Alexis de Tocqueville: Die gewaltige Vormundsschaftsgewalt

Was Alexis de Tocqueville in den 1830er Jahren über die die seichte Abschaffung der Demokratie in Amerika geschrieben hat, klingt für mich so interessant und aktuell, dass ich den TheoBlog-Lesern ein längeres Zitat zumuten möchte. Ich wurde durch den Artikel „When Fear leads to Tyranny“ von Jonathan Sumption auf das Buch Über die Demokratie in Amerika aufmerksam. Nach Sumption beschreibt Alexis de Tocqueville unüberbietbar klar, wie ein fürsorglicher Staat seinen Bürgern Stück um Stück ihre Selbstbestimmung nimmt. Die Akteure setzten die Vormundschaftsgewalt so geschickt ein, dass die Bürger den schleichenden Prozess der Entmündigung sogar als Fürsorge wahrnehmen.

Also hier (Über die Demokratie in Amerika, 2021 [1835], S. 411–413):

Ich bin der Ansicht, die Art der Unterdrückung, die den demokratischen Völkern droht, wird mit nichts, was ihr in der Welt voraufging, zu vergleichen sein; unsere Zeitgenossen würden ihr Bild in ihren Erinnerungen vergeblich suchen. Ich selbst suche vergeblich nach einem Ausdruck, der die Vorstellung genau wiedergibt, die ich mir von ihr mache, und der sie umfasst; die alten Begriffe Despotismus und Tyrannei passen nicht. Die Sache ist neu, und da ich sie nicht benennen kann, muss ich versuchen, sie zu beschreiben. Ich will entwerfen, unter welchen neuen Zügen der Despotismus sich in der Welt einstellen könnte: Ich sehe eine unübersehbare Menge ähnlicher und gleicher Menschen, die sich rastlos um sich selbst drehen, um sich kleine und gewöhnliche Freuden zu verschaffen, die ihr Herz ausfüllen. Jeder von ihnen ist, ganz auf sich zurückgezogen, dem Schicksal aller anderen gegenüber wie unbeteiligt: Seine Kinder und seine besonderen Freunde sind für ihn die ganze Menschheit; was seine übrigen Mitbürger angeht, so ist er zwar bei ihnen, aber er sieht sie nicht; er berührt sie, aber er spürt sie nicht; er lebt nur in sich und für sich selbst, und wenn ihm auch noch eine Familie bleibt, so kann man doch zumindest sagen, ein Vaterland hat er nicht mehr. Über diesen Bürgern erhebt sich eine gewaltige Vormundschaftsgewalt, die es allein übernimmt, ihr Behagen sicherzustellen und über ihr Schicksal zu wachen. Sie ist absolut, ins Einzelne gehend, pünktlich, vorausschauend und milde. Sie würde der väterlichen Gewalt gleichen, hätte sie – wie diese – die Vorbereitung der Menschen auf das Mannesalter zum Ziel; sie sucht aber, im Gegenteil, die Menschen unwiderruflich in der Kindheit festzuhalten; sie freut sich, wenn es den Bürgern gutgeht, vorausgesetzt, dass diese ausschließlich an ihr Wohlergehen denken. Sie arbeitet gern für ihr Glück; aber sie will allein daran arbeiten und allein darüber entscheiden; sie sorgt für ihre Sicherheit, sieht und sichert ihren Bedarf, erleichtert ihre Vergnügungen, führt ihre wichtigsten Geschäfte, leitet ihre gewerblichen Unternehmungen, regelt ihre Erbfolge und teilt ihren Nachlass; könnte sie ihnen nicht vollends die Sorge, zu denken, abnehmen und die Mühe, zu leben? Auf diese Weise macht sie den Gebrauch des freien Willens immer überflüssiger und seltener, beschränkt die Willensbetätigung auf ein immer kleineres Feld und entwöhnt jeden Bürger allmählich der freien Selbstbestimmung. Auf all das hat die Gleichheit die Menschen vorbereitet: hat sie bereit gemacht, es zu erdulden, ja es häufig sogar für eine Wohltat zu halten. So breitet der Souverän, nachdem er jeden Einzelnen der Reihe nach in seine gewaltigen Hände genommen und nach Belieben umgestaltet hat, seine Arme über die Gesellschaft als Ganzes; er bedeckt ihre Oberfläche mit einem Netz kleiner, verwickelter, enger und einheitlicher Regeln, das nicht einmal die originellsten Geister und die stärksten Seelen zu durchdringen vermögen, wollen sie die Menge hinter sich lassen; er bricht den Willen nicht, sondern er schwächt, beugt und leitet ihn; er zwingt selten zum Handeln, steht vielmehr ständig dem Handeln im Wege; er zerstört nicht, er hindert die Entstehung; er tyrannisiert nicht, er belästigt, bedrängt, entkräftet, schwächt, verdummt und bringt jede Nation schließlich dahin, dass sie nur noch eine Herde furchtsamer und geschäftiger Tiere ist, deren Hirte die Regierung.

VD: MRW

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3 Kommentare
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Alex aus Cloppenburg
2 Jahre zuvor

Die Welt ist heute besser als vor 200 Jahren – Bevormundung hin oder her.
Zitat:
„Auf all das hat die Gleichheit die Menschen vorbereitet: hat sie bereit gemacht, es zu erdulden, ja es häufig sogar für eine Wohltat zu halten.“
Was auch immer der Gute unter Gleichheit versteht, es klingt mal wieder nach einer bösen Verschwörung.
Der Beitrag ist deswegen wichtig, weil er zeigt, dass Untergangsprophetien zu allen Zeiten Konjunktur hatten. Die Bezüge zur aktuellen Situation sind zwar in Teilen plausibel, allerdings trotzdem sehr bemüht.

Stephen
2 Jahre zuvor

Ich habe mir heute eine streng marxist-leninistische Deutung der jetztigen Pandemie angehört: die Krankheit wird verwendet, um die Gesellschaft hörig und kriegsbereit zu machen, denn wegen der Marktsättigung die Bürgerlichen einen Krieg brauchen, aber die Bevölkerung noch nicht in der Lage ist, mitzumachen. Das ist auch Untergangsprophetie. De Tocqueville, Marx … wie sie alle heißen. Sie geben Hinweise, geben zu bedenken, sind immer nur Bruchteile der Wahrheit – bestenfalls. Ja, der Text ließe sich auf diese Zeit anwenden. Die mir heute zitierten Teile des Manifests auch möglicherweise. Die Bibel ist auch nur ein Bruchteil der Wahrheit. Viele von uns wollen sagen, sie enthält nur Wahrheit. Dabei ist sie aber ein kleines Buch in Vergleich zu der ganzen Wahrheit, denn Gott kann uns nur so viel zumuten. Also hören wir uns viele Stimmen an, vertrauen letztendes nur die eine, die gute Stimme des Hirten in der Schrift, und lassen die anderen das sein, was sie sind: menschliche Perspektiven, die vielleicht wahr… Weiterlesen »

Maurits
2 Jahre zuvor

Ein sehr spannender Text. Es ist immer wieder erstaunlich, wie früh Prinzipien bereits erkannt wurden, die die Menschheit im Kern ausmachen und in unserer Gesellschaft und Kultur immer stärker zum Ausdruck kommen. In meinem Berufszweig wurde vor ein paar Jahren der Slogan „Gesundheit ist das Wichtigste“ sehr oft hervorgehoben. Die Pandemie der letzten zwei Jahre hat gezeigt, dass das nicht stimmt. Der Slogan sollte eher lauten: „Bequemlichkeit ist das Wichtigste“ – unabhängig davon, wie man zu Corona steht. Gesundheit und Wohlergehen sind auch nur Mittel zum bestmöglichen Genuss der Bequemlichkeit. Und für eine Ausdehnung der Bequemlichkeit sind wir nur allzu bereit, vieles in Kauf zu nehmen. Je öfter ich darüber nachdenke – und auch, wie sehr ich darin geprägt bin und mitgehe -, zeigt sich die zeitübergreifende Wahrheit von 2.Tim 3,1-7. Je mehr ich auf mich schaue, umso bequemer wirds in der heutigen Zeit für mich. Ja, es mag sein, dass man immer leicht in der Gefahr des Verschwörungstheoretisierens steht,… Weiterlesen »

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