Der Reformator Huldrych Zwingli (1484–1531) hat bereits in den Anfangsjahren der Züricher Reformation erkannt, dass eine nachhaltige geistliche Erneuerung der Kirche aufs engste mit den Pfarrhäusern verbunden ist. Das geistliche Amt – immer anfällig für Missbrauch – war einerseits in der mittelalterlichen katholischen Kirche tief abgesunken. Zahlreiche Kleriker verwalteten ihr Amt gänzlich ohne Verkündigungsdienst. Andererseits förderte die reformatorische Betonung des allgemeinen Priestertums beim täuferischen Flügel eine chaotische und oft bildungsfeindliche „Narrenfreiheit“.
Zwingli strebte eine am Ganzen des Wortes Gottes geschulte Wiederherstellung des Pfarramtes an. Entscheidend für ihn war die Verkündigung des Evangeliums als Exegese der entsprechenden Bibelstellen zur Kirche. Zur Festigung des Hirtendienstes gehörte für ihn aber auch, dass die Hirten Vorbilder sind. Dieses Hirtenverständnis führt täglich ans Kreuz.
Über die falschen Hirten, also über die Wölfe, schrieb Zwingli 1524 in seinem Der Hirt:
I. Alle, so nit leerend, sind nüts denn wolf, ob sy schon Hirten, bischof oder küng genennt werdind. Sich hieby, wie vil sind der leerenden Bischöfen? II. Welche denn schon leerend, und nit das wort gottes, sunder tröum leerend, sind aber wolf. III. Welche das wort gottes leerend , doch nit zü der eer gottes , sunder uf sich und ir houpt, den papst, zü schirm irs erdichten hohen stanbs ziehend, sind schädlich wolf tummend in den lleideren der schafen. IV. Welcheelche schon leerend, und leerend ouch mit dem wort gottes, und aber die grossen verärgrer, die höupter, nit anrürend, sunder tyranny wachsen lassend , sind schmeichlend wolf oder Verräter des volks. V. Welche nit mit den werken übend, das sy mit dem wort leerend, sind nüts under dem christenen volk, brechend vil mee mit den werken, denn sy mit wort buwind. VI. Welche der armen nit achtend, sy verdrucken lassend und beschweren, sind falsch Hirten. VII. Welche namen der Hirten tragend, und aber weltlich herrschend, sind die bösten wärwolfen. VIII. Welche rychtag zemmen legend, sack, seckel, spycher und teller füllend, sind ware wärwolf. Und endlich, welche anders mit der leer weder erkanntnuß, liebe und kindliche furcht gottes under den menschen fürnemend ze pflanzen, die sind falsche Hirten. Und nun bald mit jnen von den schafen, oder aber sy fressends gar. IX. Daby ouch lychtlich verstanden wirt, daß alle die falsche Hirten sind, die an die creaturen von dem schöpfer fürend.
Professor Hans Scholl hat einen hervorragenden Aufsatz über das Pfarramt und Pfarrerbild bei Huldrich Zwingli geschrieben „Nit fürchten ist der Harnisch: Pfarramt und Pfarrerbild bei Huldrych Zwingli“ in: Zwingliana XIX,1, Zürich 1992, S. 361–392). Zum 9. Merkmal des falschen Hirten heißt es dort (S. 380):
Zwinglis Liste zum falschen Hirten schließt mit „9. Daby ouch lychtlich verstanden wirt, das alle die valsche Hirten sind, die an die creaturen von [weg von] dem Schöpfer füerend. Zwingli kann mit dieser Formel „vom Schöpfer weg auf das Geschöpf lenken alles zusammenfassen, was er am spätmittelalterlichen Amtsverständnis kritisiert und ablehnt: die Vernachlässigung der Wortverkündigung zugunsten der Kirchengesetze, die Verkehrung des kirchlichen Dienstauftrages in Herrschaftsstrukturen usw. Überall geschieht das gleiche: An die Stelle des creator wird die creatura gesetzt. Die Ehre, die dem Schöpfer zukommt, wenn der Mensch richtig leben und atmen soll, wird auf das Geschöpf umgebogen. Aus dieser Verkehrung kommt der ganze Zerfall.
Der vollständige Aufsatz kann hier heruntergeladen werden: www.zwingliana.ch.
Scholls Buch Verantwortlich und frei mit Studien zu Zwingli und Calvin gibt es hier:
Und in geradezu prophetischer Weitsicht warnt Zwingli auch schon vor (Hans) Küng … bemerkenswert. 😉
@Tim-Christian:
Woraus schließt Du das? (Nicht, dass ich in irgend einer Weise Küngs „Weltethos“ verteidigen möchte!)
@Schandor: Der erste Satz: „Alle, so nit leerend, sind nüts denn wolf, ob sy schon Hirten, bischof oder küng genennt werdind.“ (Also auch die, welche Küng genennt werdind)
@Ron: Andererseits förderte die reformatorische Betonung des allgemeinen Priestertums beim täuferischen Flügel eine chaotische und oft bildungsfeindliche „Narrenfreiheit“. Ich wage zu bezweifeln, dass diese Aussage wahr ist und einer unvoreingenommen historischen Prüfung standhalten würde. Widerspiegeln die Begriffe „chaotisch“ und „bildungsfeindlich“ nicht viel mehr die Propaganda der damaligen Amtskirche? Trifft „bildungsfeindlich“ auf Menno Simons und die anderen guten Lehrer der Täufer zu? Natürlich gab es unter den Täufern Irrläufer, aber der Mainstream der Täufer war viel reformatorischer, als die Reformatoren dachten — die Crux war nur die Trennung von Kirche und Staat. Leider ging es hier nebst des Glaubens auch um Macht und um die menschliche Furcht vor dem Unbekannten. Vertraut man das Werk der Reformation alleine der Macht Gottes an oder der Kontrolle der pfarrherrlichen Kirche? Zwingli hat bestimmt ein grosses Werk getan, aber schlussendlich hat er Schiss gekriegt, weil er — wie die meisten Zeitgenossen — sich eine Trennung von Kirche und Staat nicht vorstellen konnte und eine totale… Weiterlesen »
@Lukas: Nein, das ist keine Propaganda. Ich zitiere hier Scholl (S. 372): Die Täufer der ersten Stunde in Zürich verwechseln allgemeines Priestertum mit geistiger Einfalt. So wie sie den göttlichen Sinn der Ökonomie verkennen, verachten sie auch sträflich die göttliche Gabe des Intellektes, das Charisma der Theologie. Auch hier ist ihr Tun und Reden kurzschlüssig. Zwingli weiß bei aller Schonung der einfachen Leute von peinlichen Auftritten von Täufern zu erzählen, die ihre Unbildung kraß herausstellten und sich so der Lächerlichkeit preisgaben. «Ich sag gheyn gassenmär [allgemeines Gerücht]; ich weiß ort, da sy die geschrifft nitt habend können läsen, sy habend dagegen gaggset [mühsam daran herumbuchstabiert], das man vermerckt [gemerkt] hat, das sy’s erst lernetend» . Es geht Zwingli nicht darum, sich über die Ungebildeten lustig zu machen. Aus ihm spricht nicht die Verachtung des Humanisten für das einfache Volk, sondern die Sorge um die Wahrheit. Zwar weist er die dumme Dreistigkeit seiner Gegner in die Schranken und spottet: Kaum können… Weiterlesen »
Todesstrafen waren damals doch nichts aussergewöhnliches. Es wurde halt geltendes Recht umgesetzt. Obs dem heutigen Menschen nun grausam erscheinen mag oder nicht. Ich sehe da keine direkte oder indirekte Schuld, weder bei Zwingli, Calvin, Luther usw.
@ Ron: die Frage ist nur: Ist das Bild von dem gagsenden predigenden Analphabeten repräsentativ oder verzerrend? Dazu müsste man auch täuferische Quellen herbeiziehen. Erwähnt Scholl auch inhaltliche, dogmatische Konflikte zwischen Zwingli und den Täufern? Hier ist nämlich der Knackpunkt. Die meisten Täufer konnten die Bibel sehr wohl lesen und ermutigten andere, die Bibel selbstständig zu lesen. Die Popularität der Froschauer Bibel geht auch auf die Bewegung der Täufer zurück. Leider ist sehr viel, was wir heute über die Täufer glauben zu wissen, von der Propaganda der offiziellen reformierten Kirche geprägt, welche die Täufer in der Schweiz bis ins 18., ja sogar bis ins 19. Jahrhundert verfolgte. Zwingli sorgte sich „um die Wahrheit“, sagt Scholl. Ich möchte nicht wagen, dies zu bezweifeln. Aber andererseits ging war er eben auch ein irrfähiger Mensch und — viel schlimmer — ein Politiker, der dogmatische Fragen sehr opportunistisch behandelte. War er anfangs sogar offen für die Erwachsenentaufe, so schwenkte er später plötzlich um, auch… Weiterlesen »
@ Joel213:
Es geht hier um Todesstrafe für Irrlehre oder angebliche Irrlehre, nicht um Todesstrafe für Mord und andere Verbrechen.
Dazu kann man folgendes sagen: Rein theoretisch ist das Argument „es war halt damals so üblich“ nicht gültig. So könnte man auch argumentieren und sagen, es war halt für Deutsche 1942 so üblich, Juden zu töten. Es war sogar von der Obrigkeit abgesegnet.
Zweitens gab es durchaus schon im Spätmittelalter innerhalb der christlichen Kirche Kritik an der Todesstrafe für Häresie, und zwar nicht nur von humanistischer Seite, sondern u.a. schon beim Wycliff-Schüler Petr Chelčický und eben auch bei den Täufern.
Drittens lehrt die Bibel keine Todesstrafe für Häresie — alleine deshalb hätten sie sehen müssen, dass die Praxis falsch ist.
Deine Entschuldigung der damaligen Praxis ist also reichlich unnötig.
@Lukas: Ich vermute, dass es eben doch komplizierter war. Sowohl in Genf als auch in Zürich wurde ja das Kirchenrecht nicht von Neuem erfunden. Damals galt eben noch der Codex Justianus, der für die Leugnung der Taufe die Todesstrafe vorsah. Ich rechtfertige dieses Vorgehen nicht, sondern wünschte mir, Leute wie Calvin oder Zwingli hätte eine bucerische Dialogbereitschaft an den Tag gelegt. Sie bewegten sich diesbezüglich im Mainstream.
Liebe Grüße, Ron
Um der Balance willen könnte man darauf hinweisen, dass unter den in Zürich inhaftierten und gefolterten (Ana-)Baptisten zeitweise auch Balthasar Hubmaier war. Hubmaier war, schon bevor er ins reformatorische Lager wechselte, Doktor der Theologie und D.A. Carson sagte einmal in einer Q&A-Session, dass Hubmaier wohl eine Art baptistischer Calvin geworden wäre, wenn er nicht so früh das Martyrium erlitten hätte.
@ Lukas
Dein Vergleich mit der NS-Zeit hinkt. Es gab da ja noch nicht mal ein Gesetz das die Tötung der Juden vorschrieb. Das „Recht“ nahm man sich einfach ohne entsprechendes Gesetz heraus. Aber selbst mit Gesetz ist es natürlich falsch jemanden unschuldig ohne begangene Straftat aus rassistischen Gründen einfach umzubringen. Im Gegensatz dazu gabs im 16. Jahrhundert z. B. vom Kaiser das Gesetz Antitrinitarier hinzurichten. Ihre Lehre war eine Straftat! Und es wurde den „subversiven Kräften“ auch erlaubt von ihrer Irrlehre umzukehren. Wenn sie davon keinen Gebrauch machten, wurde das Urteil dann halt vollstreckt. Du hast mich falsch verstanden, ich wollte niemanden entschuldigen. Ich sehe ja keine Schuld bei den Personen selbst. Und rechtfertigen tue ich auch nichts. Ich nehme die Reformationszeit einfach wie sie wahr. Ohne zu verurteilen oder sie als besser oder schlechter als die Gegenwart zu stellen.
@ Joel213, Ron Es wäre tatsächlich altklug und eingebildet, unsere Zeit der Zeit der Reformatoren gegenüber zu rühmen — das sei nicht meine Absicht. Mich interessiert das Schisma zwischen Reformatoren und Täufern, weil durch den Bruch innerhalb dessen, was eigentlich zusammen gehört, immer die ursprüngliche Einheit verloren geht und Tendenzen zur Einseitigkeit weicht. Das hilft, die Gegenwart zu verstehen. Das geschieht bei jedem Schisma. Vor kurzem las ich von einem Zeitgenossen, die Pietisten vor dem Zweiten Weltkrieg seien fromm und weltoffen gewesen. Polarisierung: Nach dem jahrzehntelang andauernden Schisma orientiert sich nun ein Teil der ehemaligen Pietisten an einem frommen weltabgewandten Pol und ein anderer Teil an einem diesseitigen weltzugewandten Pol. In diesem Sinne verstehe ich auch Blaise Pascals Satz: „L’histoire de l’Église doit être proprement appelée l’histoire de la vérité.“ Ein anderer Grund, um sich für Geschichte zu interessieren, ist dieser: Für Gott gibt es zwar Geschichte, denn er offenbart sich in der Geschichte, gleichzeitig steht er aber über der… Weiterlesen »
@Lukas „Alles, was war, ist und sein wird, ist vor Gott im Präsens. Und trotzdem — wie unbegreiflich für uns Menschen — wirft er unsere Sünden in die Tiefen des Meeres und wird sie vergangen gemacht haben.“ Prädikat: Gut gebrüllt Löwe! Mit einem kleinen Stirnrunzeln muss ich einen Nagel einschlagen: Wenn wir wüssten, wie es wäre, eine Fledermaus zu sein, wüssten wir immer noch nicht, wie es für eine Fledermaus ist, eine Fledermaus zu sein. Will heißen: Wenn wir wissen, was Präsens für uns ist, dann noch lange nicht, was Präsens für Gott ist (oder bedeutet). Gott unterliegt vielleicht nicht der Zeit, aber zu sagen, Gott sei zeitlos, ist das gleiche, wie wenn man sagt, er habe keine Ausdehnung, mithin keinen Raum. Ich habe die Antwort auf die Frage: „Was ist Zeit“ schon gegeben. Zeit ist die Ordnung der Dinge nacheinander. Insofern gibt es auch für Gott ein Vorher, Jetzt und Nachher. Deine philosophischen Implikationen sind anregend, aber ob auch… Weiterlesen »
@ Schandor Danke für Deine Antwort. „Wenn wir wüssten, wie es wäre, eine Fledermaus zu sein, wüssten wir immer noch nicht, wie es für eine Fledermaus ist, eine Fledermaus zu sein. Will heißen: Wenn wir wissen, was Präsens für uns ist, dann noch lange nicht, was Präsens für Gott ist (oder bedeutet).“ Deine Frage ist sehr interessant. Wie liest Du 1Kor 2, 11 in Bezug auf diese Frage? Interessanterweise sagt diese Stelle ja eigentlich zwei verschiedene Dinge: 1.) Die Kluft zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf ist unüberbrückbar, aber 2.) es gibt trotzdem eine Analogie zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf, da beide personhaft sind. Es gibt also auch die Möglichkeit zur Kommunikation. In der klassischen Theologie wird dieser Vers als Grundlage für die Lehre der analogia entis verwendet, aber, ehrlich gesagt, kenne ich sie nicht genau. Kennst Du sie? „Gott unterliegt vielleicht nicht der Zeit, aber zu sagen, Gott sei zeitlos, ist das gleiche, wie wenn man sagt, er… Weiterlesen »
@Lukas
Zu 1Kor 2,11 kann ich in dieser Hinsicht gar nichts sagen.
Zu Emil Brunner auch nicht.
Aber es scheint mir doch eher ein sprachlich/kommunikatives Problem zu sein, zwischen Gott als „Denkobjekt“ und dem „Gott der Offenbarung“ zu unterscheiden, als ein wirkliches Problem.
Ich glaube folgendes:
Sobald wir anfangen, Unbekannte in die Gleichung einzuführen, kommt es zwangsläufig(!) zu Meinungsverschiedenheiten. Führen wir keine Unbekannte ein, sprechen wir nur über das, was wir wissen können, nämlich über die Aussagen der Hl. Schrift. Das könnte biblizistisch klingen, ist aber mitnichten so gemeint.
Ich wehre mich gegen den allzu abstrakten Ewigkeits-Begriff, der mir selbst eher ein Produkt der Theologie zu sein scheint.
Ein einfaches Experiment: Wenn Du jetzt über einen Körper verfügtest, der weder sterben kann noch krank werden kann noch zerstört werden kann, dann hat automatisch auch Zeit eine völlig andere Bedeutung für Dich.