Ich finde, Svenja Flaßpöhler hat im Editorial der aktuellen Ausgabe des Magazins Philosophie passende Worte gefunden (3/2022, S. 3):
An diesem Tag [gemeint ist der 24. Februar 2022) ist der Krieg zurückgekehrt. Die Vorstellung einer linear verlaufenden Fortschrittsgeschichte erweist sich als naiver Traum. Der Einbruch des Realen hat uns mit einer solchen Wucht getroffen, dass vor allem in den ersten Tagen nach dem Angriff der hektische Versuch zu beobachten war, das Ende der Illusion durch feste Überzeugungen und starre Denkmuster des Kalten Krieges zu kompensieren. Man müsse wieder in den Kategorien von Freund und Feind denken. „Russlandversteher“ stehen deshalb mehr denn je im Kreuzfeuer der Kritik.
Dieser schreckliche Krieg ist durch nichts zu rechtfertigen. Doch Verstehen heißt nicht: Legitimieren.
Das wusste niemand besser als Hannah Arendt, die mit Blick auf den Holocaust den Versuch unternahm, die Welt mit den Augen Adolf Eichmanns zu sehen, und so zu ihrer Theorie des „banalen Bösen“ kam. In ihrem Aufsatz „Verstehen und Politik“ aus dem Jahr 1953 bringt sie den Unterschied zwischen Verstehen und Rechtfertigen auf den Punkt: „In dem Ausmaß, in dem das Heraufkommen totalitärer Regime das Hauptereignis unserer Welt ist, heißt den Totalitarismus verstehen nicht irgendetwas zu entschuldigen, sondern uns mit einer Welt, in welcher diese Dinge überhaupt möglich sind, versöhnen.“
Gerade jetzt ist es geboten zu verstehen: die Logik des Krieges, die immer noch Teil unserer Realität ist – und die auch das Denken Wladimir Putins bestimmt. Ein solches Verstehen legitimiert nicht seine Tat, sondern kann vielmehr helfen, einen aus Schock und Angst geborenen blinden Aktionismus zu verhindern.
Aus meiner Sicht ist das Wort „verstehen“ in diesem Zusammenhang „missverständlich“, auch deshalb, weil es nicht wenige mit „Verständnis haben“ verwechseln und auch so verwenden.
Es kann nur darum gehen, Erklärungen und Motive für das Verhalten eines Verbrechers wie Wladimir Putin zu suchen. Dies ist wichtig, weil auch andere Fragen zu beantworten sind, wie zum Beispiel „Hätte man das Verbrechen verhindern können?“ oder „Tragen andere eine Mitschuld?“.
Wenn man nach Erklärungen für Putins Handeln sucht, sollte man auch berücksichtigen, dass er viele Verhaltensmerkmale eines Psychopathen hat.
@Udo: Es kann nur darum gehen, die Logik dieses Krieges verstehen, nicht darum, Verständnis für den Krieg zu haben. Es wird wohl mehr mit Putin zu tun haben, als wir zunächst dachten. Um die Genealogie Putins besser zu verstehen, die die Dokumentation Putins Zeugen sehr hilfreich. Ein russischer Filmemacher hat Putin in dem Jahr begleitet, in dem er im Kremel die Macht übernahm. Tatsächlich deutet sich hier die völlig übertriebene Machtkonzentration, die letztlich zu einer neuen Diktatur führte, angedeutet. Der Filmemacher musste übrigens ins Exil.
Bei Arte gibt es die Doku, die übrigens auch von ihrer Machart her sehr wertvoll ist:
https://www.arte.tv/de/videos/078708-000-A/putins-zeugen/
Liebe Grüße, Ron
Logik des Krieges? Oder Logik des Menschlichen? Wenn ich an das Auf-und-Ab im Buch der Richter bzw Könige/Chronike denke, sehe ich durchaus Parallelen – wenn auch in den Hochs bei uns Gott wenig thematisiert wird.
@PeterG: Ich muss seit Jahren an das Buch Richter denken. Wie eine Beschreibung unserer Zeit.