Juli 2011

100-prozentige Kontextualisierung

Wie weit darf die Kontextualisierung des Evangeliums gehen? Hier haben wir einen Ausblick auf die kreative Verkündigung von morgen: Die Northpoint Church Adult Youth Group (USA) »performed« am Ostersonntag 2011 »Sympathy for the Devil« von den Rolling Stones. Im Refrain sowie letzter Strophe des Liedes heißt es:

Erfreut dich kennen zu lernen, ich hoffe, du errätst meinen Namen. Aber was dich verwirrt, ist die Art, wie ich mein Spiel treibe. So wie jeder Bulle kriminell und jeder Sünder heilig ist- Kopf oder Zahl! Nenn mich einfach Luzifer, denn ich könnte Zurückhaltung gebrauchen. Also, wenn du mich triffst, sei höflich, zeig Sympathie und Geschmack, benutz all deine erlernte Diplomatie und Höflichkeit – oder ich werfe deine Seele in den Müll!

Der Medienversteher: Marshall McLuhan

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Marshall McLuhan

»Das Medium ist die Botschaft« – mit diesem Satz wurde der Medientheoretiker Marshall McLuhan in den sechziger Jahren weltberühmt. Am heutigen Donnerstag wäre er hundert Jahre alt geworden. Seine Thesen polarisieren noch immer.

Ohnehin war McLuhan schon zu seiner Zeit als akademischer Lehrer untragbar, und er wäre es unter heutigen Modulverantwortlichen und Doktoratsprogramm-Strukturierern umso mehr. Niemals deckte er in Vorlesungen »ein Thema« ab, niemals gab es Zusammenfassungen zum Mitschreiben; für sorgfältig recherchierte und genau belegte Hausarbeiten gab er schon aus Prinzip null Punkte, und statt Klausuren kündigte er am liebsten »ein lockeres Gespräch« an, »in dem Sie mich mit Ihrer Textkenntnis überwältigen werden«. Ganze sieben Doktorarbeiten hat er in dreißig Dienstjahren betreut. Umso mehr gilt vielleicht sein Ausspruch: »Wir wissen nicht, wer das Wasser entdeckt hat, aber mit Sicherheit war es kein Fisch.«

Gerade deshalb war McLuhan ein kurzes Jahrzehnt lang eine Kultfigur. Als Produkt wurde er, der Werbung einmal als die einzig lohnende Quelle zum Verständnis der Gegenwart bezeichnet hatte, selbst von einem Werbefachmann vermarktet: in Form des »Distant Early Warning Line Newsletters«, den eine »Human Development Corporation« nahe den Werbern an der Madison Avenue vertrieb. Dort sollte man erfahren, warum der Computer das Ende der Geschichte bedeute und warum das Nasa-Programm bereits obsolet sei, und man konnte Spielkarten mit McLuhan-Zitaten zur Lösung eigener Probleme bestellen. »Read them yourself – at our risk!« Und sie wurden gelesen: 346 Formulierungen sind in den Sprachschatz des »Oxford English Dictionary« eingegangen.

Hier der Artikel von Claus Pias: www.faz.net. Siehe auch hier.

Ein anderes Bild von Familie

In Berlin soll ein Bücher- und Spielekoffer Erstklässlern die Vielfalt des Sexuallebens näher bringen. Ab der fünften Klasse sollen Kinder in Scharaden auch Begriffe wie »Sado-Maso«, »Orgasmus« und »Darkroom« darstellen.

Ein Buch aus Schweden lässt Kinder von ihren beiden Vätern oder ihren beiden Müttern erzählen. In einer anderen Geschichte wird erklärt, wie sich solche Paare fortpflanzen: »Weil aber zwei Frauen keine Kinder bekommen können, haben sie Stefan gefragt. Stefan ist schwul.« Auch die künstliche Befruchtung wird in kindgerechter Sprache erläutert: »Der Arzt tat dessen Samen in Mamas Bauch.« Die Geschichten sind gedacht für Grundschüler ab der ersten Klasse. Laut Lehrplan setzt der Sexualkundeunterricht in der fünften Klasse ein.

Zusammengestellt wurde der Koffer von »Queerformat«, einer Verbindung der zwei Berliner Vereine »KomBi« und »ABqueer«, die über »lesbische, schwule, bisexuelle und transgender Lebenweisen« aufklären und beraten. Die Vereinsmitglieder vertreten die Auffassung, dass solche Aufklärung auch schon für sechs Jahre alte Kinder hilfreich sei. Sie berufen sich dabei auf eine australische Studie, laut der manche Kinder schon im Sandkastenalter ihre Homo- oder Transsexualität spüren. Demnächst soll es auch einen Bücherkoffer für Kindergärten geben.

Hier mehr: www.faz.net.

Verhaltenskodex »Christliches Zeugnis in einer multireligiösen Welt«

201107191016.jpg»Mission gehört zutiefst zum Wesen der Kirche.« Mit diesen Worten beginnt das Dokument, das kürzlich in Genf am Sitz des Weltkirchenrates in einer feierlichen Stunde der Öffentlichkeit übergeben wurde. Mehr als fünf Jahre lang hatten Repräsentanten der genannten kirchlichen Organisationen in einer Reihe von größeren und kleineren Konferenzen daran gearbeitet, was es heißt, den christlichen Glauben im 21. Jahrhundert in einer multireligösen Welt zu bezeugen und weiterzugeben. Entstanden ist ein Dokument mit klassischen Grundlagen für das christliche Zeugnis, gefolgt von Prinzipien und Empfehlungen.

Thomas Schirrmacher, Chefunterhändler für die Weltweite Evangelische Allianz, machte deutlich, dass es sich bei dem vorgelegten Dokument keineswegs um ein Kompromisspapier handele (siehe hier). Im Laufe der Jahre habe es aus dem Umfeld verschiedener Seiten immer wieder auch sehr skeptische Stimmen gegeben, die ein inhaltlich substanzielles Dokument zum Thema Religionsfreiheit und Mission nicht für möglich gehalten hätten. Am Ende stünden nun klare Empfehlungen, die einerseits den Auftrag Jesu an seine Kirche deutlich bezeugten, andererseits aber auch die Grenzen einer an der biblischen Botschaft ausgerichteten Mission aufzeigten.

Hier ein Beitrag des DLF zum Verhaltenskodex:

[podcast]http://podcast-mp3.dradio.de/podcast/2011/07/13/dlf_20110713_0936_630bb225.mp3[/podcast]

 

Gehirn 2.0

Das Magazin SeitenweiseWirtschaft (NZZ) stellt drei Bücher vor, die sich mit der Frage beschäftigen: Wie verändert das Internet unser Denken?

Bitte diesen Link wählen: dl.nzz.solutionpark.tv.

Gottesbeweise

29546.jpgFolgt man dem Alltagsgeschwätz, verbreiteten Lehrbüchern der Philosophie oder der Demagogie des »Neuen Atheismus«, sind seit Immanuel Kant die theoretischen Gottesbeweise erledigt. Kant hatte Gottesbeweise als ehrsüchtige Absichten eingestuft und in den Bereich der über die Grenzen aller Erfahrung hinausgehenden spekulativen Vernunft verwiesen (I. Kant, Kant-W., Bd. 4, S. 693). Niemand, so der akademische Standpunkt mit und nach Kant, würde sich mehr »rühmen können: er wisse, dass ein Gott« sei ( I. Kant, Kant-W, Bd. 4, S. 693.). »Wer die Theologie, sowohl diejenige des christlichen Glaubens als auch diejenige der Philosophie, aus gewachsener Herkunft erfahren hat, zieht es heute vor, im Bereich des Denkens von Gott zu schweigen«, hat uns Martin Heidegger gesagt (zitiert nach Wilhelm Weischedel, Der Gott der Philosophen, Bd. 2, S. 280). Selbst der durchaus »offene« Logiker Franz von Kutschera kommt nach ausführlicher Analyse der bekannten Gottesbeweise zu dem Resümee: »Es gibt zumindest gegenwärtig keinen brauchbaren rationalen Gottesbeweis« (Franz von Kutschera, Vernunft und Glaube, Berlin; New York: de Gruyter, 1991, S. 41).

Hinter den Kulissen steigt allerdings das Interesse an der Gottesfrage (vgl. auch hier). Zwei Beispiele: Erst kürzlich veranstaltete die Universität Tübingen eine Tagung zum Thema »Gottesbeweise als Herausforderung für die moderne Vernunft« mit sehr honorigen Referenten wie Peter van Inwagen, Armin Kreiner, Richard Swinburne oder Robert Spaemann (hier das Programm). Außerdem ist kürzlich eine umfängliche Darstellung der Gottesbeweise von Joachim Bromand und Guido Kreis beim Suhrkamp Verlag herausgegeben worden. Das Buch:

  • Joachim Bromand und Guido Kreis (Hg.): Gottesbeweise von Anselm bis Gödel, Berlin: Suhrkamp Verlag 2011, 20 Euro

versammelt die großen Gottesbeweise des Mittelalters und der Neuzeit ebenso wie die klassischen Einwände von Hume und Kant. Einleitende Essays führen in die Problematik ein und bieten gut verständliche Rekonstruktionen der jeweiligen Argumentationen. Auch die sprachanalytische Debatte wird ausführlich dokumentiert. Dem Mathematiker Kurt Gödel, dessen ontologischer Gottesbeweis bis heute nicht überzeugend widerlegt worden ist (vgl. dazu auch hier), wurde ein ausführliches Kapitel gewidmet (S. 381487). Sogar der Kalām-Beweis von William L. Craig wird eingehend behandelt (S. 564–598). Im Vorwort schreiben die Bonner Autoren:

Hatte Adorno in der Negativen Dialektik noch generalisierend vermutet, daß »übrigens wohl eine jede [Philosophie] um den ontologischen Gottesbeweis [kreist]«, so scheint sich demgegenüber im nachmetaphysischen Zeitalter jeder ernsthafte Versuch eines Gottesbeweises von selbst zu verbieten. Aber das Gegenteil ist der Fall. Die philosophische Debatte über Gott ist seit einigen Jahren wiedereröffnet und aktueller denn je. Einer der Hauptbeiträge der Philosophie zu dieser Debatte liegt im Projekt der Gottesbeweise. In der sprachanalytischen Metaphysik und Logik werden sie seit Jahrzehnten ausführlich diskutiert. Es ist an der Zeit, die entscheidenden Fragen erneut zu stellen: Was sind eigentlich Gottesbeweise, und wozu sollen sie gut sein?

Obwohl die Verfasser sehr viel wert auf Verständlichkeit legen, ist das Buch keine Profanlektüre, teilweise werden Grundkenntnisse der formalen Logik vorausgesetzt. Aber für Philosophen, Theologen und interessierte Laien ist Gottesbeweise von nun an ein unentbehrliches Nachschlagewerk.

Hier eine Leseprobe mit dem Inhaltsverzeichnis.

Angriffe auf Kirchen im Senegal

Zu den jüngsten Angriffen auf Kirchen im Senegal hat die Kommission für Religionsfreiheit der Weltweiten Evangelische Allianz (WEA-RLC) am 7. Juli folgende Erklärung verlautbart:

Die Kommission für Religionsfreiheit der WEA hat erfahren, dass während der jüngsten Proteste gegen Verfassungsänderungen im Senegal mindestens sechs Kirchen angegriffen wurden. Diese Übergriffe in der Hauptstadt Dakar sind Besorgnis erregend, zumal der Senegal mit seiner islamischen Bevölkerungsmehrheit als Musterland der Toleranz und religiösen Koexistenz gilt.

Die Proteste brachen am 23. Juni aus, nachdem Präsident Abdoulaye Wade einen Versuch unternommen hatte, der von der Zivilgesellschaft und der politischen Opposition als »Verfassungs-Staatsstreich« bezeichnet wurde. Seine Regierung brachte einen Antrag auf Verfassungsänderung ein, der vorsah, den für die Wahl zum Staatspräsidenten erforderlichen Anteil von 50 Prozent der abgegebenen Stimmen auf 25 Prozent zu senken, um es dem seit 11 Jahren an der Macht befindlichen Wade zu ermöglichen, im Amt zu bleiben.

»Die Proteste hatten nichts mit den angegriffenen Kirchen zu tun« erklärte Godfrey Yogarajah, der geschäftsführende Direktor der WEA-RLC und fügte hinzu: „Es ist auch klar, dass es sich nicht um spontane Übergriffe handelte. Diese waren geplant und organisiert, wobei man sich die Proteste zu Nutze machte. Wie sonst sollte man sich den Angriff eines Mobs auf sechs Kirchen absolut ohne vorangegangene Provokation erklären?“

Von lokalen Quellen war in Erfahrung zu bringen, dass sich die Übergriffe des Mobs vor allem gegen neue Gemeinschaften wie Pfingstgemeinden und Baptisten richteten, die im Senegal an Mitgliedern wachsen. Die römisch katholische Kirche gilt als traditionelle Organisation, doch manchen protestantischen Gemeinschaften wird vorgeworfen, mit ausländischen Gruppen in Verbindung zu stehen und sie werden daher mit Argwohn betrachtet.

Es hat zwar in der Vergangenheit schon Angriffe auf Kirchen im Land gegeben, doch Gewalt dieses Ausmaßes ist eine neue Entwicklung. Der sufistische Islam, dem die Mehrheit der Moslems im Senegal angehören, gilt allgemein als tolerant. Über 90 Prozent der 12,5 Millionen Einwohner des Senegal sind Moslems.

Abdul Aziz Kebe, Imam einer Moschee in Dakar und Universitätsprofessor für islamische Theologie, verurteilte die Gewalt und betonte, dass der Islam friedliche Beziehungen zwischen Moslems und den Anhängern anderer Religionen fordert. Dies meldet die Radiostation »West Africa Democracy Radio«.

»Es ist Besorgnis erregend, dass niemand, nicht einmal die Regierung, einen Hinweis hat, wer die Angreifer waren, obwohl die Angriffe viele Fragen aufwerfen. Bedeutet das, dass ein Teil der sufistischen Moslems Extremisten geworden sind? Wenn das so ist, steht eine ausländische Gruppierung dahinter oder fördern Kräfte innerhalb der Sufis einen radikalen Islam? Wer ist deren Anführer? Wie stark ist diese neue Gruppierung und was sind ihre Pläne?« soweit Godfrey Yogarajah.

Die Kommission für Religionsfreiheit der Weltweiten Evangelischen Allianz ersucht die Regierung dringend, die Religionsfreiheit für alle Christen und Angehörigen anderer Religionen zu gewährleisten, alle Aspekte der gewalttätigen Übergriffe zu untersuchen, um die Versuche zur Radikalisierung der lokalen Moslems im Keim zu ersticken, und die Proteste nicht mit Gewalt zu unterdrücken, da dies nur zu Anarchie im Land führen würde.

Deutsche Fassung: AKREF-ÖEA

Die Habermas-Methode

Der von mir geschätzte Althistoriker Egon Flaig (siehe auch hier) hat kürzlich eine Polemik gegen die Habermas-Methode veröffentlicht. Anlässlich des inzwischen 25 Jahre alten »Historikerstreits« wirft er dem Sozialphilosophen vor, zu jener Zeit journalistische Tricks verwendet zu haben, »die sonst dem Lumpenjournalismus vorbehalten waren«. Es hätte, so Flaig, »keine Nachsicht geben dürfen, denn das Ausmaß der Zitate-Verkrümmungen war gigantisch«.

Der Streit um die deutsche Verantwortung bei der Judenvernichtung im Dritten Reich ist für Flaig allerdings auch Anlass, um allgemein eine Wissenschaft zu kritisieren, die sich von der Leitidee der Wahrheit verabschiedet hat. Die Suspendierung des Diskurses über Wahrheitsansprüche führt nach Flaig zu einer Atmosphäre der Denkverbote und moralischen Diffamierungen. Originalton (FAZ vom 13. Juli 2011, Nr. 160, S. N4):

Wir sind Zeugen geworden eines Kulturbruchs, nämlich einer weitgehenden Negierung der Errungenschaften des Griechentums. Da die Verbindlichkeiten nicht mehr über den Streit entlang von Wahrheitsregeln herstellbar sind, müssen neue, ganz anders geartete Verbindlichkeiten moralisch erzwungen werden. Daher die pestartige Virulenz der Political Correctness und des Gutmenschentums mit seiner spezifischen Intelligenz. Die moralischen Diffamierungen müssen folglich immer mehr zunehmen. Bequemer als das logon didonai [Anm.: Diese griech. Formulierung, die wörtlich mit »Sprache o. Rede geben« zu übersetzen ist, spielt auf das plantonische Ideal eines philosophierenden Menschen an, der Rechenschaft ablegt für das, was der sagt.] ist die habermassche Diskursethik: Audacter calumniare, semper aliquid haeret [Anm.: lat. für »nur keck verleumdet, etwas bleibt immer hängen«].

Die ausführliche Darlegung Flaigs dazu findet sich in: Mathias Brodkorb (Hg.): Singuläres Auschwitz? Ernst Nolte, Jürgen Habermas und 25 Jahre ›Historikerstreit‹, Banzkow 2011.

Demokratieverlust

Gleich zwei große deutsche Tageszeitungen beklagen heute den Demokratieverlust in Europa. In dem bemerkenswert klaren FAZ-Artikel »Spiel ohne Bürger« schreibt der Politikwissenschaftler Hans Vorländer (FAZ vom 12.07.2011, Nr. 159, Seite 8, m.W. (noch) nicht online):


Die Euphorie des Jahrhundertbeginns ist verflogen. Mehr noch: An ihre Stelle ist Skepsis, Kritik und auch eine gewisse Ratlosigkeit getreten. Vor allem die innere Entwicklung der etablierten Demokratien, von denen man früher als denen des »westlichen Typs« gesprochen hat, gibt Anlass, von einer grundlegenden Krise der Demokratie zu sprechen. Für manche ist gar die Demokratie in einen postdemokratischen Zustand eingetreten, ganz so, als neige sich das Zeitalter der Demokratien ihrem Ende zu. Nun ist zwar die Rede über die Krise der Demokratie fast so alt wie die Demokratie selbst. Ein Platon hätte ohne die Krise der Demokratie, die er mit der Verurteilung Sokrates‘ zum Tode durch die Bürger Athens identifizierte, gar nicht erst politisch zu philosophieren begonnen. Auch sind Demokratien immer labile Gebilde der Herrschaft gewesen. Und doch gibt es derzeit beunruhigende Krisenphänomene und Tendenzen, die das uns bekannte Bild der Demokratie verändern und wieder einmal nach der Zukunft der Demokratie zu fragen zwingen.

Es geht um Prozesse, die in den Kern des Selbstverständnisses der repräsentativen Demokratie zielen. Damit ist ein Typus von Demokratie gemeint, der sich historisch infolge der Revolutionen des 18. Jahrhunderts herausgebildet hat und der auf vermittelnde, stellvertretende Formen der Entscheidungsbildung basiert. Ein ausgeklügeltes institutionelles Arrangement politischer Ordnung hat den Willensbildungs- und Entscheidungsprozess auf verschiedenen Ebenen organisiert und dabei weniger die direkte Beteiligung der Bürger – jenseits von Wahlen – als vielmehr die stellvertretende Erledigung von Entscheidungs- und Kontrollaufgaben in wechselseitig aufeinander einwirkenden Institutionen bevorzugt. Ein komplexes Institutionensystem sucht einer Demokratie der großen Zahl und des großen Raumes Stabilität, Legitimität und Effizienz zu geben. Dieses System kunstvoll verfasster institutioneller Ordnung befindet sich ganz offenkundig in einer Krise, deren Ausmaß noch kaum erkennbar und deren Lösungsmöglichkeiten völlig unklar sind.

In DIE WELT online sieht Thomas Schmid Zeichen für eine Refeudalisierung der Politik:

Wir sind Zeugen einer eigentümlichen Selbstermächtigung und Diskursverweigerung der Politik. Am deutlichsten wird das in der Europa-Politik, die ja – im Gegensatz etwa zur Sozialpolitik – immer schon vorwiegend eine abgekapselte Elitenveranstaltung gewesen war. Eigentlich müsste die EU auf Vertrauen, Transparenz und stete Erklärungsbereitschaft gebaut sein. Denn es gehört zu ihrem Prinzip, dass die in ihr versammelten Nationalstaaten einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer Souveränität für das europäische Friedensganze aufgeben. Im Prinzip ist leicht einzusehen, dass das auf Dauer nur dann funktionieren kann, wenn dieses Gebilde durchsichtig bleibt und jeder Teilnehmer nachvollziehen kann, was mit der abgetretenen Souveränität und was mit den Transfersummen geschieht, die nun einmal eine Folge wechselseitiger Verantwortlichkeit sind.

Wie Wissenschaft unbildet

Der amerikanische Soziologe Andrew Abbott hat untersucht, wie die Wissensgesellschaft den Erwerb von Wissen vernachlässigt – und dadurch die Idiotie befördert.

Klagen darüber, die Studenten wüssten nicht mehr, wer Bismarck oder was Kausalität ist, greifen zu kurz. Der Wikipedia-Taschenrechner würde ihnen das eventuell sagen, aber sie haben oft keine Kenntnis davon, wie sie ihn benutzen sollen. Die Wissenschaft, so Abbott, beteiligt sich an dieser Form der Unbildung, indem sie aufs Publizieren mehr Wert legt als aufs Nachgedachthaben, was eben nur manchmal dasselbe ist. In dem Maße, in dem sie aber Zitationszahlen oder Drittmittelaufkommen für auskunftsfähig über Qualität behandelt, befördert sie, in den Worten Abbotts, Idiotie – zum Beispiel, indem sie das Zitieren ungelesener Beiträge deren Autor gutschreibt.

Die universitäre Ausbildung müsste demnach in erster Linie keine zur Wissenschaft, sondern zum Lesen, Nachdenken und Argumentieren sein. Denn wie man das macht, ist nicht selbstverständlich. Nicht einmal für Wissenschaftler. »Wir fangen immer erst an zu denken«, lautet der letzte Satz von Abbotts Beitrag.

Hier: www.faz.net.

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