Der Europäer große Schuldlust

Die Kritik postkolonialer Theoretiker am westlichen Kolonialismus blendet den langen Strang imperialer Geschichte gewöhnlich aus. Daraus entstehen verzerrte Geschichtsbilder, die neue Machtgelüste bedienen, meint Heiko Heinisch in seinem Gastbeitrag für die FAZ. Der Historiker schreibt darin:

In Werken postkolonialer Theorie, nicht zu verwechseln mit historischer Forschung zur Kolonialgeschichte, ist heute indessen eine manische Fixiertheit auf Europa augenfällig, ein Eurozentrismus, der den langen Strang imperialer Geschichte der Menschheit ausblendet. In dieser Darstellung wird Europa zum alleinigen Subjekt der Geschichte, während alle anderen Völker und Regionen zu bloßen Objekten europäischen Handelns degradiert werden. Genährt wird eine Weltsicht, die von der Annahme ausgeht, alle Übel dieser Welt – Kolonialismus, Imperialismus, Rassismus, Sklaverei, Sexismus, ja jegliche Form von Unterdrückung und Ausbeutung – seien erst durch den Westen und das „westliche Denken“ erzeugt worden, gemäß der leitenden Annahme, der europäische Kolonialismus wirke bis heute fort und halte die Völker der Welt in Knechtschaft.

So schreibt etwa Achille Mbembe, einer der Stars der postkolonialen Theorie, in seinem Buch „On the Postcolony“, es gebe für afrikanische Gesellschaften seit dem fünfzehnten Jahrhundert keine „distinktive Geschichtlichkeit“ mehr, die nicht von europäischer Vorherrschaft geprägt sei. Keine Erwähnung findet, dass bereits vor dem fünfzehnten Jahrhundert außerafrikanische Mächte die Entwicklung Afrikas maßgeblich prägten: seit dem siebten Jahrhundert die arabischen, später die osmanischen Eroberer. An anderer Stelle beschreibt Mbembe den Monotheismus als Ursache von Eroberungen. Es geht allein um das Christentum, das, so Mbembe, auf der Vorstellung der Weltherrschaft „sowohl in der Zeit als auch im Raum“ basiere, sich das Eigentumsrecht auf die ganze Welt zugeschrieben und daraus das Recht auf Eroberung abgeleitet habe. In diesem Kontext, so folgert er, müssten die Kreuzzüge neu interpretiert werden.

Das Geschichtsbild maßgeblicher Vertreter postkolonialer Theorien, das einem Aktivismus den Boden bereitet, an dessen Ende der Westen selbst und damit der Weg der Aufklärung und Demokratisierung europäischer Gesellschaften abgewickelt werden soll, ist übrigens ganz im Sinne jener Mächte, die, wie Russland, China oder die Türkei die eigene Geschichte verklären und ihren weltpolitischen Aufstieg längst eingeleitet haben. Ein Ende des Westens aber wird keine von Gewalt und Krieg befreite Menschheit bedeuten, vielmehr werden ihm Imperien folgen, die mit Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit vermutlich wenig anfangen können.

Mehr: www.faz.net. Der dazugehörige Buch Postkoloniale Mythen: Auf den Spuren eines modischen Narrativs von Heiko Heinisch gibt es hier (#ad).

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11 Kommentare
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Chrissen
1 Monat zuvor

Das hat schon etwas Kindisches und erinnert an Menschen, die durch ihr Elternhaus sehr, sehr schlecht und ungesund geprägt wurden in ihrer Persönlichkeitsentwicklung und in der Herausbildung ihres Charakters. Das führt bei den meisten Menschen auch Jahrzehnte nach der Kindheit zu erheblichen Problemen in zwischenmenschlichen Beziehungen und Begegnungen wie Freundschaft, Ehe, Sexualität, Gesellschaft allgemein oder im Berufsleben. Das ist schlimm. Doch die allermeisten Menschen, die Schreckliches durch die Kindheit mitbekommen haben für das weitere Leben, versuchen, als Erwachsene (halbwegs) vernünftig vor sich selbst damit umzugehen, auch ganz offen vor anderen Menschen damit umzugehen, sich immer wieder selbst in gesunder Weise zu hinterfragen. Ein anderer Teil dieser Menschen schiebt aber für sein kaputtes, verkorkstes (und mitunter in Straffälligkeit gefallenes) Leben unreif und bequem immer die grässliche Kindheit vor, anstatt sich damit wie ein Erwachsener auseinanderzusetzen.*¹ Ich habe noch einen Bericht aus dem ÖRR in Erinnerung. Ich weiß nicht mehr, welches afrikanische Land es war. (Das war jenes, aus dem man vor… Weiterlesen »

Matze
1 Monat zuvor

Da sehe ich keinen großen Neuigkeitswert, denn zu Europa gehören Russland, Türkei, GB, Frankreich dazu und bei diesen Ländern sehe ich keine Schuldlust. Auch bei Deutschland und anderen in Mittel- und Nordeuropa sind die Gesellschaften in dieser Frage teilweise sehr gespalten. Dazu kommt, dass die erwähnten Länder und dazu vor allem die USA und China sich viel Schuld aufgeladen haben. Man denke an das Vorgehen der Engländer in Indien oder die Verbrechen der Kolonialmacht Frankreich, die bis heute weitergehen. Auch an die deutsche Schuld zu erinnern ist absolut richtig und der Ungang in Deutschland sich damit auseinandersetzen lobenswert. Dass man natürlich auch auf der anderen Seite vom Pferd fallen kann ist klar, aber muss man das wie hier in der FAZ so hochziehen?
@ Ron: es passiert Dir gerade öfters, dass Du verallgemeinernde Artikel bringst, wo Leute nicht Ende denken und dann ihr Steckenpferd reiten. Das war früher nicht so.

Alex aus Cloppenburg
1 Monat zuvor

Dass die FAZ gerne auch mal von der rechten Seite vom Pferd fällt, ist nichts Neues. Joachim Fest lässt grüßen. Die Älteren unter uns werden sich erinnern.

Christian
1 Monat zuvor

@Alex: Habe ich das richtig verstanden: Wer es wagt, den Postkolonialismus zu kritisieren, fällt bereits rechts vom Pferd? @Matze: wo Leute nicht Ende denken und dann ihr Steckenpferd reiten.  Ich bin zwar nicht Ron, aber es interessiert mich, was Du damit meinst. Kannst Du das ein bisschen erörtern? Was denkt der Autor nicht zu Ende? Wo oder wie reitet er sein Steckenpferd? Auch an die deutsche Schuld zu erinnern ist absolut richtig und der Ungang in Deutschland sich damit auseinandersetzen lobenswert. Natürlich ist es richtig, an die deutsche Schuld zu erinnern und daraus zu lernen. Natürlich ist es richtig, sich der europäischen Gräueltaten bewusst zu sein. Aber wer bestreitet das denn? Das Thema ist doch vielmehr dieses hier: In dieser Darstellung wird Europa zum alleinigen Subjekt der Geschichte, während alle anderen Völker und Regionen zu bloßen Objekten europäischen Handelns degradiert werden. Genährt wird eine Weltsicht, die von der Annahme ausgeht, alle Übel dieser Welt – Kolonialismus, Imperialismus, Rassismus, Sklaverei, Sexismus,… Weiterlesen »

Alex aus Cloppenburg
29 Tage zuvor

@ Christian: Die FAZ bemüht des Öfteren rechte Stereotypen und fällt dabei ab und an rechts vom Pferd. Was nicht schlimm ist – denn das passiert bspw. dem SPIEGEL auf der linken Seite bestimmt viel häufiger. Man sollte es nur registrieren.
Die Kritik an der sogenannten „Fixiertheit auf Europa“ ist natürlich ein Versuch, die Sünden dieses Kontinents zu relativieren. Die allermeisten Kulturen sind und waren „Objekte des europäischen Handelns“. Das ist auch nicht immer nur schlimm gewesen, aber eben auch.

ErzgebirgsEngländer
29 Tage zuvor

@Alex von Cloppenburg. Ich stimme zu. Ich würde nur den Satz „Die allermeisten Kulturen sind und waren „Objekte des europäischen Handelns““ um eine Zeitangabe ergänzen, besonders, wenn es um den modernen westlichen Imperialismus und nicht um Rom und Mazedonien geht. Ich glaube nicht, dass Südamerika vor 1492 irgendwie von Europa beeinflusst wurde, und es ist interessant, dass Europa keine Rolle in der biblischen Geschichte vor Alexander spielt, sondern andere, sogar ein afrikanisches Großreich. Andererseits, was seit 1492 geschehen ist, darf man nicht herunterspielen. Dass jede Zeitung die Sache für seine Leserschaft passend deuten wird, ist das Ergebnis gewinnsuchender Epistemologie, um einen furchtbaren neuen Begriff zu prägen.

Christian
29 Tage zuvor

@Alex: Vielen Dank für Deine Antwort. Wir stimmen in den meisten Punkten überein.

Die Kritik an der sogenannten „Fixiertheit auf Europa“ ist natürlich ein Versuch, die Sünden dieses Kontinents zu relativieren.

Für mich folgt das keinesfalls zwangsläufig, obschon das durchaus beim ein oder anderen der Fall sein mag. Die meisten Kritiker der postkolonialen Theorie, die ich kenne, attackieren diese aufgrund inhaltlicher Mängel und nicht um europäische Sünden abzuschwächen oder von diesen abzulenken.

Beste Grüße
Christian

Johannes
28 Tage zuvor

Eigentlich war die Weltgeschichte „nur“ ein halbes Jahrtausend hauptsächlich vom „Westen“ geprägt. In der Antike waren zwar die „Weltreiche“ Alexanders des Großen und Roms europäischer Provenienz, immer gab es aber auch außereuropäische Großmächte, etwa die Perserreiche der Achaimeniden und Sassaniden, das Partherreich, dazu v. a. Indien und China als weitere Großmächte. Während der Zeit der islamischen Expansion war Europa sogar lange Zeit in der Defensive. Der zeitweilige Wiederaufstieg von Byzanz und die Kreuzzüge waren hier nur Episoden. Die Expansion des Westens auf den amerikanischen Kontinent kann auch als Flucht nach vorn interpretiert werden. Das mächtigste Reich der „alten Welt“ war lange Zeit das osmanische. Im Grunde wendete sich das Blatt hier erst im 17. Jahrhundert. Zur „Weltherrschaft“ gelangte Europa so richtig erst im 19. Jahrhundert, während es im 20. Jahrhundert durch 2 von Europa ausgegangene Weltkriege schon wieder auf dem Rückzug war. Da war die Kontinuität Chinas als Groß- oder gar Weltmacht durchaus von längerer Dauer, auch wenn es den… Weiterlesen »

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