Der Vorwurf, klassisch reformatorische Einsichten seien auf Neuschöpfungen des Kirchenvaters Augustinus zurückzuführen, ist schon recht alt. Die Reformatoren erster und zweiter Generation mussten sich immer wieder gegen diese Anwürfe zur Wehr setzen. Sie haben ganze Kataloge mit kirchengeschichtlichen Zeugen erstellt. Nicht nur das. Einige Reformatoren, etwa Heinrich Bullinger, sind durch die Lektüre der Väter zur Reformation durchgedrungen.
Wirklich Ruhe in dieser Diskussion gab es nie. Auch heute ist das Argument immer wieder zu hören. „Hat etwa Augustinus die Lehre von der Ursünde erfunden?“ Oder: „Stammt die Vorstellung von der Glaubensgerechtigkeit aus Nordafrika?“
Nun trifft es gewiss zu, dass Augustinus durch seine Konfrontationen mit den Manichäern, Donatisten und Pelagianern herausgefordert wurde, die Dinge sehr pointiert zu formulieren. Wir dürfen ruhig sagen, dass Augustinus den Weg der Theologie sehr maßgeblich beeinflusst hat. Dennoch gab es ausreichend Material, auf das der Kirchenvater (natürlich neben der Bibel) zurückgreifen konnte. Er selbst bemühte ja die Väter als Zeugen für seine Erkenntnisse.
Hier zwei Zitate, die aus dem 1. Jahrhundert stammen. Es handelt sich um eine apokryphe Schrift, die es sogar in den Anhang der Vulgata geschafft hat, nämlich das 4. Buch Esra (4Esr). Dort heißt es in 3,21–22:
Denn da Adam ein böses Herz in sich trug, hat er sich als erster vergangen und ist bezwungen worden, aber auch alle, die von ihm abstammen. Und die Schwäche wurde dauerhaft und das Gesetz mit dem Herzen des Volkes mit der Bosheit seiner Wurzel, und das, was gut ist, verschwand, und es blieb das Böse.
Oder in 7,45–46:
… Wer ist denn unter denen, die jetzt da sind, der nicht gesündigt hat, oder wer ist von den Geborenen, der nicht deine Verheißung übergangen hat? Und nun sehe ich, dass nur für wenige gilt, dass ihnen die künftige Welt Freude bereiten wird, vielen hingegen Qualen. Denn uns ist ein böses Herz eingewachsen, das uns diesem entfremdet und uns in die Verderbnis geführt hat und uns die Wege des Todes gezeigt hat, die Pfade des Verderbens, und uns weit entfernt hat vom Leben; und das nicht wenige, sondern beinahe alle, die geschaffen worden sind.
Im Blick auf die Glaubensgerechtigkeit (und Erwählung) gibt es einen außerordentlich bemerkenswerten Befund. Der 1. Clemensbrief gehört zu den ältesten literarischen Zeugnissen des frühen Christentums außerhalb des Neuen Testaments. Es gilt als sicher, dass der Text vor der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts verfasst wurde, wahrscheinlich sogar um die Jahrhundertwende. Wir lesen im Kapitel 32,3–4:
Alle nun sind verherrlicht und groß gemacht worden nicht durch sich selbst oder durch ihre Werke oder durch das gerechte Handeln, das sie vollbrachten, sondern durch seinen Willen. Auch wir also, die wir durch seinen Willen in Christus Jesus berufen worden sind, werden nicht durch uns selbst gerechtfertigt (δικαιούμεθα), auch nicht durch unsere Weisheit oder Einsicht oder Frömmigkeit oder durch Werke, die wir vollbracht haben mit frommem Herzen, sondern durch den Glauben, durch den der allmächtige Gott alle von Ewigkeit her gerechtfertigt hat. Ihm sei die Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.
Bitte nicht falsch verstehen. Bei den Kirchenvätern lässt sich viel, auch viel Unsinn, finden! Wir sind deshalb gut beraten, wenn wir unsere Theologie mit der Heiligen Schrift begründen. Aber wer sagt, die abendländische Theologie sei eine Erfindung Augustins, macht es sich zu einfach.
Beweist das nicht nur, dass Augustin sich bei dem Material bedient hat, das aus triftigen Gründen eben keinen Eingang in den Kanon des Neuen Testaments gefunden hat?
Über Augustin ist es dann wieder in die christliche Theologie gekommen.
So darf kann man argumentieren. Wobei es dann keine Neuschöpfungen wären. Die Frage läuft eben darauf hinaus, welche Linien durch den Kanon besser gedeckt sind.
Liebe Grüße, Ron
https://www.youtube.com/watch?v=xFNCXEsPcF4
@Ali: Das verstehe ich jetzt nicht ganz. In dem Post geht es um die Ursünde und die Rechtfertigung aus Glauben. Du postest aber den Link auf ein Video von Leighton Flowers, in dem es um die Vorsehung geht. Naja, vielleicht muss ich das auch nicht verstehen.
Liebe Grüße, Ron
Ron: Kannst du Literatur von oder über Heinrich Bullinger empfehlen, in der beschrieben wird, wie er „durch die Lektüre der Väter zur Reformation“ durchdrang?
@Viktor: Beispielsweise beschreibt das Fritz Büsser in seiner zweibändigen Biografie über Bullinger. Es geschah während seiner Zeit als Student in Köln, wo er unter den Einfluss des Humanismus kam. Bücher von Erasmus und Luther, aber auch die Loci von Melanchthon, spielten also auch eine Rolle. Büsser schreibt: „Jedenfalls brachten die Kirchenväter und Luther Bullinger in der Folge dazu, sich ein Neues Testament zu kaufen. Mit Hilfe des Hieronymus las er zuerst das Matthäusevangelium, dann auch in den übrigen Schriften“ (Bd. 1, S. 23).
Liebe Grüße, Ron
@Viktor: Auch erhellend: David Wright, „Heinrich Bullinger and the Early Church Fathers“, in: Campi/Opitz (Hg.), Heinrich Bullinger: Life – Thought – Influence, Bd. 1, Zürich: TVZ, 2007, S. 357–378.
@Ron: vielen Dank für die Empfehlungen, die ich mir ansehen werde.
Liebe Grüße
Viktor H.
Augustinus, zusammen mit Kierkegaard der für mich begnadetste christliche Schriftsteller, beide mit ambivalenter Wirkungsgeschichte. Kreativ wie verhängnisvoll war seine Deutung von Lukas 14,23: „Und der Herr sprach zu dem Knechte: Gehe aus auf die Landstraßen und an die Zäune und nötige sie hereinzukommen, auf das mein Haus voll werde.“ Daraus die Rechtfertigung von Bekehrung durch Gewalt abzuleiten und zu empfehlen hatte meines Wissens keine Vorläufer.
@Viktor: Ich habe eben ein taufrisches Buch zu Bullinger bekommen. William Peter Stephens ist einer der besten Kenner der Zürcher Reformation. Er konnte das Buch selbst nicht mehr abschließen, da er im April 2019 überraschend verstorben ist. Jim West und Joe Mock haben das Buch vervollständigt. Stephens schreibt zur Zeit in Köln (hier nur ein kurzer Auszug aus: Stephens, William Peter. The Theology of Heinrich Bullinger (Reformed Historical Theology, Band 59). Vandenhoeck & Ruprecht, 2019, S. 20): In the account in his Diary, Bullinger records that it was in 1520 that he faced the question whether the teaching of Luther or the pope was right. A person familiar with papal teaching pointed him to Peter Lombard’s Sentences. He read this and Gratian’s Decretals, the canon law of the Roman Church, and found that they appealed to the fathers of the church. After that with the help of Georg Diener, a fellow countryman, he gained access to the library of the… Weiterlesen »
@Clemens: Ja, das mit dem Compelle intrare ist ein Beispiel dafür, dass schlechte Exegesen furchtbare Konsequenzen haben können. Augustinus selbst lehnte jede Gewalt in Fragen des Glaubens zunächst ab, aber übernahm wegen des Erfolges dann die Ansicht einige Mitbischöfe. Dabei war er weiterhin gegen Folter, Verstümmelungen und Todesstrafe. Aber die Dinge nahmen ihren Lauf. Schlimm!
Liebe Grüße, Ron
@ Ron
Danke für die Antwort! Ja, manche Sätze über den Krieg sind bei Augustinus schwer verdaulich.
Gestern bei der Antrittsvorlesung von Hans Schelkshorn für die Professur für Christliche Philosophie (Uni Wien) fielen ein paar harte Aussagen über Augustinus:
Schelkshorn sprach von einer „Halbierung der moralischen Substanz“ des Christentums, weil Augustinus Herrschaft/Knechtschaft mit der Erbsündenlehre rechtfertigte, wodurch die „sozialkritische Instanz des christlichen Ethos“ in Mitleidenschaft gezogen wurde.
Auch warf er ihm vor, das Wort „Fleisch“ mehr platonisch als jüdisch verstanden zu haben, wodurch der platonische Dualismus Geist/Körper Einzug ins Christentum fand.
Berechtigte Kritik?
Dies ist ein Kommentar zu der Aussage im 2. Absatz am Anfang: Wirklich Ruhe in dieser Diskussion gab es nie. Auch heute ist das Argument immer wieder zu hören. „Hat etwa Augustinus die Lehre von der Ursünde erfunden?“ Meine Meinung ist: 1. Der Kirchenvater Augustinus hat die Lehre von der Ursünde nicht erfunden. Im Beitrag: Die Bibel verstehen – Charles C. Ryrie [Mit der Suche „Die Bibel verstehen – Charles C. Ryrie pdf“ lässt sich der Hyperlink finden.] steht ab der Seite 254 und ab der Seite 237 von 581 in der Anzeige: Die Erbsünde I. Definition Erbsünde ist jener sündige Zustand, in den alle Menschen hineingeboren werden. In der Theologie wird dieser Gedanke durch mehrere Begriffe wiedergegeben. (1) Manche sprechen, wie im Titel dieses Kapitels, von Erbsünde. Damit wird die Wahrheit betont, daß alle Menschen ihren sündigen Zustand von ihren Eltern erben, sie wiederum von ihren Eltern bis hin zu Adam und Eva. (2) Andere sprechen lieber von der… Weiterlesen »
https://www.cmv-duesseldorf.de/de/bucher/402-war-augustin-der-erste-calvinist-9783961900626.html?search_query=war+augustin+der+erste+calvinist&results=1
@Jutta: Ich weiß jetzt nicht, was Du mit dem kommentarlosen Verweis auf das Buch von Ken Wilson bezweckst. Ich vermute, das Buch und dessen Verwertung in den sozialen Medien verunsichern Dich. Ich habe das Buch und die zugrunde liegende Dissertation bei mir im Regal stehen. Leider bin ich noch nicht dazu gekommen, eine Rezension zu schreiben. Das wäre wirklich sehr viel Arbeit (man muss z.B. viel Latein lesen), die ich derzeit nicht habe. Aber ich kann andeuten, dass die Thesen ähnlich steil sind wie die von Ali Bonner in ihrem Buch The Myth of Pelagianism und dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis gründliche Antworten vorliegen. Bei Bonner ist die erste Begeisterung längst verflogen. Bei Wilson wird sich auch vieles relativieren.
Die Besprechung der These durch einen findigen Laien, der die Bibel und Augustin sehr ernst nimmt, findest Du übrigens hier:
https://cwhisonant.wordpress.com/2020/06/01/discussing-ken-wilsons-work-a-table-of-contents/
Liebe Grüße, Ron
@Ron, danke. Ja, das verunsichert mich, wie mich dieses Thema generell noch verunsichert und ich als Laie auf allen Gebieten gar nicht mehr weiss, oft, wie ich noch etwas prüfen soll und kann.
Danke, und tut mir leid, aber ich wusste einfach nicht, was ich als Kommentar schreiben sollte.
Ja, vielleicht schaffe ich es, das was Du hereingestellt hast zu lesen, Mein Englisch ist nicht so ganz gut mehr, und wie gesagt, ich bin nicht so sehr gebildet wie Du und viele andere, die hier kommentieren.
Vielleicht sollte ich mich dann auch generell mehr zurückhalten …
Es gibt ein Interview mit Wilson auf: Calvinismus-Check .. das einen aber letztlich auch ratslos zurück lässt, irgendwie … und siehst Du, tut mir leid, ich kann nur sagen: irgendwie, und das gar nicht konkreter und genauer benennen.
http://www.calvinismus-check.de/war-augustinus-der-erste-calvinist/
Flowers Leighton hast Du ja schon erwähnt in der Replik auf @Ali.