Die Josephsgeschichte gehört für mich zu den anrührendsten Erzählungen der Bibel (vgl. 1Mose 37–50). Josephs Brüder wollen den jungen Mann eigentlich töten. Schließlich verkaufen sie ihn – aufgrund der Intervention von Juda – an einige Händler, die auf dem Weg nach Ägypten sind. Dort arbeitet Joseph als Diener im Haus des Potifar. Gott schenkt ihm Gelingen in allem, was er tut. So kann er seiner Familie in einer großen Hungersnot helfen. Schließlich kommt es im Finale zu einer Versöhnung. Jospeh vergibt seinen Brüder und kann sogar seinen Vater Jakob noch sehen. Die Gesichte zeigt uns, dass Gott die Bosheit der Menschen nutzt, um etwas Gutes zu schaffen. Was für ein Josephsbekenntnis: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen“ (1Mose 50,20).
Der Reformator Johannes Calvin hat in seiner Auslegung der dramatischen Erzählung die Gelegenheit ergriffen, einen Exkurs über die „Vorsehung“ einzubauen. Bevor ich seine Auslegung von 1Mose 45,3–8 wiedergebe, drei kurze Hinweise.
Erstens ist hier ein den Menschen zugewandter, mitfühlender und gütiger Prediger zu hören. Calvin wird ja nicht ganz zu Unrecht vorgeworfen, sehr streng und fordernd gewesen zu sein. In den Ausführungen zu V. 4 betont er dieweil, wie wichtig es ist, einem Sünder, der wegen seiner Sündenerkenntnis verzweifelt am Boden liegt, mit herzlicher Liebe aufzuhelfen und darin zu bestärken, auf Verzeihung zu hoffen.
Zweitens grenzt Calvin sich betont von der Sichtweise jener Glaubensbrüder ab, die davon sprechen, dass Gott das Böse nicht aktiv wirke, sondern nur zulasse. Er wird hier vermutlich Leute wie Heinrich Bullinger im Blick gehabt haben, der bezüglich Vorsehung und Erwählung sanfter formulierte und den großen Genfer gelegentlich darum bat, es ebenso zu tun. Immerhin nennt Calvin diese Leute „tüchtige Männer“.
Drittens hält Calvin mit Nachdruck daran fest, dass Gott niemals Autor der Sünde ist und der Mensch vollumfänglich für sein Handeln verantwortlich bleibt. Calvin liefert keine hinreichende Erklärung für diese zwei Sichtweisen, die scheinbar nicht gut zueinander passen. Es bleibt für ihn „eine geheimnisvolle Handlungsweise“, die „unsern Gesichtskreis weit übersteigt“. Jedenfalls gibt er sich hier als Vertreter des „Kompatibilismus“ zu erkennen, nachdem die absolute Souveränität Gottes die Verantwortung des Menschen nicht aufhebt (vgl. auch hier).
Nun aber seine Auslegung zu 1Mose 45,3–8 (Auslegung der Genesis, 1956, S. 424–427, leicht modernisiert):
V. 3. Ich bin Joseph. Obwohl Joseph ein so herrliches Zeichen seiner zärtlichen Liebe gegeben hat, stehen seine Brüder doch erschreckt wie von einem Blitzschlag, als er seinen Namen nennt. Denn während sie sich überlegen, was sie wohl verdient haben, ist ihnen Josephs Macht so furchtbar, daß sie nichts als den Tod vor Augen sehen. Wie er sie aber so von Furcht versteinert sieht, macht er ihnen weiter gar keinen Vorwurf, sondern müht sich nur, sie in ihrer Verwirrung zu beruhigen, ja er liebkost sie so lange zärtlich, bis er sie ruhig und heiter sieht. An diesem Beispiel lernen wir, wie wir uns davor hüten müssen, Menschen in Trauer versinken zu lassen, die wirklich in bitterer Scham sich demütigen. Solange ein Sünder taub ist gegen Vorwürfe, sich in Sicherheit wiegt, ruchlos und hartnäckig Ermahnungen zurückweist oder heuchlerisch sich entschuldigt, solange ist nur größere Strenge zu gebrauchen, aber ein Ende muss es mit der Härte haben, sobald er niedergeworfen am Boden liegt und in Erkenntnis seiner Sünde zittert; Mäßigung wenigstens muss folgen, die den Niedergeworfenen zur Hoffnung auf Verzeihung aufrichtet. Damit also die Strenge recht und wohlgestaltet sei, gilt es, die herzliche Liebe anzuziehen, die jetzt bei Joseph zu rechter Zeit sich zeigt.
V. 4. Tretet doch her zu mir! Mehr als irgendwelche Worte wirkt diese freundliche Einladung zur Umarmung. Doch nimmt er ihnen zugleich auch mit Worten, so süß sie ihm nur zu Gebote stehen, ihre angstvolle Sorge. So führt er weise das Gespräch, indem er sie bescheiden anklagt und dann wieder tröstet; doch bei weitem überwiegt der Trost, da er sie ja der Verzweiflung nahe sah, wenn er ihnen nicht rasch zu Hilfe käme. Wenn er ferner daran erinnert, wie er verkauft worden ist, so reißt er da nicht die Wunde des alten Verbrechens mit rachedurstigem Sinn auf, sondern er tut es, weil es immer gut ist, wenn das Bewusstsein der Sünde fest haftet, sofern nur nicht maßloser Schrecken den armen Menschen nach der Erkenntnis seiner Schuld verschlingt. Weil aber Josephs Brüder mehr als genug geängstigt waren, müht er sich dann um so mehr, die Wunde zu heilen. Dazu dient der zweimalige Hinweis (V. 5, V. 7): Gott hat mich vor euch hergesandt. Zu ihrem Heil sandte ihn Gottes Ratschluss voraus nach Ägypten, um sie am Leben zu erhalten. Nicht sie waren es eigentlich, die ihn verbannten, sondern Gottes Hand leitete ihn.
V. 8. Ihr habt mich nicht her gesandt, sondern Gott. Das ist eine Hauptstelle dafür, dass die gegebene Ordnung sich gar nie durch der Menschen Verkehrtheit und Bosheit völlig verwirren lässt: Gott führt noch immer ihre wirren, unruhigen Anschläge zu einem guten Ende. Wir werden hier auch gemahnt, wie und zu welchen Zweck wir über Gottes Vorsehung nachdenken sollen. Wenn neugierige Menschen darüber reden, so ist es nicht nur so, dass sie unter Hintansetzung des Zieles alles durcheinanderbringen und verkehren, sondern sie ersinnen auch das ungereimteste Zeug, um Gottes Gerechtigkeit zu verhöhnen. So hat es diese Frechheit dahin gebracht, dass manche frommen und bescheidenen Leute am liebsten diesen Teil der Lehre begraben wissen möchten. Denn sobald man von Gottes allumfassendem Weltregiment spricht, kraft dessen nichts ohne seinen Wink und Willen geschieht, sprudeln Leute, die ohne genügende Ehrfurcht sich über Gottes Geheimnisse ihre Gedanken machen, eine Unsumme von nicht nur vorwitzigen, sondern auch schändlichen Fragen heraus. Wie aber diese unfromme Maßlosigkeit fernzuhalten ist, so gilt auf der andern Seite die Regel, dass wir nicht einer faden Unwissenheit bezüglich solcher Dinge zustreben sollen, die uns nicht nur durch Gottes Wort geoffenbart sind, sondern deren Kenntnis auch gar sehr nützlich ist. Es scheuen sich tüchtige Männer, zu bekennen, dass nichts, was die Menschen nur immer unternehmen, ohne Gottes Willen geschieht, damit nicht sofort zügellose Zungen schreien, Gott sei auch Urheber der Sünde, oder man dürfe ruchlose Menschen nicht von ihrer Sünde bekehren, da sie doch Gottes Ratschluss durchführten. Aber wenn auch dieser gotteslästerliche Wahnwitz nicht widerlegt werden könnte, so müsste es uns genügen, ihn zu verabscheuen. Inzwischen dürfen wir daran festhalten, was klare Zeugnisse der Schrift lehren, dass nämlich Gott vom Himmel her trotz alles Tobens der Menschen ihre Anschläge und Unternehmungen lenkt, mögen sie betreiben, was sie wollen; ferner dass er durch ihre Hand vollbringt, was er bei sich beschlossen hat. Tüchtige Männer, die sich scheuen, Gottes gerechtes Walten den Schmähungen gottloser Leute auszusetzen, haben ihre Zuflucht zu der Unterscheidung genommen, dass Gott bei dem einen wolle, dass es geschieht, dass er anderes dagegen nur zulasse, – gleich als ob die Menschen, wenn er weggeht, tun und lassen könnten, was sie wollten. Wenn Gott nur zugelassen hätte, dass Joseph nach Ägypten geschleppt wurde, hätte er ihn ja nicht dazu verordnet, seinem Vater Jakob und seinen Söhnen zum Heil zu dienen, – und das wird ihm doch hier mit klaren Worten zugeschrieben. Hinweg also mit jener leeren Erfindung, als ob das Böse, das Gott selbst dann zu einem guten Ende wendet, nur mit seiner Erlaubnis, nicht aber durch seinen Rat und Willen geschehe! Vom Bösen spreche ich im Hinblick auf die Menschen, die kein anderes Vorhaben kennen, als verkehrt zu handeln. Gleichwie aber die Sünde in ihnen sitzt, so muss ihnen auch die ganze Schuld zugeschoben werden. Gott dagegen wirkt wunderbar durch sie, indem er aus unreinem Kot strahlend hell seine Gerechtigkeit erstehen lässt. Eine geheimnisvolle Handlungsweise ist das, die unsern Gesichtskreis weit übersteigt. Daher braucht es uns nicht wunderzunehmen, wenn fleischlicher Mutwille sich dagegen erhebt. Um so mehr aber müssen wir uns vor dem Versuch hüten, jene unermessliche Erhabenheit Gottes in die engen Schranken unseres Denkens zu zwängen. Fest bleibe daher der Satz, dass Gott der Herr ist, mag auch menschliche Willkür über die Stränge schlagen und bald da, bald dort sich brüsten! Mit geheimem Zügel lenkt er die Regungen, wohin er will. Anderseits müssen wir auch daran festhalten, dass Gott mit deutlicher Unterscheidung handelt, so dass an seiner Vorsehung nichts Sündiges haftet, dass seine Ratschlüsse keine Verwandtschaft haben mit menschlicher Sünde. Ein herrliches Bild davon stellt uns diese Geschichte vor Augen: Joseph wird von seinen Brüdern verkauft, einzig deshalb, weil sie ihn verderben, auf irgendeine Weise vernichten wollen. Das nämliche Werk wird Gott zugeschrieben, doch mit einem weltweit verschiedenen Zweck, nämlich dazu, dass das Haus Jakobs in Hungersnot wider Erwartung noch Nahrung bekomme. So wollte er für eine Zeit Joseph gleichsam ermordet haben, um ihn plötzlich als Urheber des Lebens aus dem Grabe herauszuführen. Daraus erhellt der gewaltige Unterschied, der zwischen jener Freveltat und seinem wunderbaren Ratschluss besteht, wie sehr er auch anfangs mit Frevlern zusammenzuarbeiten schien.
Jetzt wollen wir Josephs Worte auslegen. Er scheint, um seine Brüder zu trösten, sie ihre Schuld vergessen zu machen. Aber doch wissen wir, dass Menschen nicht von der Anklagebank genommen werden, wenn Gott auch noch so gewiss zu einem guten und glücklichen Ende führt, was sie in böser Absicht begonnen haben. Denn was nützt es dem Judas, dass aus seiner frevelhaften Treulosigkeit die Erlösung der Welt hervorging? Nun lenkt aber Joseph den Blick seiner Brüder nur auf eine Weile von ihrem Verbrechen ab, bis sie sich von ihrer maßlosen Angst erholt haben. Dadurch wälzt er nicht die Schuld auf Gott, noch spricht er sie ganz ledig, wie wir im letzten Kapitel noch deutlicher sehen werden. Ganz gewiss ist es so zu halten: die Taten der Menschen dürfen nicht nach dem schließlicher Erfolg beurteilt werden, sondern nur danach, ob jemand säumig war in der Erfüllung seiner Pflicht, oder ob er etwas gegen Gottes Gebot unternommen oder die seinem Beruf gesteckten Grenzen überschritten hat. Da vernachlässigt etwa ein Mann seine Frau und seine Kinder und sorgt nicht fleißig für ihre Lebensbedürfnisse; obgleich sie nicht sterben, sofern es nicht Gott will, so kann er das doch nicht als entschuldigenden Vorwand für seine Unmenschlichkeit als Gatte und Vater benützen, mit der er sie lieblos im Stiche ließ, wo er ihnen hätte helfen sollen. Die Vorsehung Gottes nützt also solchen Leuten gar nichts, die sie mit bösem Gewissen ihren Missetaten als Deckmantel überziehen wollen. Auf der anderen Seite ist festzustellen, dass Gott, sooft er der Bosheit derer, die uns schaden wollen, begegnet, ja nicht nur das, sondern auch die bösen Anschläge zu unserem Besten umkehrt, – auf diese Weise unsere natürlichen Leidenschaften dämpft und uns immer gleichmütiger und versöhnlicher macht. So wird uns Joseph zum Dolmetsch des rechten Verständnisses von Gottes Vorsehung, wenn er sie als Ausgangspunkt nimmt, seinen Brüdern zu verzeihen. Die Empörung über das an ihm begangene Verbrechen hätte ihn so entflammen können, dass er am ganzen Leibe lohte vor Rachgier; aber er vergisst im Blick darauf, dass Gottes wunderbare und außerordentliche Güte ihre Bosheit wunden hat, das Unrecht und umarmt freundlich die Leute, deren Schande Gott mit seiner Gnade verhüllt hat. Gewiss ist die Liebe erfindungsreich, wenn es gilt, die Sünden der Brüder zu begraben, und so passt sie gerne alles diesem Zwecke an, was dazu dienen kann, den Zorn zu stillen und den Hass zu besänftigen. Auch Joseph wurde zu einer andern Gesinnung hingerissen, weil er von Gott erwählt war, seinen Brüdern zu helfen. So kommt es, dass er ihnen nicht nur die ihm angetane Beleidigung verzeiht, sondern in glühendem Eifer, alle ihm auferlegten Aufgaben zu erfüllen, sie ebenso von Angst und Furcht wie von ihrer Not befreit. Das ist der Sinn, wenn er sagt, er sei von Gott verordnet, dass er sie übrig behalte, das heißt, ihnen Nachkommenschaft bewahre oder besser: sie selbst am Leben behalte, und zwar durch eine herrliche, wunderbare Errettung. Wenn er sich „Vater“ des Pharao nennt, so überhebt er sich nicht in leerer Prahlerei, wie eitle Menschen pflegen, auch prunkt er nicht hoffärtig mit seinen Schätzen, sondern er will aus dem unglaublich prächtigen Ausgang beweisen, dass er nicht zufällig oder mit Menschenkraft in diese Stellung gelangte, sondern dass ihm vielmehr durch Gottes wunderbaren Ratschluss diese erhabene Gewalt verliehen wurde, damit er mit ihr seinem Vater und seiner ganzen Familie helfe.