Die Diagnose „Persönlichkeitsstörung“ hat es in sich. Nicht ein besonderer Bereich, sondern die ganze Person gilt dann nämlich als krank und letztlich mehr oder weniger unheilbar. Kritiker meinen: Das sind Schubladen, in die Patienten nicht hineingehören. Das überarbeitete Diagnosehandbuch der Weltgesundheitsorganisation will Persönlichkeitsstörungen in Zukunft deshalb differenziert erfassen. Das ICD-11 hat zum 1. Januar 2022 die bisherigen spezifischen Persönlichkeitsstörungen ganz aus dem Katalog gestrichen. Kein Narzissmus mehr, keine paranoide oder dissoziale Persönlichkeitsstörung. Es gibt nur noch die allgemeine Diagnose: „Persönlichkeitsstörung“.
Martin Hubert hat für den DLF das Thema geschickt aufbereitet. Ich hätte mir gewünscht, dass die Kritiker dieses Einschnitts mehr Raum bekommen hätten, kann aber gut damit leben, dass zumindest Schwächen der „Dimensionale Diagnose“ (so heißt das jetzt) erwähnt werden.
Ich empfehle Seelsorgern, Pastoren und natürlich Psychologen und Therapeuten diesen Beitrag aber nicht, weil ich ein Gegner oder Befürworter der „Dimensionale Diagnose“ bin. Vielmehr macht der Beitrag sichtbar, wie kompliziert das mit psychiatrischen Diagnosen ist und das diese Diagnosen immer auch abhängig sind von der Kultur, in der die Kriterien entwickelt werden (vgl. dazu auch den Beitrag Zweifelhafte Therapeutisierung).
Also hier:
https://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2022/01/09/psycho_revolution_neustart_fuer_die_diagnosen_der_dlf_20220109_1630_41308084.mp3
Hallo! Ich habe bis heute die Diagnose mehrerer Persönlichkeitsstörungen und anderer psychischer Erkrankungen – ganz offiziell. In meiner Jugend hatte ich viel mit der Psychiatrie zu tun. Das Dilemma, das ich bis heute folglich habe, ist folgendes: Kein medizinisches Fach ist trotz Diagnosekriterien für bestimmte Störungen/Erkrankungen so dermaßen subjektiv, wie es die psychiatrische Medizin ist. Alles hängt dann am Ende eben doch davon ab, wer mit welcher wie auch immer gearteten soziokulturellen, politischen, medizinischen und/oder religiösen „Prägung“ vor einem sitzt, um eine Diagnose zu erstellen. Als ich mich im Laufe der Jahre näher damit beschäftigt habe, verunsichert durch unterschiedliche Diagnosen in Ärztebriefen oder auf privatärztlichen Abrechnungen, ist mir erst aufgefallen, daß sich diese ganzen Diagnosen allerlei psychischer Erkrankungen untereinander total widersprechen – trotz Diagnosekriterien. Daß ich „psychisch krank“ bin, ist klar, aber woran ich nun genau leide, weiß anscheinend niemand. Das verunmöglicht leider nahezu eine hifreiche Behandlung. Im Grunde kann ich mir die Diagnose, die mir am besten „gefällt“ aussuchen.… Weiterlesen »
Oh oh, das ist so nicht richtig. Eine Persönlichkeitsstörung ist nicht auch gleich Krankheit. Nur ein Bereich der Persönlichkeitsstörungen, die als krankhaft eingestuft sind, sind nicht heil- aber behandelbar. Das wird sogar in der Reportage sehr deutlich gesagt. Ich bin kein Freund solch pauschaler Verurteilungen. Es ist zu leicht, sich besser zu informieren. Zudem unterliegt die Deutung psychischer Störungen denselben Einflüssen, wie u. a. die Theologie auch. Inwieweit ist es also so einer besonderen Erwähnung bedürftig? Ich hätte auch die Frage, was den Interviewten so drängt, unbedingt eine psychologische Kategorisierung haben zu wollen? Solche Diagnosen sind Grundlagen für die mögliche Behandlungsform. Es ist also ein Werkzeug für Ärzte, um eine nötige Behandlung anzusetzen und eben auch bei den Kassen abrechnen zu können. Eine Diagnose zu haben, bedeutet aber noch lange nicht, dass man auch behandlungsbedürftig ist. Eine Diagnose ist eine Meinung, eine Einschätzung. Hier stellt sich u. a. die Frage, wie wir als Gesellschaft damit umgehen wollen. Es ist vor allem eins… Weiterlesen »
@Charly: Ich verstehe, dass man Persönlichkeitsstörungen unterschiedlich bewertet, je nach dem, wo man „psychopathologisch verortet“ ist. Insgesamt würde ich gemäß bisherigem Gebrauch nur dann von einer Persönlichkeitsstörung sprechen, wenn ein krankheitswert vorliegt und die gesamte Person betroffen ist (auch in Abgrenzung zur Persönlichkeitsproblematik). Das wird ja gerade auch von den Kritikern bemängelt (Stichwort „Stigmatisierungsproblem“). Fiedler und Herpertz schreiben – und hier nehmen sie kritische Gedanken von Jaspers auf (Persönlichkeitsstörungen, 7. Aufl., 2016, S. 23): Persönlichkeitsstörung« ist nämlich auf eine eigenwillige Weise nicht nur Diagnose. Die Feststellung, dass die »Person« gestört ist, beinhaltet zugleich eine Erklärung. Es ist offensichtlich ab Diagnose nicht mehr so sehr die soziale Systemik oder die Interaktion, die gestört ist. Es ist die Person: Persönlichkeitsstörung. Die Person ist gestört. Folglich und plötzlich ist die Person »Ursache« für Schwierigkeiten, die man mit ihr hat; sie ist – etwas überspitzt gesagt – »Täter«. Eine solche Sicht kann zunächst beruhigen, hat der Diagnostizierende selbst offensichtlich mit den Problemen, die er… Weiterlesen »