Jan Hábl schreibt über die Didaktik von Johann Amos Comenius (Thomas Schirrmacher und Ron Kubsch (Hg.), Vergangenheit als Lernfeld, Bonn: VKW, 2015, S. 116-118):
Die angemessenen Ziele moralischer Bildung in Comenius’ Didaktiken sind die so genannten „Schlüsseloder Kardinaltugenden“ der „Weisheit, Mäßigung, Stärke und Gerechtigkeit“ (prudentia, temperantia, fortitudo, iustitia), ohne welche der Aufbau der Pädagogik gänzlich ohne „Fundament“ bliebe. Comenius geht zu Beginn kurz auf die einzelnen Tugenden ein und postuliert dann die Methoden zu ihrer Aneignung; zusammen bilden sie den Kernpunkt seiner Methodologie der Charakterformung. In seiner Tschechischen Didaktik formuliert er sechs Grundsätze; in der Großen Didaktik ergänzt und erweitert er sie auf zehn.8 Um der Klarheit willen möchte ich sie im folgenden kurz zusammenfassen:
1) Die Tugend wird nicht durch Reden, sondern durch Handeln kultiviert. Denn der Mensch erhält sein Leben, um es „im Gespräch und Handeln mit seinen Mitmenschen zu leben“. Ohne tugendhafte Handlungen ist der Mensch für die Erde nicht mehr als eine sinnlose Last.
2) Die Tugend kann zum Teil im Umgang mit tugendhaften Menschen erlangt werden. Als Beispiel sei die Bildung Alexanders des Großen angeführt, die dieser von Aristoteles erhielt.
3) Rechtschaffenes Verhalten verdankt sich aktivem Durchhaltevermögen. Die angemessen behutsame und beständige Beschäftigung des Geistes und Körpers führt zum Fleiß; für einen Menschen, der sich dieser Dinge befleißigt, ist der Müßiggang untragbar.
4) Im Herzen jeder Tugend liegt der Dienst am anderen. Dem gefallenen Wesen des Menschen wohnt immense Eigenliebe ein, die dazu führt, dass „jeder am liebsten im Mittelpunkt steht.“ Es ist daher notwendig, dem Menschen das Verständnis zu vermitteln, dass „wir nicht nur für uns selbst geboren werden, sondern für Gott und unsere Mitmenschen.“
5) Die Pflege der Tugenden muss schon in frühestem Alter einsetzen, denn „schlechtes Benehmen und Laster nisten sich alsbald ein“. Wie Wachs und Gips in weichem Zustand leicht geformt, in erstarrtem Zustand dagegen unmöglich umzugestalten sind, so auch der Mensch: Der Großteil des Charakters gründet sich auf die ersten „Fertigkeiten“, die ihm in seiner frühen Kindheit vermittelt werden.
6) Die Anerkennung ersteht aus tugendhaftem Handeln. Wie der Mensch das „Gehen durch gehen, das Sprechen durch sprechen, das Lesen durch lesen“ lernt, so lernt er „Gehorsam durch Gehorsam, Nachsicht durch Verzögerungen, Aufrichtigkeit durch das Sprechen der Wahrheit“ usw.
7) Die Tugend wird an Beispielen erlernt. „Denn Kinder sind Affen nicht unähnlich: Alles, was sie sehen, sei es gut oder schlecht, möchten sie alsbald nachahmen, selbst wenn sie angehalten werden, es zu unterlassen, und noch bevor sie lernen, wie man lernt, lernen sie, nachzuahmen.“ Sie bedürfen daher als Lehrer „lebendiger Beispiele“.
8) Die Tugend wird auch durch Anleitung gelernt, der das Beispiel zur Seite geht. Anleitung bedeutet, die Bedeutung einer gegebenen Regel sittlichen Verhaltens zu erläutern und anzugeben, weshalb man danach handeln sollte, was man tun sollte und warum man es auf diese Weise tun sollte. Wie „ein Tier durch einen Dorn gedrängt wird, sich zu bewegen oder zu laufen, so wird auch ein erfolgreicher Verstand nicht nur informiert, sondern auch durch freundli che Worte gedrängt, sich der Tugend zu befleißigen.“
9) Es ist vonnöten, Kinder vor schlechten Leuten und schlechtem Einfluss zu schützen. Weil der Geist eines Kindes so leicht angesteckt wird, ist es einerseits nötig, sich von „schlechter Gesellschaft“ fernzuhalten und andererseits faule Menschen zu meiden. Denn der faule Mensch „lernt, Böses zu tun, da der Geist nie untätig sein kann, und wenn er sich nicht mit Nützlichem befasst, wird er von leeren, sinnund wertlosen Dingen erfüllt.“
10) Die Tugend erfordert Disziplin. Wie das gefallene Wesen des Menschen stets „bald diesem, bald jenem zuneigt“, ist es nötig, es systematisch zu disziplinieren.9 Es ist der Erwähnung wert, dass sich Comenius des Prinzips gewahr ist: Egal, um welche Art der Bildung oder Formung es sich handeln mag – das beste Alter dafür ist die Kindheit und Jugend.
In Kap. 7, Abschn. 4 spricht er beinahe wie ein Entwicklungspsychologe: „Es liegt in der Natur jegliches Entstehenden, dass es in weichem Zustand leicht gebogen und geformt werden kann (meine Hervorhebung). … Es ist klar, dass dies auch für den Menschen selbst gilt“, fährt Comenius im nachfolgenden Abschnitt fort und folgert: „Soll die Tugend im Herzen des Menschen Wurzeln schlagen, so muss sie darin verankert werden, solange er noch jung ist; wollen wir tugendhafte Menschen, so müssen wir sie von früher Jugend auf darin erziehen (in der Tschechischen Didaktik „otestat“, „meißeln“); wollen wir, dass der Mensch große Fortschritte in der Weisheit erzielt, so müssen wir seine Fähigkeiten schon in der Kindheit darauf ausrichten …“.
Das Wechselverhältnis von Moral und Gottesfurcht ist kaum zu übersehen. Überall im Buch ist es erkennbar, doch in Kap. 23 und 24 kommt Comenius direkt darauf zu sprechen. Um diesen Punkt besonders hervorzuheben, fügt er dem Kapitel über die moralische Erziehung ein kurzes Kapitel mit dem Titel Methodus pietatis hinzu, das sich mit der Vermittlung der Frömmigkeit beschäftigt (Kap. 24). Er ist sich bewusst, dass es sich hierbei um eine besondere „Gabe Gottes“ handelt, fügt aber hinzu, dass Gott auch die „natürlichen Vermittlungen“ seiner Gnade gebraucht und daher Eltern, Lehrer und Diener im geistlichen Bereich als seine „Gehilfen“ haben will, was etwas über sein Verständnis der Lehre von der „Allgemeinen Gnade“ verrät. Dies führt zum Schluss, dass die Frömmigkeit nicht nur integraler Bestandteil der familiären Erziehung, sondern auch der schulischen Bildung sein sollte. Unter „Frömmigkeit“ versteht Comenius die Fähigkeit, „überall Gott zu suchen, … ihm überall nachzufolgen … und sich seiner stets zu erfreuen“10 und erklärt: Das erste geschieht durch die Vernunft, das zweite durch den Willen und das dritte durch die Freude, ihn zu kennen. Drei Quellen zur Frömmigkeit sind dem Menschen gegeben: Gottes Wort, die Welt und die Menschen (Scriptura, natura, providentia particularis); wir sollen lesen, beobachten und sorgfältig nachdenken, um davon zu zehren (Große Didaktik. 24. S. 3–5).