigungskonzept verfälscht wird, wenn man es in den Kategorien der reformatorischen Theologie interpretiert.

Die Resultate der neuen Perspektiven haben bei Wolters eigenen Untersuchungen zur Rechtfertigungslehre freilich ihre Spuren hinterlassen. Doch sperrt er sich gegen vereinfachende Schablonen, wie z. B. – um nur einen Punkt herauszugreifen – bei der Interpretation von »Werke des Gesetzes«. Wolter schreibt (S. 352):

Die Frage, ob der Ausdruck »Werke des Gesetzes« Handlungen meint, die in Erfüllung der Tora getan werden, oder Vorschriften, die in der Tora stehen, weil sie getan werden sollen (unabhängig davon, ob dies auch tatsächlich geschieht), ist ganz bestimmt nicht so zu beantworten, dass irgendeine dieser beiden Interpretationen »durchweg« gelten und der Ausdruck darum an allen Stellen ein und dieselbe Bedeutung haben müsse. Solch einseitige Urteile – in welche Richtung sie auch gehen mögen – lassen einen Sachverhalt unbeachtet, der eigentlich selbstverständlich sein sollte: dass Begriffe mal mit ihrer ›eigentlichen‹ Bedeutung und mal metonymisch gebraucht werden können.

Am Ende seiner Ausführung resümiert Wolter (S. 411):

Aufs Ganze gesehen sind die theologischen Unterschiede zwischen der paulinischen Rechtfertigungslehre und ihrer Rezeption durch Martin Luther nicht zu übersehen. Ihre Ursache haben sie zweifellos in den veränderten christentumsgeschichtlichen Kontexten. Daraus kann man zwei hermeneutische Schlussfolgerungen ableiten: Die Interpretation der paulinischen Rechtfertigungslehre darf man in der Tat nicht am theologischen Paradigma ihrer Rezeption durch Martin Luther ausrichten. Das wäre anachronistisch. Aus der umgekehrten Richtung betrachtet, wird man aber auch der Theologie Martin Luthers nicht gerecht, wenn man ihr eine Verfälschung der paulinischen Rechtfertigungslehre vorwirft. Luther geht mit ihr vielmehr so um, dass er sie in einen veränderten historischen und kulturellen Kontext hinein fortschreibt und dabei wesentliche Bestandteile ihres Begründungszusammenhangs bewahrt.

Eine gute Zusammenfassung zur NPP stammt von dem Neutestamentler Jörg Frey. Sein Beitrag »Das Judentum des Paulus« (erschienen in: Oda Wischmeyer (Hg.): Paulus: Leben – Umwelt – Werke – Briefe, Tübingen u. Basel: A. Francke Verlag, 2006, S. 5–43) enthält den Abschnitt »Zur ›neuen Paulusperspektive‹« (S. 35–42). Frey stellt komprimiert wichtige Thesen der NPP sowie die vielstimmige Kritik vor (Common Judaism, Bundesnomismus und soteriologische Bedeutung der Toraerfüllung, Werke des Gesetzes als bloße boundary markers, Gegenstand des Rühmens, Verlust der eschatologoschen Dimenson, Differenz zwischen der Anthropologie des Paulus und der des zeitgenössischen Judentums). Das Fazit lautet bei Frey (S. 41–42):

Es ist zweifellos ein Verdienst der ›New Perspective‹, dass sie das überkommene Zerrbild vom Judentum als einer Religion der ›Werkgerechtigkeit‹ wirksam bestritten und die unreflektierte Rede vom ›Gesetz als Heilsweg‹ nachhaltig in Zweifel gezogen hat. Gegen die Wirkungsgeschichte paulinischer Theologie ist aus den jüdischen Quellen zu erkennen, dass die Tora für Juden Freude, nicht Last, Berufung, nicht Sklaverei bedeutet. Aufgrund neuerer Forschungen sollte es definitiv unmöglich sein, das Judentum der Zeit Jesu als »Religion völligster Selbsterlösung« [Anmerkung: so noch Billerbeck] zu bezeichnen und ihm »Werkgerechtigkeit« und Ritualismus vorzuwerfen. Solche Urteile sind eher neuprotestantisch als lutherisch und widersprechen der jüdischen Selbstwahrnehmung. Ein Gewinn ist auch, dass nun die Gefahr der Eintragung späterer Fragen in die Paulusinterpretation bewusster wahrgenommen wird. Vor jeder Verallgemeinerung paulinischer Aussagen für eine überzeitliche Lehre muss zunächst der historische Ort und der rhetorische Kontext der Texte ernst genommen werden. Die soziologischen Kategorien dürfen freilich, wie auch Dunn zugesteht, nicht an die Stelle der theologischen Reflexion treten. Der Theologe Paulus lässt sich nicht auf missionspragmatische oder ›kirchenpolitische‹ Intentionen reduzieren. Sein Denken ist auf dem Hintergrund seiner Biographie und Christuserkenntnis sowohl anthropologisch als auch hamartologisch tiefergehend, als dies die Vertreter der ›New Perspective‹ zugestehen wollten.

Der FTH Dozent Berthold Schwarz nimmt die Ergebnisse der NPP ebenfalls differenziert war. In seinem Beitrag »Das Missverständnis der sogenannten ›Neuen Paulusperspektive‹« (Teil 1 erschienen in: Bibel und Gemeinde 4/2010, S. 61–70 und Teil 2 in: Bibel und Gemeinde 1/2011, S. 39–48) mahnt Schwarz zur weiteren fairen und gewissenhaften Diskussion (Teil 2, S. 48). Die große Schwäche der NPP liegt für ihn in der verkürzten Deutung der Rechtfertigungslehre (Teil 2, 47):

Die Vertreter der Neuen Perspektive übersehen (leider) in ihrem berechtigten Bemühen, das herauszuarbeiten, was im 1. Jahrhundert mit den Aussagen des Paulus im Kontext des damaligen Judentums gemeint gewesen sein kann, dass die Rechtfertigung (wenigstens auch) etwas mit der individuellen Stellung des Einzelnen vor Gott zu tun hat. Wright spricht davon als einer »second-order doctrine«, während die Reformatoren in soteriologischer Akzentuierung darin die Lehre sehen, mit der alles im Christentum steht und fällt (… ein Urteil, das in gesamtbiblischer Perspektive ebenfalls die Tendenz zur Übertreibung in sich trägt). Es geht – wie bereits erwähnt wurde – für die Neue Paulusperspektive bei der Rechtfertigung um eine nationale, körperschaftliche Angelegenheit des Eingegliedertseindürfens in den (bestehenden) nationalen Bund mit Gott, der nun auch für Heiden eröffnet sei, ermöglicht durch die Weltherrschaft des erhöhten Christus. So einseitig oder auch unvollständig einige reformatorische Ansichten und Lehren im Urteil der Aussagen des gesamten Neuen Testaments gewesen sein mögen, die Antworten der Neuen Perspektive in der Paulusinterpretation liefern letztlich mehr Probleme und Fragezeichen, als dass sie wirklich Lösungen für exegetische oder theologische Probleme anbieten.

Einen bemerkenswerten Aufsatz hat der Systematiker Wilfried Härle im Jahr 2006 veröffentlicht (»Paulus und Luther: Ein kritischer Blick auf die ›New Perspective‹«, ZThK, Bd. 103 (2006), S. 326–393). Der Schwerpunkt dieser Untersuchung liegt nicht auf der Frage, »ob Paulus das Judentum seiner Zeit richtig verstanden und beschrieben hat, sondern auf der Frage, welche theologischen Auffassungen Luther (zusammen mit den übrigen Reformatoren) aus Paulus gewonnen hat und ob sie von E. P. Sanders und anderen Vertretern der New-Perspective richtig verstanden und wiedergegeben werden« (S. 362). Härle rekonstruiert, von welchen Prämissen aus E. P. Sanders zu seiner These von der Unvereinbarkeit zwischen Paulus und Luther gekommen ist und prüft das vorausgesetzte Bild der paulinischen und lutherischen Theologie. Schließlich stellt Härle das Verhältnis zwischen den paulinischen und lutherischen Aussagen über Sünde und Heil des Menschen dar, so wie er es versteht. Härle weist m. E. überzeugend nach, dass Sanders Luther in mehreren Punkten nicht verstanden hat. Sanders unterstellt – kurz gesagt – Luther einen viel zu flachen Sündenbegriff. Im christlichen Leben geht es nicht um formale Gebotserfüllung, sondern darum, Gott von ganzem Herzen zu lieben (381):

Solange ein Mensch den Willen Gottes zu erfüllen versucht aus Furcht vor der Strafe Gottes oder aus Hoffnung auf den Lohn Gottes, kann er zwar jede Handlung vollziehen, die vom Gesetz geboten ist, aber er liebt dabei nicht Gott, sondern immer nur sich selbst. Das Motiv, der Strafe, dem Zorn, dem Gericht Gottes zu entgehen, hat seinen einzigen Grund in dem Willen oder Hoffen des Menschen, sich selbst vor der Strafe Gottes in Sicherheit zu bringen und das Heil zu gewinnen. Und der ›gerechte Gott‹ (im Sinne der iustitia activa) ist dabei dasjenige Gegenüber, von dem die Bedrohung ausgeht.

Sanders hat diese Tiefendimension des Sündenbegriffs bei Luther übersehen (S. 382):

Bei allem Respekt: Diese Einsichten Luthers haben sich E. P. Sanders auch nicht von ferne erschlossen. Er sieht in Luther einen Menschen, der Schuld- und Gewissensprobleme hat und sich darum durch den Gedanken einer zugerechneten, fiktiven Gerechtigkeit eine Lösung zurechtlegt, an die er glauben kann, die ihm hilft, mit seinen Schuld- und Gewissensproblemen zu leben, und die ihn doch nicht nötigt, sein Leben radikal zu ändern und am Willen Gottes auszurichten. Das alles hat mit Luther – klar und deutlich gesagt – nichts zu tun.

So schließt Härle:

Die Sünde als die verkehrte, nicht vom Vertrauen bestimmte Gottesbeziehung, nimmt das Gesetz zum Anlaß, sei es im speziellen Fall, um die Begierde zu wecken, sei es generell, um den Menschen zum Selbstruhm und Anspruchsdenken vor Gott zu verführen. Auf dieser – bei Sanders gar nicht betretenen – Ebene knüpft Luther unmittelbar an Paulus an und entdeckt insbesondere in der spätmittelalterlichen Theologie der römisch-katholischen Kirche reichlich Ansätze für eine Verleugnung der Glaubensgerechtigkeit zugunsten der Werkgerechtigkeit. Das ist natürlich – verglichen mit der paulinischen Situation – eine ganz andere Frontstellung, weil Luther sich ja mit seiner christlichen Kirche und ihrer Lehre kritisch auseinandersetzt, nicht mit dem Judentum oder Heidentum, das erst für den Glauben an Jesus Christus gewonnen werden soll. Aber wenn man diese Unterschiede in Rechnung stellt und im Blick behält, kann man wohl sagen, daß Luther auch und gerade an dieser Stelle vom Apostel Paulus entscheidende Einsichten übernommen hat, die für Kirche und Theologie damals und heute zu wichtig sind, als daß sie vergessen oder verleugnet werden dürften.

Schlussendlich möchte ich auf die Theologie des Neuen Testaments von Ferdinand Hahn verweisen. Im ersten Band dieses herausragenden Werkes kommt Hahn im Rahmen seiner Untersuchungen zur Bedeutung und Funktion des Gesetzes kurz auf Sanders, Dunn und Räisänen zu sprechen (Ferdinand Hahn, Theologie des Neuen Testaments: Die Vielfalt des Neuen Testaments, Bd. 1, 3. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck, S. 232–233). Nachdem Hahn dargestellt hat, dass gemäß Sanders das Tun der Menschen nicht dem Erwerb des Heils, sondern der Bewahrung des Heils diente und gemäß Dunn Beschneidung und Gesetzesobservanz indentity marker für das jüdische Selbstverständnis sind, konstatiert er (S. 232):

So wichtig diese Beobachtungen sind, es kann trotz der grundlegenden Bedeutung der Zugehörigkeit zum Bund nicht übersehen werden, daß es seit der prophetischen Tradition das Problem des Bundesbruches gab und daß darüber hinaus das endzeitliche Gottesgericht ein zunehmendes Gewicht erhielt. Die Folge war ein durchaus ambivalentes Verhalten zum Gesetz, das zwar nach wie vor entscheidendes Kennzeichen der Zugehörigkeit zu dem von Gott erwählten Volk war, zugleich aber im Blick auf das ausstehende Landgericht Ungewißheit und eigenes Streben nach Gerechtigkeit einschloß. Ein solches Verständnis ist jedenfalls bei Paulus vorausgesetzt.

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Der Beitrag kann hier als PDF-Datei heruntergeladen werden:
Neuere Blicke auf die NPP.pdf.

Paulus und die Politik

41gMzIdjcEL._SL160_.jpgSeyoon Kim ist einer der renommiertesten Kritiker der »Neuen Paulusperspektive«. Er studierte in Tübingen unter Peter Stuhlmacher und Martin Hengel und ist derzeit Professor für Neues Testament am Fuller Seminary in Pasadena (U.S.A.).

In seinem aktuellen Buch Christ and Caesar beschäftigt er sich mit dem verhältnismäßig jungen Trend innerhalb der Neutestamentlichen Wissenschaft (obwohl schon bei Adolf Deissmann erste Ansätze zu finden sind), die Verkündigung des Paulus vorrangig als Kritik an der Politik des Römischen Reiches zu interpretieren.

Lee Irons hat in einer kleinen Blogserie das Buch:

rezensiert: www.upper-register.com.

Die Waldenser und Luther

Der DLF publizierte vor einigen Tagen einen Beitrag über die Waldenser und Martin Luther. Leider fallen dort etliche Dinge unter den Tisch, während auf der anderen Seite die heute überwiegend liberalen Strömungen der Bewegung unkritisch, ja wohlwollend, präsentiert werden. Es fehlt etwa der Hinweis, dass die Waldenser eine Bibelbewegung waren, die die Evangelientexte in den Volkssprachen unter die Leute gebracht hat. Die Waldenser haben außerdem fleißig evangelisiert. Die Katholische Kirche bekommt mehr Raum als Luther. Verschwiegen wird, dass in Italien die Waldenser seit 1979 mit den Methodisten eine gemeinsame Kirche bilden.

Mein früh verstorbener Kollege Peter H. Uhlmann hat vor ca. 17 Jahren das Manuskript „Der Erweckungsprediger und Reformator Pierre Waldes und die Waldenserbewegung“ verfasst, dass ich als Ergänzung zur DLF-Sendung herzlich empfehlen kann. Es führt geneigt in die durchaus ambivalente Bewegung ein. Über die „Kolporteure“ im 19. Jahrhundert schreibt er etwa:

Eine ganz besonders mühsame, aber zugleich segensreiche Arbeit ist die der „Kolporteure“. Es sind reisende Evangelisten, die mit ihrer Last an Bibeln, Neuen Testamenten und Andachtsbüchern von Haustür zu Haustür ziehen. Durch manche Gespräche und den nachfolgenden Bekehrungen von Italienern entstehen da und dort Gemeinden. Wie viele Beleidigungen, Nachstellungen, ja Verfolgungen müssen sie auf sich nehmen! Diese Kolporteure leben auf Taschengeldbasis, weit unter dem Existenzminimum. Doch die Liebe zu Jesus ist größer als alle Widerwärtigkeiten! – Wie viel anders sieht unser Leben zu Beginn des 21. Jh. aus! Wie wenig sind wir doch bereit, um Jesu willen verachtet zu werden und materielle Nachteile auf uns zu nehmen.

Hier das Manuskript: WALDENSER%20Broschu%CC%88re.pdf.

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