Nachdem die Zeitschrift Christianity Today die Neue Paulusperspektive in der Augustausgabe zum Topthema gemacht hatte, publizierte Scott McKnight eine fünfteilige Serie zur New Perspective on Paul, die freundlicherweise von Dominik Sikinger auf Deutsch zusammengefasst wurde.
Die Neue Paulusperspektive ist eine komplexe Angelegenheit und ich habe an dieser Stelle nicht vor, die Theorie als solche zu erörtern. Dennoch möchte ich mich zu drei Punkten äußern, die mir bei McKnights Darstellung aufgefallen sind.
(1) Anders als McKnight behauptet, begann nicht alles 1982 mit James Dunn bzw. 1977 mit Ed Parish Sanders. Der Wandel in der Paulusexegese, der heute gern unter dem Leitbegriff »The New Perspective« zusammengefasst wird (Der Begriff geht zurück auf den Aufsatztitel »The New Perspective on Paul« in: Dunn, 1983), ist bereits viel früher von namhaften Gelehrten wie W. Wreder, A. Schweizer oder H.-J. Schoeps vorbereitet worden. Schon diese Theologen (und noch einige andere) haben versucht, die protestantische Paulusauslegung von dem einseitig lutherischen Interpretationsmodell zu befreien.
Besonders hervorzuheben ist der schwedische Exeget Krister Stendahl, der sich selbstbewusst um eine »Entlutherisierung« der Paulusinterpretation bemühte und 1963 in seinem Aufsatz »The Apostle Paul and the Introspective Conscience of the West« (Stendahl, 1963) die These aufstellte, dass unser Paulusverständnis zu Unrecht von der Rechtfertigungslehre vereinnahmt wurde. Hauptthema des Apostels – so Stendahl – sei die Hineinnahme der Heiden in die Heilsgeschichte, nicht die Erlösung des Einzelnen. Das Verdienst des Paulus sei die Entdeckung gewesen, Heiden könnten Vollmitglieder der Gottesgemeinde werden, ohne dabei an die Zeremonialgesetze gebunden zu sein. Stendahl schreibt in seiner Auslegung des Römerbriefes:
Im Römerbrief ist das Prinzip der Rechtfertigung aus Glauben ein Missionsprinzip –ein Prinzip, um zu verstehen, wie es für Menschen aus den Völkern möglich ist, Teil von Gottes Programm, Plan und Volk zu werden. Wie können Menschen aus den Völkern zu Kindern Gottes, ja zu Kindern Abrahams werden? Paulus gebraucht das Syntagma »Abba, Vater« zweimal, im Galater- und im Römerbrief. Was er dem »Abba« entnimmt, ist nicht die warme, romantische Interpretation, die sich bei Joachim Jeremias findet. Paulus meint mit »abba« lediglich, dass wir »wenn wir ›abba‹ sagen, zu Erben früherer Verheißungen und von Gottes Willen geworden sind.« ›Abba‹ ist eine Erbschafts-Frage – wer sind die Erben oder Kinder Abrahams? Das entscheidende Argument findet sich in Paulus‘ Interpretation von Abraham. Er (Abraham) glaubte, und das war rettende Gnade. Er glaubte, und »es wurde ihm zur Gerechtigkeit angerechnet«.
Dies ist die wundervolle Entdeckung des Paulus, nämlich: dass Abraham glaubte, bevor er beschnitten war. Die Beschneidung kommt (im Buch Genesis) nicht vor, sondern nach diesem Abschnitt. Wir sind also gerechtfertigt aus Glauben nach dem Modell Abrahams, ohne Beschneidung. So funktioniert das Argument der Rechtfertigung aus Glauben. Es ist herausgehämmert auf dem Amboss der Frage: Wie können Menschen aus den Völkern Teil des Gottesvolkes (Israel) werden? Einige Christen meinen, die Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben sei die Antwort auf die Frage des geplagten Gewissens: Wie kann ich der Gnade Gottes gewiss sein? Antwort: durch Glauben. Aber das war nicht Paulus‘ Gedanke. Paulus hatte in diesem Sinn nie ein Problem mit dem Gewissen. Er wusste, dass er gemäß dem Gesetz vollkommen war. Er war ein schrecklicher Prahler. Er war immer sowohl der größte Sünder als auch der größte Apostel. Er spricht in Zungen mehr als irgendjemand sonst. Sein Kampf, seine Schwäche, seine Epilepsie – oder was immer es war – verweisen auf ein interesantes persönliches Drama, von dem wir viel lernen können. Seine theologia crucis liegt darin begründet. Doch sein Konzept der Rechtfertigung aus Glauben hat damit nichts zu tun. (Stendahl, 2004: 36–38)
Wegen dieser neuen Sichweise wird Stendahl gern (m. E. zu Recht) als der »Vater« der Neuen Paulusperspektive bezeichnet (vgl. z. B. Stendahl, 2004: 8).
(2) McKnight erklärt, dass die ihm bekannte Kritik an der Neuen Paulusperspektive überwiegend aus dem Bereich der Systematischen Theologie stamme. Nun weiß ich nicht, ob Scott vor allem dogmatische Literatur studiert (was mich sehr verwundern würde). Tatsächlich kommt jedenfalls der größte Widerstand gegenüber der neuen Sichweise nicht aus dem dogmatischen Lager, sondern von den neutestamentlichen Exegeten. Einige wichtige theologisch-exegetische Werke sind:
- KIM, SEYOON: The origin of Paul’s gospel. Tübingen: J.C.B. Mohr, 1981
- SEIFRID, MARK A: Justification by faith: the origin and development of a central Pauline theme. Leiden; New York : E.J. Brill, 1992
- CARSON, DONALD; O’BRIAN, PETER THOMAS et. al.: The complexities of Second Temple Judaism. (WUNT 140, Vol. 1). Tübingen: Mohr Siebeck, 2001
- KIM, SEYOON: Paul and the new perspective: second thoughts on The origin of Paul’s gospel. (WUNT 140). Tübingen: Mohr Siebeck, 2002
- CARSON, DONALD A.; O’BRIAN, PETER THOMAS et. al.: The paradoxes of Paul. (WUNT 181, Vol. 2). Tübingen [u.a.]: Mohr Siebeck, 2004
- BACHMANN, MICHAEL; WOYKE, JOHANNES: Lutherische und Neue Paulusperspektive (WUNT 182). Tübingen: Mohr Siebeck, 2005. Zum Inhalt siehe hier.
- STUHLMACHER, PETER; HAGNER, DONALD A.: Revisiting Paul’s Doctrine of Justification: A Challenge to the New Perspective. InterVarsity Press, 2002. Der emeritierte Tübinger Neutestamentler Peter Stuhlmacher hat sich auch in einer Vortragsreihe entschieden gegen die Neue Paulusperspektive ausgesprochen. Einige der Vorträge können hier als mp3-Dateien heruntergeladen werden.
(3) Schließlich stellt McKnight eine Behauptung auf, die recht forsch klingt, aber wohl das Dilemma ziemlich genau auf den Punkt bringt: Sollten die Neuen Paulusperspektiven berechtigt sein, verschiebt sich der gesamte Bezugsrahmen des Evangeliums (engl. »the entire framework of the gospel is changed«).* Jenseits zahlreicher Einzelfragen, ist es, wie McKnight richtig feststellt, die Frage der Anthropologie, an der sich die Sache entscheidet. Ist die menschliche Natur im Kern gut (Pelagius u. humanistische Position), in den natürlichen Kräften verletzt (katholische Position), versklavt (orthodoxe Position) oder in der Tradition des gefallenen Adams von Anfang an durch und durch verdorben (Augustinus u. zugleich reformatorisch Position)?
Wir erörtern hier also nicht Randzonen des Evangeliums oder einfach harten Stoff (Antijudaismus, Judenmission, Bundestheologie, Gesetzesstatus und -funktion, Reich Gottes usw.), sondern zentralen Aspekte der Anthropologie und Soteriologie und damit des Evangeliums. Wir sollten uns deshalb nicht mit der Lektüre von E.P. Sanders, H. Räisänen, J. Dunn oder N. T. Wright zufrieden geben (so bereichernd diese auch sein kann), sondern auch S. Kim, M. Seifrid, D. Carson, M. Hengel und P. Stuhlmacher lesen. Vor allem aber sollten wir das Alte Testament, Augustinus, die Reformatoren und natürlich den Heidenapostel Paulus selbst gründlich studieren.
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* McKnight unterschätzt m. E. den Einfluss, den Augustinus auf die katholische Lehrfassung ausübte. Immerhin hält der Vatikan an einer (schwachen) Erbsündenlehre fest. Vgl. dazu besonders die Abs. 402–406 im Katechismus der Katholischen Kirche von 1993.
Literatur
DUNN, JAMES: »The New Perspective on Paul«. In: Bulletin of the John Rylands Library 65 (1983), S. 95–122
STENDAHL, KRISTER: The Apostle Paul and the Introspective Conscience of the West. In: Harvard Theological Review 56 (1963), S. 199-215
———: Das Vermächtnis des Paulus: Eine neue Sicht auf den Römerbrief. Zürich: Theologischer Verlag, 2004
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