A. Schlatter: Die Apathie als Problem

Adolf Schlatter hatte schon vor 110 Jahren erkannt, dass die Gefühlsarmut des deutschen Protestantismus problematisch ist (Die christliche Ethik, 5. Aufl., 1986, S. 323–324):

Dem, der in seiner Vereinsamung und Getrenntheit von Gott seinen Blick nur auf seinen eigenen Lebensstand richtet, erscheint die Aufgabe, das Gewoge seiner Empfindungen zu regieren, leicht als unausführbar. Dann sucht er in der Herstellung der Unempfindlichkeit das Mittel, das ihn gegen seine Empfindungen schützen soll. So entsteht die mehr oder weniger planmäßige, mehr oder weniger vollständige Abstumpfung der Lust und des Schmerzes, die verhüten soll, daß sie unser Denken stören und unsere Begehren erregen. Diese Methoden sind für die Christenheit nicht brauchbar, weil wir uns damit dem natürlichen Gesetz unseres inwendigen Lebens entziehen und weil uns die Gemeinschaft mit Gott die Freude, unser Widerstreben gegen Gott den Schmerz in neuer Stärke bringen und gerade dadurch unserem Leben die Richtung zu Gott hin geben. Auch die gemilderte Regel, daß wir die Empfindungen zwar nicht völlig verdrängen, jedoch schwächen, uns nur maßvoll freuen und nur mäßig leiden sollten, verlockt uns zur Unnatur. Sie wird uns nicht nur als „Bildung“ empfohlen, sondern auch von der evangelischen Ethik vertreten, sowie sie uns nur negative Ziele zeigt und nur das „Nichtsündigen“ gebietet. Dieses Ziel scheint leichter erreichbar zu sein, wenn wir nur kümmerlich fühlen. Das ergab den Schein, daß die jenseits der Kirche Lebenden neben denen, die die Kirche erzog, die Gesunden seien, weil nur jene stark empfänden, während aus der christlichen Erziehung nur ein leidenschaftsloses, gedämpftes Fühlen entstehe. Darum wandten sich seit dem „Sturm und Drang“ des 18. Jahrhunderts die, die sich weigerten, ihre Gefühle zu verdrängen, und eine starke Leidenschaft als eine Bereicherung des Lebens priesen, nicht nur gegen die Vernünftigkeit der Aufklärung, sondern auch gegen die Sittlichkeit der Kirche, die ihnen als eine künstliche Dressur der Gefühle erschien.

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Matze
11 Monate zuvor

Aussagen in diese Richtung sind sicherlich auch oft sehr vom persönlichen Erleben geprägt und deshalb einige Anmerkungen von mir die teilweise etwas von den Gedanken Schlatters weggehen, denn neben dem vielen guten was ich als Christ erlebt habe, gab es eben auch: es gab die perfektonistischen Haltungen, das Zurückdrängen von Leid bis dahin dass Psalmen der Bibel, die Leid zum Ausdruck bringen in den Gottesdiensten einfach nicht stattfanden. Auf der anderen Seite aber gewünschte Emotionen im Lobpreis. Oder anders gesagt: Hiob fand nicht statt und mit dem Ganzen entstand eine Null Prozent Fehler Toleranz. Ich sehe es so, dass das Problem hauptsächlich im Umgang mit negativen Emotionen besteht: wenn wir Leid und Fehler negieren versuchen werden wir stolz und hochmütig, es fehlt uns an Liebe und in der Folge auch die Bereitschaft für soziales Engagement in und ausserhalb der Gemeinde.
Wir sind dann viel zu sehr damit beschäftigt, dass der eigene Heiligenschein 😇 nicht zu sehr verrutscht

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